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Musikpädagogische Positionen und ihre Berührungspunkte

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Zur Jubiläums-Jahrestagung des Arbeitskreises musikpädagogische Forschung
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Die Mitglieder des im Jahr 1971 gegründeten Arbeitskreises musikpädagogische Forschung (AMPF) nahmen die Jahrestagung 2021, die wie im Vorjahr von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im digitalen Format ausgerichtet wurde, zum Anlass, das Jubiläum mit einem Rückblick auf fünfzig Jahre musikpädagogische Forschung und deren Diskussion zu verbinden.

Bernd Clausen und Alexander Cvetko erinnerten in ihrer „Geburtstagsrede“ an die Wissenschaftswende der Musikpädagogik in den 1970er Jahren, als die bis dahin an pädagogischen Hochschulen lehrenden Fachdidaktiker*innen im Zuge der zunehmenden Wissenschaftsorientierung sich und ihr Fach im universitären Umfeld vertreten und positionieren wollten. Die Gründung des AMPF war demnach forschungspolitisch motiviert; die Initiierung, Vernetzung und Unterstützung von Forschungsgruppen waren und sind wichtige Anliegen des Arbeitskreises. Mit der Jahrtausendwende begann eine wieder stärkere Einbindung der musikpädagogischen Praxis, die sowohl empirisch beforscht als auch in Form von Praxisphasen in die universitäre Ausbildung von Musikpädagog*innen integriert wurde.

Die Verzahnung von Theorie, Praxis und deren Reflexion innerhalb des Lehramtstudiums war denn auch das Thema der Keynote von Marius Harring. Er stellte den 220 Teilnehmenden der Tagung ein im Rahmen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ umgesetztes Projekt vor, das in Lehr-Lern-Forschungslaboren Unterrichtssequenzen von Lehramtsstudieren videographiert und anschließend analysiert; erforscht wird, inwieweit sich die Fähigkeit zur begründeten Beurteilung von Unterrichtsqualität bei den Studierenden dadurch verbessert. Der Theorie-Praxis-Bezug von Musikpädagogik wurde auch in den innerhalb der „Postersession“ vorgestellten Projekten mehrfach thematisiert: Sabine Schneider-Binkl und Thomas Busch untersuchten die Auswirkungen von Praxisphasen in der Lehrer*innen-Ausbildung auf das Unterrichtshandeln und die Fähigkeit zur Selbstregulation (TroSt-ESel); das von Franka Deister vorgestellte und in Südtirol umgesetzte Projekt „Kulturkomplizen“ (KULKOM) bindet professionelle Musiker*innen in den Musikunterricht von Grundschulklassen mit ein; in dem an der Musikhochschule Freiburg zwischen Instrumentalpädagogik und Schulmusik angesiedelten Projekt MOkuB erforschen Verena Bons und Johanna Borchert die Selbstpositionierung von Musikvereinen in der musikalisch-kulturellen Bildungslandschaft.

Die diesjährige AMPF-Tagung gab den Teilnehmenden mittels eines „Forums Zukunftswerkstatt“ auch Gelegenheit, sich über die Praxis digitalen musikpädagogischen Lehrens auszutauschen. Die Forschungsgruppe um Georg Brunner und Gabriele Schellberger befragte Hochschullehrende und -studierende zu ihren Erfahrungen mit digitalem Unterricht während der Pandemie. Die Diskutant*innen des Forums setzten sich mit den Fragen auseinander, wie Lehrende ihre digitale Kompetenz selbst einschätzen; ob es einen digitalen Gender-Gap gibt und wenn ja, wie man ihm begegnen könnte; welche Auswirkungen auf die soziale Gerechtigkeit sowohl unter Studierenden als auch unter den verschiedenen Statusgruppen der Lehrenden eine curriculare Einbindung digitaler Lehrinhalte in das Studienangebot hätte und wie die digitale Begegnung die Atmosphäre des Unterrichts und die Beziehungsqualität zwischen Lehrenden und Lernenden beeinflusst.

