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Musik und Transfer – ein weites Feld

Untertitel
Hans Günther Bastians Untersuchung und ihre Folgen
Publikationsdatum
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Dieser Artikel basiert – ebenso wie die beiden demnächst folgenden über „Musik und Persönlichkeit“ sowie „Musik und Identität“ – auf einem Aufsatz, der im März 2002 in der Zeitschrift „Katholische Bildung“ erschienen ist. Die Literaturliste ist im Internet unter www.nmz.de abzurufen.

Mittlerweile ist es zweieinhalb Jahre her, dass Hans Günther Bastian zur EXPO 2000 seine Untersuchung „Musik(-erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen“ vorstellte, die unter Mitwirkung von Adam Kormann, Roland Hafen und Martin Koch entstand und im Mainzer Schott Verlag veröffentlicht wurde. Bastian erregte damals ein bis dahin für derartige Fragen ungekanntes Interesse in der Medienlandschaft. Die Studie erforschte über die Dauer von sechs Jahren fünf Klassen, denen wöchentlich zwei Musikstunden, in der Mehrzahl auch Instrumentalunterricht sowie Ensemblespiel zuteil wurde. Diese wurden mit zwei Klassen verglichen, die nur die übliche eine Musikstunde pro Woche genossen. Die zu Tage getretenen so genannten „Transfereffekte“ von Musik, insbesondere die Einflüsse auf Intelligenz, Sozialkompetenz und Schulleistungen, von denen in renommierten Tageszeitungen und Magazinen ebenso berichtet wurde wie im Rundfunk, dienten dem Autor unter anderem als schlagkräftiges Argument für das weithin gefährdete Schulfach „Musik“ an die Adresse der Politik. Diese zeigte sich in Einzelfällen tatsächlich beeindruckt und zog – so in Hessen und Berlin (vergleiche Bastian, 2001) – entsprechende Konsequenzen: Von weiteren Kürzungen nahm man dort Abstand, in Berlin wurden gar weitere „musikbetonte Züge“ genehmigt.

In Fachkreisen ist die willkommene Schützenhilfe gleichwohl auch auf Skepsis gestoßen. Zum einen wurde verschiedentlich die Stichhaltigkeit der Ergebnisse in Frage gestellt, zum anderen verwies man immer wieder darauf, dass die Musik um ihrer selbst willen unterstützenswert und aus sich heraus wichtig sei (vergleiche Röbke, 2000; Altenmüller, 2001; Davidson, Pitts, 2001), was allerdings auch Bastian zu betonen nicht müde wird. Nichtsdestoweniger hält er es für angezeigt, die Ergebnisse kämpferisch für die gute Sache ins Feld zu führen. Hier soll nun noch einmal der Versuch unternommen werden, der Frage nach der Wirkung von Musik unter der Perspektive des Transfers nachzugehen. Die beiden demnächst folgenden Texte werden das Thema unter den Leitbegriffen „Persönlichkeit“ und „Identität“ behandeln.

Kritische Umschau

Das Thema selbst ist durchaus nicht neu, wie man an älteren Überblicksartikeln (vergleiche Spychiger, 1992; Behne, 1995) ablesen kann. In der Vergangenheit ist bereits eine Reihe einschlägiger Untersuchungen durchgeführt worden: Internationale Beachtung erfuhr seinerzeit die vierjährige Schweizer Studie von Weber, Spychiger und Patry (1993). Hier erhielten 35 Versuchsklassen – bei entsprechender Reduzierung der Stundenzahl für Mathematik und die Muttersprache – einen von zwei auf fünf Wochenstunden erweiterten Musikunterricht und wurden mit ebenso vielen Kontrollklassen verglichen.

Zum geflügelten Wort wurde der „Mozart-Effekt“, von dem Rauscher, Shaw und Ky berichteten (1993): Danach wirkte sich das Hören einer Mozart’schen Klaviersonate positiv auf das räumliche Denken der Testpersonen aus. Die Probanden erreichten bei entsprechenden Aufgaben, wie Intelligenztests sie üblicherweise enthalten, deutlich bessere Ergebnisse als nach einer Stille- oder Entspannungsphase.

