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Stimmengewirr aus Smartphones: Das RSB mit Anna Korsuns „In einem anderen Raum“. Foto: Deutschlandradio/Simon Detel
Stimmengewirr aus Smartphones: Das RSB mit Anna Korsuns „In einem anderen Raum“. Foto: Deutschlandradio/Simon Detel
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Präsenz und Virtualität, Traum und Wirklichkeit

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Beim Berliner Festival Ultraschall wurde die Attraktivität des Klangkörpers Orchester wiederentdeckt
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Ein paar Tage nach dem Ende von „Ultraschall Berlin“ gab es in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Programm, das gut in das von den beiden öffentlich-rechtlichen Radiosendern Berlins organisierte Festival für neue Musik gepasst hätte. Das Minguet-Quartett spielte Roberto David Rusconis 7. Streichquartett „UMBRAE“. Aber der Rahmen war ein Benefizkonzert der IPPNW (Ärzte gegen den Atomkrieg) zugunsten einer großangelegten Recherche über alle jüdischen Holocaust-Opfer. Das tiefsinnige Stück voller ernster Schönheiten nicht nur der experimentellen Avantgarde, sondern auch mit Anklängen an die frühe Moderne, beunruhigte vernehmlich schon mit seiner 45-minütigen Dauer das unvorbereitete Publikum. Ist also der geschützte Raum eines ausschließlich der neuen Musik vorbehaltenen Festivals immer noch die einzige Zuflucht für abenteuerlustige und interessierte Hörer*innen?

Aus der Beschränkung auf die Gegenwartsmusik folgt bei Ultraschall Berlin keineswegs ein Mangel an Vielfalt, was schon die in Maßen divergierenden kuratorischen Schwerpunkte von Andreas Göbel für den RBB und Rainer Pöllmann von DLF-Kultur verhindern, denn Pöllmann tendiert eher zum ungesicherten Experiment und einer radikalen Avantgarde, während Göbel dem von sich aus Zugänglicherem zuneigt. Das Auftaktkonzert war „seins“ – das DSO unter Lothar Zagrosek hub an mit „Mary / Transcendence after Trauma“ der neuseeländischen Erfolgskomponistin Liza Lim. Warum nur muss sie immer publik machen, welchen Inhalt (hier die Verkündigung Mariä) ihr Stück habe? Die „Story“ stellt sich wie ein Störgeräusch zwischen Musik und Wahrnehmung – ein Publikum antizipierend, das nicht ohne aufmunternde Erklärung schlucken mag, was ihm sonst zu bitter wäre? Diese Sorgen hatten die beiden anderen Komponierenden jenes Konzerts nicht, denn Carola Bauckholt stellte die Wahrnehmung von Verwandlungen des Geräuschs im komplexen instrumentalen Orchesterklang ins Zentrum – und ließ so die Musik selbst von sich erzählen. „Brunnen“ war der Titel – egal, das war eine lange Reise durch zahlreiche Landschaften, die die Ohren vor Interesse spitzen machte, mit dem virtuosen Cellospiel von Séverine Ballon vorneweg. Nachvollziehbar wegen des musikgeschichtlichen Interesses war auch, aber ganz anders, die „Monadologie VII – Kammersinfonie“ von Bernhard Lang, der sich mit minimalistischen Repetitionen dem Material und der Idee von Arnold Schönbergs Zweiter Kammersinfonie widmete, die bei tonaler Harmonik die Faktur der Avantgarde besitzt. Lang komponierte das Rätseln und Träumen, das nicht nur ihn bei jenem berühmt-unbekannten Werk des 12-Ton-Meisters ergreift.

Drei Orchesterkonzerte gegen acht Kammermusik-Programme (Solo bis Kammerbesetzung) deuten auf eine Rückkehr des Symphonieorchesters in die zeitgenössische Musik hin. Dass die Avantgarde dort wieder Einstand feiert, frei, ohne Angst vor türenknallender Empörung, zeigte sich im Konzert des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Berlin (RSB) unter Susanne Blumenthal. Die fünf Stücke, darunter drei von Exilant*innen der verfeindeten Ex-Sowjetstaaten (komponiert alle vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine) teilten die Eigenschaft großer Gelassenheit und inniger Zuwendung zu den neuerfundenen Phänomenen. Zauberhaft, wie in „In einem anderen Raum“ von Anna Korsun, aus der Ukraine, die orchestrale Klangwanderung in ein leises Stimmengewirr aus Smartphones wechselte und sich Präsenz und Virtualität wie Traum und Wirklichkeit vermischten. Mit einer genialischen Verknüpfung anderer Art – Worte und Musik – überraschte Sergej Newski, der in „Stufen der Ideen“ (von 2021!) einen flammenden Text von Tolstoi, eine Verdammung jeglichen Nationalismus‘, skandieren ließ – gebettet in ein aus kaum mehr als flüsternder Erregung geflochtenen 20-stimmigen Streichermurmeln, das eben nicht ein Spiegel des Textes war, sondern allenfalls ein drohend flackernder Hintergrund. Spätestens bei „Harmoniemusiken“ von Oxana Omelchuk (Belarus) wurde man gewahr, welche künstlerischen Potenziale der kleineren ehemaligen Sowjetrepubliken unserer Aufmerksamkeit bisher entgangen waren: In diesem Stück war es die Unzahl klanglicher Freuden wie Vorschauen auf große Sinfonien.