Die Teilnehmenden des Forums waren aufgerufen, Utopien zu entwickeln, wie digitale Lehre auch in Zukunft in die musikpädagogische Ausbildung integriert werden könnte und anschließend konkrete Überlegungen zu deren Realisierung zu formulieren. Für die Verstetigung und qualitative Optimierung der unter dem Krisendruck der Pandemie entstandenen neuen Lehrformate wurden vor allem nachhaltige strukturelle und finanzielle Veränderungen der personellen und technischen Ausstattung der Hochschulen eingefordert.

Dass die Tagung thematisch nicht nur auf aktuelle gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Entwicklungen reagiert, sondern auch Gelegenheit für den Austausch über grundlegende, musikpädagogisch relevante Begriffe bietet, zeigte sich an den unterschiedlichen Beiträgen zu den Themen Kultur, kultureller Bildung und kulturelle Identität. Christiane Gerischer setzte sich mit der Frage auseinander, wie Lehrende ein Bewusstsein für kulturelle Differenzen vermitteln können. Sie ging der Fragestellung mit empirischen Methoden nach, indem sie mittels einer Fragebogenerhebung das Kulturverständnis von Studierenden erforschte. Die Ergebnisse zeigen die Dualität eines eher offenen Kulturbegriffes, in dem man sich mehreren Kulturen oder Lebensweisen zugleich zugehörig fühlt und eines essenziellen Verständnisses von Kultur, das von einer eindeutigen kulturellen Identität und einer sich daraus herleitenden Zugehörigkeit zu einer geschlossenen, homogenen Gruppe ausgeht.

Eine theoretische Herangehensweise an den Begriff ‚Musikkultur‘ wählte Lukas Bugiel, indem er die über den alltagssprachlichen Gebrauch hinausgehenden deskriptiven und ontologischen Anforderungen benannte, die ein solcher Begriff erfüllen muss, um zur konstruktiven Grundlage musikpädagogischer Diskussionen werden zu können. Ähnlich ging Timo Dauth in einer Untersuchung von Raumbegriffen in musikpädagogischen Schriften vor, deren Systematisierung ein Kontinuum zwischen permanenten, geschlossenen und beweglichen, sich situativ verändernden Räumen aufzeigt, innerhalb dessen musikpädagogisches Handeln offene Räume mit noch bestehenden Grenzen bevorzugt.

In den sich an die Vorträge anschließenden, lebhaften Diskussionen wurde deutlich, dass nicht nur die Vielfalt bereits bestehender und neu hinzukommender Begriffsverständnisse zum Gegenstand des Austausches wurde, sondern dass insbesondere deren vielfach implizite Bewertung expliziert und diskutiert wurde. Da pädagogisches Handeln immer auch normative Vorstellungen miteinschließt, kann die Frage nach einem pädagogisch erwünschten Kulturverständnis zwar niemals abschließend beantwortet werden, ihre fortgesetzte Diskussion hält aber das Bewusstsein für diese Thematik wach und verhindert ein Absinken auf einen vorbewussten Level, der in Form subjektiver Theorien unbemerkt das eigene kulturpädagogische Handeln beeinflussen würde.

So zeigte sich im Laufe der AMPF-Tagung 2021 wiederholt das Bedürfnis nach Brücken, die Verbindung zwischen verschiedenen Polen ermöglichen. Sei es der Bezug zwischen unabhängiger, forschender Generierung von Wissen und praxisrelevanter Umsetzung von Forschungsergebnissen, die Kommunikation zwischen theoretischer und empirischer Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen kultureller Bildung, die hybride Verbindung digitaler und präsenter Lehre, die Zusammenarbeit von Schul- und Hochschullehrenden oder die Ausrichtung musikpädagogischer Forschung auf schulische oder außerschulische Bildungsangebote; immer wurde deutlich, dass sich im Raum zwischen den Polen Anziehung und Abstoßung ereignen und Spannungsfelder Diskussionsbedarf erzeugen, dass aber genau hier auch das Potential lebendiger, reflektierter und gesellschaftlich relevanter Musikpädagogik liegt. In diesem Sinne seien dem AMPF weitere 50 Jahre musikpädagogischer Forschung und Gestaltung gewünscht!

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