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Indigene Blasinstrumente: Pan-, Quer- oder Vierteltonflöten. Foto: OEIN
Indigene Blasinstrumente: Pan-, Quer- oder Vierteltonflöten. Foto: OEIN
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Proben in der Quarantäne gegen den Corona-Koller

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Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos und Stimmkollektiv PHØNIX16 in der Musikakademie Rheinsberg
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Während der Corona-Shutdown Mitte März unaufhaltsam das gesamte deutsche Konzertleben erfasste, probten weit im Norden, eine gute Autostunde entfernt von Berlin, fünf Performer des Vokalensembles PHØNIX16 aus Berlin und 25 junge bolivianische Musiker des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos unermüdlich weiter, als ob ihre Uraufführungen am 20. März 2020 zur Eröffnung der MaerzMusik nicht abgesagt worden wären. Zwar hatte die bolivianische Regierung alle Bolivianer im Ausland dazu aufgefordert, innerhalb von 72 Stunden ins eigene Land zurückzukommen. Von Deutschland aus stellte sich dies jedoch schnell als Ding der Unmöglichkeit heraus, da es keine Flüge gab.

Bevor der Lagerkoller drohte, fanden die Beteiligten unkonventionelle und rasche Lösungsmöglichkeiten. Zunächst gab die Musikakademie Rheinsberg den Künstlern Wohn­asyl bis 31. März, das Festival MaerzMusik unterstützte die Ensembles über das vereinbarte Probenhonorar hinaus mit der Bezuschussung weiterer drei Ausnahmetage im Theater Rheinsberg und ermöglichte damit die Fortsetzung der Proben sowie Aufnahmen von Teilen des Programms für eine künftige CD-Produktion. Ursprünglich war ein Projekt geplant, bei dem das Bolivianische Experimental­orches­­ter für indigene Instrumente (OEIN) und das Stimmkollektiv PHØNIX16 aus Berlin die präkolumbianische Musikkultur der Aymara mit experimentellem Stimmeinsatz verbinden sollte.

Es sollte am 20. März in der Eröffnung der MaerzMusik 2020 kulminieren. Über ein Jahr zuvor hatte Tim Kreuser, der Leiter von PHØNIX16, den Komponisten Carlos Gutiérrez Quiroga, Direktor des OEIN, als DAAD-Stipendiaten kennengelernt und mit ihm zusammengearbeitet. Guitérrez befasst sich insbeondere mit der Herstellung von Instrumenten und Klangobjekten sowie der Untersuchung einheimischer Musik Boliviens, insbesondere der Aymara- und Quechua-Traditionen.

„Wir haben dann zusammen für MaerzMusik eine Projektidee entwickelt“, erinnert sich Tim Kreuser, „die versucht hat, sich mit dieser Begegnung zwischen zwei Kulturen zu beschäftigen, aber auch gleichzeitig sehr zentral mit dem Thema Dekolonialität. Deshalb haben wir uns vorgenommen, dass auch unsere Arbeitsweise eine dekoloniale sein muss, also dass es keine Überschreibung durch die möglicherweise stärkeren Europäer geben darf, sondern dass man sich begleiten und begegnen muss.“

OEIN und PHØNIX16 stießen auf die Musik des Italieners Bernard Parmegiani und der Argentinierin Beatriz Ferreyra und ergänzten deren Werke, „De Natura Sonorum“ – Live-Version für Stimmen und indigene Instrumente (1975/2020) sowie „Rios del Sueño“ – Live-Version für Stimmen und indigene Instrumente (1998 – 2000/2020), um Musiken von zwei bolivianischen Komponisten mit indigenem Bezug: „Cantos del Arenal“ für Stimmen und indigene Instrumente (2020) von Marisol Jiménez und ein Neues Werk für Stimmen und indigene Instrumente (2020) von Carlos Guiterrez. Zwei Frauen, zwei Männer, zwei bearbeitete Stücke und zwei neue Stücke, das war den Initiatoren wichtig.

PHØNIX16 ist ein experimentelles Vokalensemble, das 2012 in Berlin seine Form gefunden hat. Es versteht sich als Solistenkollektiv und als vokaler Klanggenerator. Die Besetzungen sind variabel, in Rheinsberg ist PHØNIX16 nur mit fünf Performern vertreten. Das OEIN arbeitet dagegen nur in zwei verschiedenen Formationen: einmal als Quartett und als Orchester mit 24 Instrumentalisten. Ähnlich wie El Sistema in Venezuela ist das OEIN nicht nur Ensemble, sondern auch Schule und eine Berufsausbildung –  man beschäftigt sich jedoch exklusiv mit indigenen Instrumenten.

An zwei Standorten in La Paz und El Alto werden ungefähr 300 junge Leute im Spiel indigener Instrumente unterrichtet. Ein Kern von acht Leuten innerhalb des OEIN wird von der Kommune dafür bezahlt zu unterrichten, das ist die einzige Förderung. Aus diesen jungen interessierten Leuten generiert sich das 24-köpfige Orches­ter. Ein Großteil der Musiker kann keine Noten lesen und benutzt andere grafische oder zeitbasierte Notationssysteme. Die Gründung des bolivianischen Experimentalensembles auf indigenen Instrumenten liegt über 40 Jahre zurück, man kann also auf eine längere Tradition zurückblicken, als etwa das deutsche Ensemble Modern.

Seit der Absage durch MaerzMusik sind Timo Kreuser und Carlos Gutiérrez im Gespräch mit dem Festival für Neue Musik „Musica“ in Straßburg. Vielleicht erklingen die Ergebnisse des „Rheinsberger Zwangsaufenthalts“ bereits diesen Oktober in Straßburg – mit der Hoffnung auf einen goldenen Konzertherbst sind OEIN und PHØNIX16 nicht allein.

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