Hauptbild
Volker Tarnow: Ginastera und das Eldorado der Musik, Boosey & Hawkes, Berlin 2017, 218 S., Abb., Notenbsp., € 29,95, ISBN 9783793141648
Volker Tarnow: Ginastera und das Eldorado der Musik, Boosey & Hawkes, Berlin 2017, 218 S., Abb., Notenbsp., € 29,95, ISBN 9783793141648
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Neues vom Zwölfton-Gaucho

Untertitel
Eine vorbildliche Ginastera-Biografie
Publikationsdatum
Body

Alberto Ginastera (1916–83) ist unter Kennern zwar ein bekannter Name: Angesehen als der bedeutendste Komponist Argentiniens, und zusammen mit dem Brasilianer Heitor Villa-Lobos, seinem argentinischen Landsmann Astor Piazzolla, den Mexikanern Carlos Chávez und Silvestre Revueltas und dem Kubaner Ernesto Lecuona der glanzvollste Komponistenname Lateinamerikas, wird Ginastera immer wieder genannt, und anlässlich seines 100. Geburtstags erschien eine Vielzahl CDs mit seinen Werken.

 Doch wer kennt die Musik Lateinamerikas, abgesehen von den populären Formen wie Tango und brasilianischer und kubanischer Tanzmusik, in Europa wirklich genauer? Das ist ein kleiner Zirkel von Experten, der vielleicht einen Großteil seiner Informationen aus einem exzellenten Standardbuch der 1940er-Jahre, ‚Music of Latin America‘ von Nicolas Slonimsky, bezieht. Es sind eher die Fans von Emerson, Lake & Palmer, die sich via Rock-Adaption instinktiv an Ginasteras Ton erinnern, als die Klassikfreunde. Und Ginastera ist, abgesehen von der Bartók-befruchteten Malambo-Tour de Force einiger Frühwerke, tatsächlich ein Unbekannter, für den Volker Tarnow hier nicht nur ein flammendes Plädoyer vorlegt – nein, er breitet als erster in deutscher Sprache Ginasteras Leben und das ganze vielschichtige Spektrum seines Schaffens vor uns aus. Darüberhinaus informiert er uns gründlich über die kulturellen Hintergründe und die Umgebung – in musikalischer und gesellschaftlicher Hinsicht –, in welcher der zwischen Spröde, Melancholie und Explosivität fluktuierende Meister aus Buenos Aires zu verorten ist. Dass Tarnow in seiner mit viel pfiffigem Sarkasmus und einigen mutigen Urteilen gewürzten Euphorie gelegentlich übers Ziel hinausschießt – etwa in der lakonischen Herabwürdigung Piazzollas –, sei ihm verziehen. Ich finde es eher kontraproduktiv, mit negativen Vergleichen zu polarisieren, um die Genialität des Meisters herauszustreichen. Andere dürften an der gelegentlichen Häme vielleicht umso mehr Gefallen finden.

Ginasteras schöpferischer Werdegang mutet mir etwas tragisch an. Ähnlich dem Griechen Nikos Skalkottas versuchte er in seinem reifen Schaffen, die indigenen Elemente mit der Dodekaphonie zu verbinden. Dass dadurch das Grundelement der harmonischen Entwicklung ausgeschaltet wird, ist seinem eigentlich kantablen Naturell ähnlich wie Dallapiccola zum Hemmschuh geworden. Doch ist dabei Unverkennbares entstanden, und unter neugierigen Musikern ist der ‚Zwölfton-Gaucho‘ ein mysteriös schillernder Geheimtipp. Ginastera ist einer der faszinierenden Tonschöpfer seiner Epoche und müsste hierzulande viel öfter gespielt werden.