Auch wenn naturgemäß das Publikum bei Sinfoniekonzerten zahlreicher ist als bei Kammermusik, waren die kleiner besetzten Konzerte durchaus kein Nebenprogramm, zumal einige Namen sowohl im großen wie im kleinen Saal zu finden waren: darunter Kristine Tjøgersen, die sowohl im vorgenannten Konzert als auch beim Trio Recherche ihr Interesse an Naturlauten darlegte. In diesem Konzert am Samstag nachmittag im „Silent Green“ – einem ehemaligen Krematorium, jetzt ausgebaut zu einem sehr aktiven und gut ausgestatteten Kulturzentrum im Wedding – waren allerdings die beiden Streichtrios von 1965 und 2022 von Helmut Lachenmann die Sensation. Das erste Trio kennt noch nicht die Welt der instrumentalen Geräusche, durch­streift gleichwohl spontan vielfarbige Artikulationslandschaften, die Lachenmann in den beiden nachfolgenden Jahrzehnten massiv erweitern sollte. Im Ersten liegt das Ohrenmerk noch auf der extrem atonalen Harmonik und Dynamik – Gedanken eines lebhaften Geistes, der sich über sich selbst verwundern kann. Das Zweite – „Mes Adieux“, etwa 56 Jahre später komponiert, mit leichter Hand, möchte man fast sagen, im Vollbesitz aller gewonnenen Erfahrungen (auch der „Musique concrète instrumentale“) – ist gestisch und klanglich noch kontrastreicher als das Erste, ausgestattet mit himmlischen Längen des Nachsinnens über die Konstruktion der Instrumente. Welch Glück eines langen Lebens! Adäquat in jeder Hinsicht das mit Lachenmann seit Äonen vertraute Trio Recherche.

Vom Kuppelsaal des „Silent Green“ ging es sodann durch lange Gänge und Treppen in die Betonhalle, weitaus wohnlicher ausgestattet, als der Name vermuten lässt, wo das Ensemblekollektiv Berlin – ein Zusammenschluss von vier Berliner freien Neue-Musik-Ensembles, diesmal jeweils in Quartettbesetzungen – mit Stefan Prins‘ „inhabit_inhibit“ (dt. bewohnen-behindern) ein „immersives“ also Rundum-Raumklang-Erlebnis versprachen. Die Ins­trumentalklänge sollten mit mutwillig nicht kontrollierbaren akustischen Rückkopplungen konfrontiert werden. Alvin Lucier lässt grüßen, möchte man sagen, aber was bei Lucier Interesse am physikalischen Phänomen war und dort eine ganz eigene Poetik schuf, war hier eine bald beliebig scheinende Überforderung. Immersive Klangkunst verlangt Reduktion und Langsamkeit, und zudem wurde hier im schwindelerregenden Fiepen und Blubbern zumindest diesem Autor die Dramaturgie nicht ersichtlich.

Einen richtig krönenden Abschluss bot dann das Sinfoniekonzert des DSO unter Karen Kamensik im Großen Sendesaal des RBB, das man durchweg „spielerisch“ nennen könnte. Elena Mendozas „Stilleben für Orchester“ war ein Konzert für Alltagsgegenstände, deren begrenzte Spielbarkeit durch das Orchester dramatisch eingerahmt wurde. Nach diesem Spaß kam ein Spätwerk von York Höller – sein Doppelkonzert für Cello und Klavier von 2022. Freimütig gab der 79-jährige erblindete Komponist zu, dass er in der bedrückenden Lockdownzeit einfach keinen Anfang fürs Konzert finden konnte. Dennoch begann er, indem er einen 12-Ton-Akkord auf dem Klavier anschlug, und diesen als Ausgangspunkt festsetzte und die geistige Erleichterung, die Zurücknahme übergroßen Willens brachte ein improvisatorisches Element ins Spiel, das Solisten und Orchester in ein selbsterforschendes Gespräch bannte.

Zuletzt – es war der chinesische Neujahrstag (22. Januar), mit dem das Hasenjahr begann – erklang, wie zu diesem Zweck geschaffen, von der Komponistin Ying Wang (*1976)  ihr „528 Hz 8va“ (gesprochen 528 Hertz Oktav). Diese Frequenz, hatte die Komponistin herausgefunden, werde als besonders optimistischer und energiereicher Ton angesehen. Ob das stimmt oder nicht, Ying Wang hatte aus dem Vollen geschöpft und unter Einsatz eines an die frühen „Kraftwerk“-Platten erinnernden Mini-Moogs ein wildfröhlich sprudelndes Virtuosenstück geschrieben, das in Charles-Ives’scher Manier in eine akrobatische, über sich selbst herfallende Drachenprozession mündete, bildlich gesprochen. Das Orches­ter lebt, und wenn auch Neue Musik in ihrem geschützten Raum bleibt, dürfte die neue Attraktivität früher oder später auch neues Publikum finden.

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