Im „Rhode Island Report“ dokumentieren Gardiner, Fox, Knowles und Jeffrey (1996) die Entwicklung von 80 Kindern im Alter von fünf bis sieben Jahren, deren Leistungen in Mathematik diejenigen einer Kontrollgruppe nach siebenmonatiger Testphase mit speziellem Unterricht in Kunst und Musik schließlich überholten, obwohl die Testkinder zu Beginn des Versuchs hinter ihren Mitschülern zurückgeblieben waren.

Schließlich berichteten Chan, Ho und Cheung 1998, dass 30 chinesische Studentinnen, die mit weniger als zwölf Jahren bereits mindestens sechs Jahre lang ein westlich klassisches Musikinstrument erlernt hatten, ein besseres verbales Gedächtnis aufwiesen als die Kontrollgruppe gleichen Umfangs, die keinerlei musikalisches „Training“ genossen hatte.
Neben den genannten sind verschiedene speziellere Studien durchgeführt worden, darunter auch solche mit benachteiligten oder behinderten Kindern (zum Beispiel Moog, 1978; vergleiche Staines, 2001).

Die Ergebnisse fallen dabei – gemessen an den gehegten Erwartungen – durchweg eher schmal aus. Wenn sie überhaupt festgestellt werden können, so sind die Zusammenhänge häufig nicht sehr stark. In der Schweizer Studie zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen erweitertem Musikunterricht und Intelligenzentwicklung. Von vier Werten zum sozialen Gefüge in den Klassen zeigte nur eines, nämlich die „Summe der Zuneigungspunkte“, die sich Schüler untereinander vergaben, einen signifikanten Zusammenhang, wohingegen bei den Abneigungen keine Unterschiede zwischen den „normalen“ Klassen und denen mit erweitertem Musikunterricht erhärtet werden konnten (vergleiche Spychiger, 2001a, S. 16f.).

Der Mozart-Effekt erwies sich in einer ganzen Reihe von Nachfolge-Untersuchungen gegenüber den ersten Berichten als deutlich geringer, wenn nicht gar als zweifelhaft (vergleiche Steele, Bass, Crook, 1999; Chabris, 1999; Steele, Dalla Bella, Peretz, Dunlop, Dawe, Humphrey, Shannon, Kirby, Olmstead, 1999; Rauscher, 1999; Staines, 2001). In einer neueren Untersuchung zeigte das Vorlesen einer Geschichte – besonders bei denjenigen, die sie gerne hörten – den gleichen Effekt (Nantais, Schellenberg, 1999).

Im Rhode Island Report beziehen sich die Berechnungen der Unterschiede nicht auf die mathematischen Leistungen selbst, sondern auf den Anteil der Kinder, die sich ein zumindest durchschnittliches Niveau erarbeiten konnten. Die Zahl der unterdurchschnittlichen Leistungen verringerte sich also besonders bei den Kindern mit spezieller Musik- und Kunsterziehung. Abzulesen ist hier, dass insbesondere eher schwächere Kinder profitieren konnten. Dies korrespondiert mit Gembris’ Ansicht, dass „Transfer umso wahrscheinlicher ist, je ungünstiger die Ausgangsbedingungen waren“ (Gembris, 1988, S. 304).

Bei Chan, Ho und Cheung erinnerten sich die „Musikerinnen“ an durchschnittlich ein bis zwei Wörter mehr, nachdem ihnen eine Liste mit 16 zufällig angeordneten Wörtern vorgelesen worden war. Wie viel von dieser Gedächtnisleistung sich im Alltag als nützlich erweist, bleibt fraglich, wenn man bedenkt, dass hier keinerlei syntaktische Information, keine sinnvollen Sätze zu speichern waren.

