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Chor im Kirchenraum: Das Vokalensemble Musicatreize beim Tenso-Treffen in Marseille. Foto: Leo Samama
Chor im Kirchenraum: Das Vokalensemble Musicatreize beim Tenso-Treffen in Marseille. Foto: Leo Samama
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Neue Räume für Chormusik

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Eindrücke vom Tenso Professionals Meeting 2016 in Marseille
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Wenn Tenso, das europäische Netzwerk für Profichöre, zum jährlichen „Professionals Meeting“ lädt, steht jeweils ein inhaltliches Thema im Mittelpunkt. Mit Regularien oder Organisatorischem werden die aus ganz Europa anreisenden Chormanager, Profisänger, Dirigenten und Komponisten nicht belastet. „Choirs in Space“ war das Treffen Anfang Februar in Marseille betitelt und in der Tat haben sich höchst anregende und inspirierende Räume eröffnet.

Gastgeber für die über 30 Teilnehmer war Musicatreize, ein in den 1980er-Jahren von seinem Leiter Roland Hayrabedian gegründetes Profiensemble, das sich fast ausschließlich der Pflege zeitgenössischer Chormusik verschrieben hat. Im beeindruckenden Konzert am Freitagabend in der protestantischen Kirche Temple Grignan kam bereits eine Facette des Themas zu Gehör und zu Gesicht: das Ausloten eines durchaus chor-üblichen Kirchenraumes. Mit verschiedenen Choraufstellungen in kleinen Gruppen, in vier komplette Chöre getrennt und mit vier Dirigenten, ein andermal mit einer dezenten, aber sinnigen Bewegungsdramaturgie jeweils bestens auf die Stücke bezogen, spielte Hayrabedian mit dem nicht großen, aber wohlklingenden Raum und umwob das Publikum gleichsam mit Chormusik. Zu hören waren zu Beginn und am Ende Werke des im Libanon geborenen Komponisten Zad Moultaka – drei hervorragende Beispiele dafür, dass ein Personalstil auch in höchst unterschiedlichen Kompositionsstrukturen aufscheinen kann und dass das Ausloten der Möglichkeiten der menschlichen Stimme kein Selbstzweck sein muss, sondern sich sinngebend einer Idee oder einem Text unterordnen und ihn bereichern kann. Zusammen mit dem Choeur Contemporain gelangen bewegende, weil nicht zuletzt technisch beinahe makellose Interpretationen und sicher werden sich Werke des Komponisten demnächst in den Programmen der in Marseille vertretenen Profichöre finden.

In der Mitte des Konzertes präsentierte Musicatreize für Tenso drei Werke, die im Rahmen des Young Composers Workshops entstanden waren. Sofia Borges (*1979, aus Portugal, studierend in Berlin), Leo Collin (*1990, Frankreich) und Sebastian Androne (*1989, Rumänien) hatten sich in zwei Auswahlrunden unter vielen weiteren Bewerbern durchgesetzt und damit bereits alle einen „Hauptpreis“ errungen – einen mehrtägigen Kompositionsworkshop mit den Chorspezialisten James Wood und Leo Samama sowie die öffentliche Aufführung der hierbei entstandenen Stücke. Die drei Werke wurden nun wiederum von einer hochkarätigen Jury bewertet und Sebastian Androne durfte sich über den 1. Preis des Wettbewerbs freuen. Spannend war zu hören, welche Möglichkeiten eines professionellen Vokal-ensembles die jungen Komponisten jeweils in den Vordergrund stellten: Da gab es viel Spiel mit der Stimme, viel Experimentelles, getragenen und ruhigen Klang mit Schattierungen durch Vokalfärbungen, extrovertiertes Zupacken mit virtuoser Stimmakrobatik. Was es weniger gab, war Text im klassischen Sinne.

Für einen lebendigen Ablauf des Workshops, sorgten an den folgenden Tagen die verschiedenen Präsentationen. All die beeindruckenden Beispiele können hier nicht ansatzweise adäquat gewürdigt werden, denn alleine über die Präsentation von Bernhard Hess, Chordirektor des RIAS-Kammerchores, zu den seit Jahren laufenden Konzerten an ungewöhnlichen, üblicherweise nicht für Konzerte genutzten Orten vom Pumpwerk über die diplomatische Vertretung bis zum Krematorium ließe sich lange und begeistert erzählen. Über den rein berichtenden Charakter hinaus interessant für einen größeren Teil der Chorszene auch jenseits des Professionellen dürften aber die Grundzüge des Themas sein, die sich im Verlauf der Tagung herauskristallisiert haben: Ungewöhnliche Aufführungsorte spielen längst eine große Rolle in der Chorszene, werden aber in der Breite immer noch zu wenig kreativ gesucht und genutzt. Dabei gibt es verschiedene Gründe, einen neuen Raum für eine Choraufführung aufzusuchen: inhaltlich kann ein Bezug zwischen Raum und Programm hergestellt werden, der Raum kann der Musik eine weitere Deutungsebene hinzufügen.

Wer ein neues Publikum sucht, kann Räume aufsuchen, die diesem Publikum vertraut sind, die den Zugang zu Chormusik im Sinne des Abbaus von Schwellenangst erleichtern. Ein Appell war immer wieder, den Elfenbeinturm zu verlassen.

Trotz unzähliger Chorvideos im Netz: der virtuelle Raum ist als Aufführungsort noch längst nicht in all seinen Möglichkeiten erschlossen.

Auch über die akustischen Voraussetzungen und die möglichen Hilfen wurde gesprochen, zumal Chorauftritte open air zwar immer große Möglichkeiten bergen, um Publikum zu erreichen oder die vielen naturbezogenen Chorkompositionen aller Epochen in einen lebendigen Raum zu stellen, aber künstlerisch und klanglich bleibt dies doch meist unbefriedigend.

Dass besonders die zeitgenössische Chormusik große Chancen für neue Raumerfahrungen bietet, wurde oftmals deutlich. Beispiele hierfür waren eine Komposition, die Sängerinnen und Sänger zwischen den Tönen von zwei Sirenen improvisieren lässt und dadurch die beklemmende Stimmung bei der Vorwarnung zu einem kriegerischen Angriff künstlerisch adaptiert und überhöht, oder andere Werke, die ausschließlich für konkrete Räume geschaffen werden und deren Eigenklang, quasi den „Grundton Raum“ miteinbeziehen. Letzteres haben die Teilnehmer dann nicht nur erklärt bekommen, sondern in einem Treppenhaus auch gleich mit allen Sinnen erfahren dürfen.

Aber auch dies wurde deutlich: Weder das herkömmliche Format auf der Bühne eines Konzertsaals noch die hergebrachte Chormusik vergangener Zeiten sind tot oder dem Untergang geweiht. Die Suche nach neuen Räumen ist das eine, die weitere Vervollkommnung eines idealen Chorklanges im klassischen Kontext bleibt parallel die andere Aufgabe. Und so durfte das „Human Requiem“ des Berliner Rundfunkchores als Beispiel für räumliches Ausloten eines populären romantischen Chorwerkes nicht fehlen, gehen hier bei Brahms doch Musik, Körper- und Raumerfahrung eine existenziell deutende Verbindung ein. Freilich sind hierzu von den Ausführenden mannigfache Kompetenzen über das übliche Handwerkszeug eines Profichorsängers hinaus gefragt.

Neue Räume – physisch, mental, zeitlich und nicht zuletzt sozial. Um eine Chorszene, die auf solch hohem Niveau über diese Dinge nachdenkt und sie bereits in vielen Punkten umsetzt, braucht einem nicht bange zu sein.

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