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Musik als Lebens- und Überlebensmittel

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Zum Tod des Komponisten und Hochschullehrers Ulrich Leyendecker
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Der 1946 in Wuppertal geborene Komponist Ulrich Leyendecker war ein produktiver, unangepasster Komponist und ein mehr als geschätzter Lehrer. Er hinterlässt einen großen Kreis von ehemaligen Schülern, mit denen er häufig über Jahre hinweg freundschaftlich verbunden war; denn Ulrich Leyendecker dachte nicht in hierarchischen Kategorien.

In einem freigeistigen, unangepassten Elternhaus, mit klassischer Musik und Interesse an der schönen Literatur und den schönen Künsten sowie an Philosophie und Politik aufgewachsen, wurde er selbst zu einem kulturell hochgebildeten Künstler, dem Details aus Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte jederzeit abrufbar waren. Er war ein ‚homo literatus‘ im musikalischen und literarischen Verständnis. Vorurteilslos, sofern es ihm nicht unzugänglich war, konnte er in seiner eigenen Kompositionswerkstatt sowie auch als Lehrender auf diesen Erfahrungsschatz der Kulturgeschichte zurückgreifen, ohne indessen ein Bildungsphilister zu sein. Dazu war er zeitlebens zu unangepasst. Im Gegenteil: Leere Konventionen, Opportunismus, vorgegeben objektive ästhetische Setzungen (im Sinne von „richtig“- „falsch“, „fortschrittlich“ – „reaktionär“) waren ihm suspekt.

Schon während seiner Studienzeit in Köln hatte Ulrich Leyendecker am Konservatorium in Wuppertal unterrichtet. Nach einer Zeit an der Rheinischen Musikschule Köln wurde er 1971 Lehrer für Musiktheorie und ab 1981 Professor für Musiktheorie und Komposition an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, von 1994 bis 2005 war er Leiter einer Kompositionsklasse an der Musikhochschule Mannheim. Danach lebte er als freischaffender Komponist in Rheinland-Pfalz.

Leyendeckers vielfältiger, reicher Werkkatalog, der seit mehr als vier Jahrzehnten von den Sikorski Musikverlagen betreut wird, umfasst Solowerke, Kammermusik, Vokalwerke mit Klavier oder Ensemble und 18 Orchesterwerke, darunter fünf Sinfonien und Solokonzerte mit Orchester (Klavier, Violine, Viola, Violoncello, Bassklarinette und Gitarre). Viele seiner Kompositionen – Auftragswerke, aber auch Werke, die ohne Auftrag und Anlass entstanden – widmete er nicht nur seinen Werkinterpreten, sondern schrieb ihnen gewissermaßen die eigene Musik auf den Leib (in größter Kenntnis der Instrumente). So probierte er für sein Maximilian Mangold gewidmetes Gitarrenkonzert etwa die Griffmöglichkeiten des Instruments selbst aus. Ulrich Leyendecker bekannte sich zur Subjektivität und schrieb Musik, die trotz aller strukturellen Konstruktion hoch emotional und subjektiv nachvollziehbar und fasslich war, für Menschen mit offenen Ohren, die nicht unbedingt Spezialisten sein mussten. Leyendeckers Musik, die zunächst an die Zweite Wiener Schule, insbesondere Anton Webern, anknüpfte und den Gedanken der Metamorphose kleinster Motive und Tonbeziehungen aufgriff, dann bei Alban Berg den Mut zu Rest-Tonalitäten und Expressivität fand und auch den Gedanken der „Kugelgestalt“ von Bernd Alois Zimmermann rezipierte, wurde im neuen Jahrtausend zu einer Musik der großen Bögen und Klangsinnlichkeit. Die teils abenteuerlich hohen Anforderungen an gleichermaßen Solisten wie Ensembles blieben bestehen.

Die überragende Qualität der Kompositionen Ulrich Leyendeckers wurde schon früh wahrgenommen. 1968 war er Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, 1974 erhielt er den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Musik, 1987 verlieh ihm die Stadt Wuppertal den Von-der-Heydt-Preis. 1978/79 folgte ein Jahresaufenthalt in der Villa Massimo. Zweimal erhielt er ein Stipendium für die Cité Internationale des Arts Paris. Leyendecker war Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und Mannheim.

Bildung, Wissen, Vernunft, Unbestechlichkeit und Leidenschaft – das waren Basis und Antrieb für Leyendeckers Wirken als Komponist und als Hochschullehrer. Das machte seine Persönlichkeit aus, die nicht trennte zwischen Privatem und Beruflichem. In der Musik hatte Ulrich Leyendecker sein Lebens- und Überlebensmittel gefunden. Das Bedürfnis, Wissen, Erfahrung und Einsichten, aber auch Fragen und Zweifel an der (Kunst-)Welt weiterzugeben, gehörte zu seiner ‚Natur‘. Er selbst erhielt schon zu Schülerzeiten Kompositionsunterricht beim Leiter des Wuppertaler Konservatoriums, Ingo Schmitt, einem Schüler Frank Martins und studierte danach Komposition an der Musikhochschule Köln bei Rudolf Petzold (Schüler Philipp Jarnachs) und Klavier bei Günter Ludwig. Ulrich Leyendecker wollte sich als Individuum nicht verbiegen, er folgte dem, was er als stimmig erkannt hatte, was Gestalt annehmen wollte und was er mochte. Er war kein Parteigänger irgendeiner ästhetischen Richtung. In einem Interview sagte er einmal: „Ich möchte sagen, die Art der Anwendung meiner Mittel, die formale Entfaltung, die Farbmischungen, die Art und Weise, Melodien, Klänge und Rhythmen zu entwickeln und aufeinander zu beziehen, sind eigen, und das macht die Neuheit meiner Musik aus. Rücksicht auf den Zeitgeist habe ich dabei nie genommen…“

Bevor Ulrich Leyendecker nach schweren Krankheiten, aber dennoch überraschend für Familie, Freunde und seine zahlreichen Schüler, die mit ihrem ehemaligen Lehrer eng verbunden waren, an Herzversagen am 29 November 2018 starb, hatte sich der 72-jährige keineswegs auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Bis im wahrsten Sinne in die letzten Stunden war er mit Kompositionsplänen, -projekten und -skizzen beschäftigt; (Noten-)Papier, Bleistift und Radiergummi waren seine wichtigsten Werkzeuge. Mit ihnen feilte er bis in die letzten Details an seinen vorbildlich ausgearbeiteten Partituren. Zuletzt beschäftigte er sich mit einem Konzert für Streichquartett und Orchester – ein Projekt, das er mit der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken Kaiserslautern verwirklichen wollte. Zuvor hatte er gerade ein Konzert für Bassklarinette und Orchester geschrieben, und das Minguet Quartett hatte seine drei Streichquartette auf CD gebannt. Weit mehr als fünf Jahrzehnte lang widmete sich Ulrich Leyendecker dem Komponieren. In seiner Werkliste fehlt einzig das Musiktheater. Aber im Juni 2017 wurde in Leipzig „aprèslude noir. Schluss-Szene zu einer nicht geschriebenen Oper“, komponiert 2015, mit der Sinfonietta Leipzig unter der Leitung seines ehemaligen Schülers Timo Jouko Herrmann uraufgeführt. Der Titel verweist auch auf den lapidaren Humor dieses Komponisten, der nun hoffentlich in den Aufführungen seiner Musik weiterleben kann.

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