Bei Bastian und seinen Mitarbeitern zeigt die Verwendung zweier unterschiedlicher Intelligenztests verschiedene Verläufe und Ergebnisse: Während sich beim AID (Adaptives Intelligenz Diagnostikum) zunächst ein Vorsprung für die Musikklassen zeigte, der sich aber zum Ende der Untersuchung hin wieder egalisierte, während man also hier von einer bei den „Musik-Kindern“ beschleunigten Entwicklung mit „normalem“ Endniveau sprechen kann, trat der Vorsprung der Musikklassen bei den CFT-Messungen (Culture Fair Intelligence Tests), die weniger auf Sprache und kulturabhängige Erfahrungen abheben, erst am Ende, nach vier Jahren erweiterter Musikerziehung zu Tage. Weiter war in Berlin im Gegensatz zur Schweizer Studie bei drei von vier Messungen gerade der Anteil abgelehnter Kinder in den Musikklassen kleiner als bei der Kontrollgruppe. Bezüglich der Schulleistungen in so genannten Hauptfächern ergaben sich keine Vorteile für die Musikklassen. Wie auch die Autoren der Schweizer Studie (Weber, 1997) hebt Bastian hervor, dass die Musik zumindest nicht zu Lasten der anderen Fächer ging, was allerdings in der Schweiz vor dem Hintergrund der leichten Stundenreduktionen in Hauptfächern bemerkenswerter erscheint.

Kritisch zu vermerken ist sicher die Tatsache, dass die Interpretation der Ergebnisse selten zwingend eindeutig ausfällt. Zunächst gibt es hier grundsätzliche Fehlerquellen zu bedenken, etwa einen Effekt besonderer Anstrengung bei den „auserwählten“ Versuchsschülern und -lehrern, der mög- licherweise noch durch die Veröffentlichung positiver Zwischenergebnisse verstärkt werden mag (vergleiche Bastian, Kormann, Weber, 1997). Weiter können Ergebnisse bei zu kleinen Versuchs- oder Kontrollgruppen nur eingeschränkt verallgemeinert werden, was zum Beispiel Maria Spychiger in Bezug auf Bastians Studie kritisch betont (Spychiger, 2001b, S. 68). Auch der Zeitaspekt ist zu beachten: Wenn sich – wie bei Bastian – Tendenzen erst spät zeigen und andererseits auch wieder egalisieren können, muss der Zeitpunkt eines Ergebnisses im Grunde stets mitgenannt und -gedacht werden. Der Mozart-Effekt wiederum verpuffte, wo er sich beobachten ließ, bereits nach etwa zehn Minuten.

Neben diesen Gefahren für die Interpretation von Ergebnissen gilt es auch „vermittelnde Größen“ in statistischen Zusammenhängen zu bedenken. Konkret können Leistungssteigerungen zum Beispiel auf Veränderungen der Einstellung zur Schule, des Gemeinschaftsgefühls, des Selbstbewusstseins oder des allgemeinen Lernverhaltens zurückzuführen sein. Bezüglich der beiden zuletzt genannten Punkte sei darauf hingewiesen, dass Bastian schon 1997 von der vergleichsweise stärkeren Neigung seiner Versuchskinder zu leichter Angeberei berichtete (S. 147) und dass die Lehrerschaft der Musikklassen das Lern- und Arbeitsverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler besser beurteilte als die Kollegen in den „normalen“ Klassen (Bastian, 2000, S. 481ff.). Im Rhode Island Report führen die Autoren die Ergebnisse der Testkinder ausdrücklich auch auf die sich verbessernde Grundeinstellung zur Schule zurück (Gardiner, Fox, Knowles, Jeffrey, 1996).

Auch die Einflüsse des Musikunterrichts auf solche vermittelnden Größen wären pädagogisch begrüßenswert. Allerdings müsste der Gedanke einer einfachen und direkten Kausalität in solchen Fällen revidiert werden. Wenn Dorothée Kreusch-Jacob ein verhältnismäßig neues Buch mit dem Titel „Musik macht klug“ (1999) versieht, dann erscheint das ebenso simplifizierend wie der Untertitel der populären Kurzfassung von Bastians Untersuchung: „Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch Musikerziehung“. Ebenso gut könnte man hinsichtlich der schulischen Hauptfächer titeln: Verstärkte Musikerziehung beeinträchtigt die Schulleistungen nicht, also im Grunde: „Gute Schulleistungen trotz (verstärkter) Musikerziehung“, und käme damit der Aussage der Studie näher. Möglicherweise liegen solche Verzerrungen da besonders nahe, wo sich musikpädagogischer Idealismus mit wirtschaftlichen Interessen berührt – in diesem Fall mit den Interessen des „Dachverbandes Musikwirtschaft und Veranstaltungstechnik“, der das Buch in seine Aktion „Intelligent mit Musik“ hineingenommen hat, was hier nicht grundsätzlich gebrandmarkt werden soll.