Wer eingehend über ihn Bescheid wissen will, ist bei Tarnow bestens bedient. Alle erwähnenswerten Werke werden mehr oder weniger eingehend erörtert und in den Lebens- und Geschichtskontext eingebettet. Hinzu kommt ein chronologisches Werkverzeichnis, das nebenbei die Fehler aller Vorgänger-Monographien korrigiert. Welch ein Jammer, dass die Partituren und Stimmen der beiden von Ginastera verworfenen, damals prominent von Meisterdirigenten wie Erich Kleiber propagierten Symphonien spurlos verschwunden sind – hat er sie wirklich vernichtet? Hoffen wir auf Wunder! Und solche hat seine Musik immer wieder vollbracht, sei es mit 2Ollantay“, der „Pampeana 3“, dem „Concerto per corde“, den „Glosses“ über Themen von Pau Casals, den fulminanten Konzerten und Sonaten für Klavier, dem Harfenkonzert oder den erratischen späten Hauptwerken „Turbae ad passionem gregorianam“ und „Popol Vuh“, und wenn man diese Musik hört, ist es egal, ob sich darin ein zeitloser pan-amerikanischer Geist ausdrückt oder eine paranoide moderne Seele, oder beides. Kühl und rau packt der Komponist seine Hörer, und in den drei ab 1963 entstandenen Opern „Don Rodrigo“, „Bomarzo“ und „Beatrix Cenci“ zeigen sich die Menschen von ihrer abgründigsten, hässlichen, gnadenlosen Seite. Wer die Vertonung dessen liebt, was am Menschen unmenschlich und in seiner Zerrissenheit fesselnd ist, wird diese Opern schmerzlich auf unseren Bühnen vermissen, und es mag anmuten, als seien „Wozzeck“ und „Lulu“ idyllische Schöpfungen im Vergleich mit diesen raffiniert in Klang gesetzten Gewaltorgien.

Die Zeit sollte kommen, in welcher man mit dem Namen Ginastera nicht nur die wuchtigen frühen Ballette „Panambí“ und „Estancia“ assoziiert. Sein Schaffen ist viel facettenreicher, eigentümlicher und feinnerviger, und das Interesse daran vermittelt Tarnows Biografie in vorbildlicher Weise. Es ist eine der besten deutschen Musikerbiographien, die derzeit auf dem Markt sind, und dem entspricht auch die hochwertige Aufmachung des Buchs, dessen Entstehung nicht zuletzt dem unermüdlichen Wirken eines so herausragenden Beraters und Machers wie Frank Harders-Wuthenow zu verdanken ist.

Das Buch hebt sich von Tarnows populärer Sibelius-Biographie dadurch ab, dass die teils erstaunlich eingehenden Werkbeschreibungen zwar auch allgemein verständlich abgefasst sind, jedoch in der technischen Erörterung fundierter sind. Ginasteras Musik und Persönlichkeit wird hier in deutscher Sprache ein unschätzbarer Dienst erwiesen, wie dies noch für viele bedeutende Komponisten nicht nur Lateinamerikas, sondern auch aus den USA und Europa aussteht. Stilis-tisch gehört Ginastera zu jenen Meis-tern, die den Spagat zwischen der musikalischen Tradition ihres Landes (oder Kontinents) und den technischen Errungenschaften einer dodekaphonischen Moderne riskierte, die sich von allem Herkömmlichen abwenden wollte und dafür die Grundelemente der Tonalität über Bord warf. Dieser Spagat findet sich auch in der Musik so unterschiedlicher Tonschöpfer wie des Italieners Luigi Dallapiccola, des Griechen Nikos Skalkottas, des Schweden Hilding Rosenberg oder des Finnen Joonas Kokkonen. Sie unterscheiden sich in ihrem Streben nach einer Synthese des Unvereinbaren sowohl von den freitonalen Evolutionären der tonalen Tradition als auch von den Revolutionären der sogenannten Avantgarde im Gefolge von Varèse, der zweiten Wiener Schule oder dem späten Strawinsky. Vieles harrt hier noch der Entdeckung. Nun dürfen wir sehr gespannt sein, worüber Tarnow als Nächstes schreiben wird.

  • Volker Tarnow: Ginastera und das Eldorado der Musik, Boosey & Hawkes, Berlin 2017, 218 S., Abb., Notenbsp., € 29,95, ISBN 9783793141648

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!