Erklärungsansätze

So sehr man sich also bei besonnener Umschau gegen allzu starke Vereinfachungen verwahren muss – sogar Bastian berichtet, er müsse sich mittlerweile gegen seine Liebhaber verteidigen (2001), so lohnend erscheint dennoch die Frage nach den möglichen Wirkmechanismen der dokumentierten Transfereffekte. Wie könnten sie zustande kommen? Hierzu wird verschiedentlich auf die nun 100-jährige Theorie der identischen Elemente von Thorndike verwiesen (Thorndike, Woodworth, 1901a; vergleice auch 1901b; 1901c; Spychiger, 2001a; Bastian, Kormann, 2001): Diesen Grundansatz erweiternd kann man davon ausgehen, dass für Transferleistungen von einer Aufgabe auf eine andere stets Ähnlichkeiten zwischen diesen Aufgaben bestehen müssen. Dabei können sich einzelne Elemente oder auch übergreifende Strukturen ähneln. Weiter kann eine ähnliche Herangehensweise an die Aufgaben angezeigt sein. Man könnte hier den Schema-Begriff Piagets heranziehen. Erworbene motorische oder geistige Muster werden bei genügender Ähnlichkeit auf neue Erfahrungen übertragen. Piaget nennt dies „Assimilation“. Manchmal müssen die Schemata dazu entsprechend modifiziert werden; hier spricht Piaget bekanntlich von der „Akkomodation“. So entwickeln sich neue Schemata immer auf der Grundlage der Konfrontation aktueller Erfahrungen mit alten Schemata. Transfer wird so verstanden zum Grundgesetz menschlichen Lernens und Entwickelns. Dabei wird immer an bereits Bekanntes angeknüpft, alte Erfahrungen werden gewissermaßen danach abgetastet, wo sich Möglichkeiten zum Hineinarbeiten neuer Erfahrungen bieten. Ähnlichkeiten und „Kompatibilitäten“ werden zum tragenden Fundament neuer Schemata. Der Schema-Begriff wird in der Psychologie auch ohne Bezug auf Piaget zur Beschreibung von kognitiven, motorischen und auch musikbezogenen Lernvorgängen gebraucht (vergleiche Evans, 1967; Schmidt, 1975; Jones, 1982). Bei genauem Hinsehen liegt auch bei den oben veranschlagten Vermittlungsgrößen – wie Selbstbewusstsein, Einstellung zur Schule oder auch Disziplin – ein Schema-Transfer vor, die Übertragung einer Gefühlsgrundlage, Sichtweise, Einstellung oder Gewohnheit auf neue Zusammenhänge.

Vor dem Hintergrund der notwendigen Ähnlichkeiten leuchtet ein, dass es bei Transferwirkungen von Musik entscheidend auf die genaue Gestalt der erworbenen Erfahrungen ankommt. Welche Art von Musik stand im Mittelpunkt? Welche Art der Vermittlung wurde erlebt? Der coole, lässige oder vielleicht aggressive Star einer Popgruppe bietet sicher andere Schemata zur Identifikation an als der nachdenkliche Songwriter. Ein leistungsorientierter Unterricht vermittelt andere Erfahrungen als ein an Kreativität orientierter Ansatz (vergleiche Spychiger, 2001a, S. 29). Auf der „Wirkungsseite“ wäre entsprechend zu fragen: Welche Intelligenzkomponente oder Sozialkompetenz wird in welchem Zusammenhang wie erhoben?

Zur Erklärung von Transfereffekten wird außerdem auch die Hirnforschung herangezogen. Da sowohl das räumliche und mathematische Denken als auch das Musikhören zu großen Teilen in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert wurden, wäre eine Stimulation der entsprechenden Hirnregionen durch Musik denkbar, die sich auch auf andere Formen des so genannten visuo-spatialen Denkens (räumliches und mathematisches Denken) positiv auswirken könnte. Zu beachten ist dabei allerdings, dass Musiker die Musik stärker auch linkshemisphärisch verarbeiten als Nicht-Musiker (Gembris, 1998, S. 141).

Die These, „dass Musik inhärente Abläufe von Entladungsmustern in der Hirnrinde beeinflussen, eventuell sogar begünstigen könne“ (Petsche, 1997, S. 93), veranlasste seinerzeit Shaw und Rauscher zu Untersuchungen, die schließlich auch die Annahme des Mozart-Effekts zur Folge hatten. Die kurzfristigen Einflüsse des Mozarthörens auf die innere Vorstellung vom Falten einer Papierfigur konnte Petsche auch mittels EEG-Untersuchungen beobachten. Das Hören von Mozart zeitigte dabei tendenziell stärkere Nachwirkungen auf das Vorstellen des Faltvorganges als das Hören eines Textes, was sich an den Entladungen und „elektrischen Beziehungen“ zwischen verschiedenen Hirnarealen erkennen ließ. Es zeigten sich jedoch grundsätzlich für das Texthören, das Musikhören und die Faltvorstellung jeweils charakteristische und voneinander verschiedene Entladungsmuster (S. 94).

Dieses Ergebnis bestätigt die Eigenständigkeit musikalischen Denkens gegenüber dem verbalen, aber auch dem räumlichen Denken. Es könnte so auch als Beleg für Gardners Theorie der „multiplen Intelligenzen“ (2001; vgl. auch Spychiger, 1997) gewertet werden, die von sieben bis neun unabhängigen Intelligenzen ausgeht – darunter auch eine räumliche, eine mathematische, eine verbale und eben eine eigenständige musikalische Intelligenz. Dabei hat sich die theoretische Grundannahme von der Unabhängigkeit der Intelligenzbereiche allerdings empirisch nicht bestätigen lassen. Mögliche Verbindungen der musikalischen Intelligenz zum räumlichen Denken erwägt auch Gardner (2001, S. 120f.).

Im Gegensatz zu Shaw und Rauscher ließen sich Chan, Ho und Cheung zu ihrer Untersuchung über das verbale Gedächtnis von Musizierenden (s.o.) gerade von Forschungen anregen, die die linke Hirnhälfte betreffen: Schlaug, Jäncke, Huang und Steinmetz (1995) zeigten nämlich bei Musikern mit absolutem Gehör eine deutliche Vergrößerung desjenigen linken Hirnbereiches, der für das Speichern akustischer Reize zuständig ist (vgl. dazu auch den neueren Beitrag von Jäncke, 2001). Die chinesischen Forscher folgerten, die „besser entwickelte kognitive Funktion“ könne sich auch auf das Erinnern sprachlicher Reize auswirken. Ging es hier lediglich um einzelne Wörter, so erhellen jüngste Forschungsergebnisse auch das syntaktische Moment und dokumentieren Ähnlichkeiten der Verarbeitung von Sprache und Musik im Gehirn: Grammatisch falsche Sätze und tonartfremde Akkorde in Kadenzen, also Abweichungen des Gehörten von früh erworbenen Erwartungen, werden – unabhängig vom bewussten Bemerken dieser Abweichungen – gleichermaßen in der linken Hirnrindenregion registriert (Maess, Koelsch, Gunter, Friederici, 2001). Bei aller Eigenständigkeit musikbezogener Hirnaktivitäten sind bestimmte Areale und Funktionen des Gehirns also nicht ausschließlich der Musik vorbehalten. Parallelen zu anderen Bereichen der menschlichen Physiologie bieten sich an: So hat das Klavierspielen mit dem Schreiben auf einer Computer-Tastatur einen großen Teil der aktivierten Muskulatur und der auszuführenden Bewegungen gemeinsam.

Wenn sich bei Musikern schon im Ruhe-EEG eine stärkere Kooperation verschiedener Hirnregionen zeigt (Petsche, 1997, S. 90), das Gehirn also – auch wenn gerade nicht musiziert wird – gewissermaßen Spuren des Musizierens aufweist, dann liegt der Vergleich mit einem Kraftsportler nahe, der Alltagstätigkeiten mit seiner spezifisch ausgebildeten Muskulatur angeht und wohl ein ums andere Mal mit größerer Leichtigkeit zu bewältigen vermag, ohne allerdings zwangsläufig ein besserer Handwerker sein zu müssen. Für den professionellen Musikerstand kann man vermuten, dass die gefundene hirninterne Kooperation sich auch einmal bei anderen Gelegenheiten zeigt, ohne bei spezifischen differenzierten Anforderungen unbedingt zu Leistungssteigerungen führen zu müssen.

Schließlich zeigten sich auch unterschiedliche Entladungsmuster für verschiedene musikalische Betätigungen – für das Hören ein anderes als für das Komponieren (Petsche, 1997, S. 91) – und sogar auch für verschiedene musikalische Niveaus: Für die Stufe der „figuralen Repräsentation“ von Musik, wo man etwa Rhythmen und Akkorde als Folge einzelner körperlicher Bewegungen speichert, ergab sich ein anderes Muster als für die Stufe der „formalen Repräsentation“, wo Bewegungsfolgen automatisiert und Strukturen wie Akkorde und Melodien in ihrer Klanglichkeit vorstellbar sind (Altenmüller, Gruhn, Parlitz, 1997).

So legt auch die Hirnforschung nahe sehr genau zu unterscheiden, welche Art von musikalischer Aktivität jeweils für eine behauptete Transferwirkung herangezogen wurde. Daneben aber zeigt sie sowohl die Eigenständigkeit musikalischen Denkens als auch dessen Verbindung zu anderen Tätigkeiten, die sich in gemeinsamen Erregungsarealen in beiden Gehirnhälften manifestiert.

Transfer versus Eigenwert?

Welche Einschätzung scheint vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen im Streit um Transfer und Eigenwert der Musik angemessen? Die Fragestellung erinnert an die alte Polarität von „formaler“ und „materialer“ Bildung. Die Entgegensetzung dieser Begriffe wird heute häufig als obsolet betrachtet. Hentig fragt hinsichtlich der formalen Bildung: „Ist hierzu nicht immer ein Gegenstand nötig und wäre dieser etwa beliebig [...]?“ (1999, S. 58). Möchte man andererseits eine Materie als wichtig und bildend deklarieren, ohne dass sie eine über die konkrete Situation des Erlernens hinausreichende Relevanz besäße? Außerdem schwingt für Benner (1996) in den Begriffen des Formalen und Materialen jeweils ein affirmatives Moment mit. Auf Musik übertragen läge dieses Moment – formal – in der Zurichtung von Musikunterricht auf gesellschaftlich verwertbare so genannte „Schlüsselkompetenzen“ und – material – in dem Willen zur unbedingten Festigung und Konservierung der überlieferten Musikkultur.

Musik und die Beschäftigung mit ihr besitzen mithin selbstverständlich einen Eigenwert, der vor sachfremder Verzweckung geschützt werden muss. Genauso selbstverständlich aber steht Musik in engem Zusammenhang zu vielen anderen Lebensbereichen, die sie mit der ihr eigenen Seinsweise befruchten kann. Und schließlich kann man beim Musiklernen selbstverständlich eine Vielzahl von Schemata erwerben, die sich auch in anderen Zusammenhängen als brauchbar erweisen können. Dieser Transfer ergibt sich allerdings nicht von selbst, ihn muss immer das konkrete Individuum leisten. In Abhängigkeit von Biographie, sozialem Umfeld und Disposition werden wohl die Schülerinnen und Schüler eines Instrumentallehrers oder einer Gesanglehrerin auf ganz unterschiedliche Weise von dem Unterricht bei der gleichen Lehrperson geprägt.

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