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Quo vadis homo visualis?

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Uraufführungen 2021/06
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Als die Bilder laufen lernten – später auch sprechen –, wurden Sehen und Hören an die Leine gelegt. Wie im Alltag waren die Sinne zwar auch in Theater, Oper und Konzert immer schon verkoppelt, aber der Blick war frei, hier und dorthin zu schweifen, dieses zu betrachten, jenes außer Acht zu lassen, das Ganze zu überblicken oder ein Detail zu fixieren. Diese Aktivitäten nahm der Film dem Auge ab, indem er auf dessen Trägheit setzte und statt 24 einzelner Bilder pro Sekunde den ein für alle Mal fixierten Kamerablick über die jedes Mal exakt identische Projektion eines Kinematographen sehen ließ.

Ebenso durchlief der Ton diverse Technologien der Aufzeichnung, Speicherung, Verbreitung und Wiedergabe. Musik diente im Film neben handlungstragenden Wortwechseln und Geräuschen vor allem als „Geschmacksverstärker“ für Atmosphären, Stimmungen, Emotionen. Stummfilmpianisten wählten aus den hunderten Sequenzen sogenannter Kinotheken die zu den Situationen eines Films jeweils gerade passenden, etwa „Nacht, Grauen (anwachsend)“. Kaum anders verfährt noch heute das neosymphonische „Blessing of the Dressing“ Marke Hollywood.

Und was nun, hundert Jahre Reproduktionstechnologie und tausende Konzert-, Opern- und Theaterstreams später? Internetauftritte waren und bleiben während Corona vielfach die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas an Kunst und Kultur zu ermöglichen und in die anonyme Öffentlichkeit zu tragen. Kameras und Mikrofone haben dabei gelernt, sich dem bildgestützten Medium anzupassen und den Eindruck von aktivem Sehen und Hören zu vermitteln. Der bereits seit den Videoclips der 1980er-Jahre anhaltende Trend zu immer mehr Audiovisualität erhält durch Internet, Streamings, digitale Zeichen-, Trick- und Animationstechniken neuen Auftrieb. Das Ideal des „reinen Hörens“, das die klassisch-romantische Ära und ihr bis heute gepflegtes Repertoire leitete, scheint endgültig außer Kurs zu kommen. Der Iconic turn prägte zwar schon das gesamte 20. Jahrhundert, doch die gegenwärtige Pandemie befördert womöglich eine neue Epochenwende. Wird die nächs­te Spielzeit 2021/22 wieder zu „normalen“ Live-Veranstaltungen zurückfinden? Oder wird in Zukunft munter weiter und vielleicht sogar noch mehr gestreamt? Was verlieren und gewinnen wir dabei? Werden Hören und Sehen noch mehr gegängelt oder eher entbunden, entfesselt, ermächtigt, weil jeder nach Belieben surfen, clicken, liken, zappen, skippen, pausieren, stummschalten, up- und downloaden kann? Wie sehr pulverisieren oder transformieren sich dabei altverwurzelte ästhetische Kategorien wie Autorschaft, Werkbegriff, Kunstcharakter, Performativität, Präsenz, Wahrnehmung, Konzentration?

Die schon von Hegel diagnostizierte Abwesenheit des Künstlers im Kunstwerk setzt Karl Gottfried Brunotte am 2. Juni in einem neuen Stück um, das bei einem ihm zum 63. Geburtstag gewidmeten Konzert in der alten Montagehalle des ehemaligen Güterbahnhofs Bad Homburg vor der Höhe uraufgeführt wird: „miramari – music minus me“ für einen abwesenden (maskierten) Solisten, mobile Klangquellen, Radiophonie, Elektroakustik, Lautsprecher, virtuelle Räume und imaginäre Theaterbühnen, eventuelles Publikum, zu freiem Eintritt – „freiwillige Zuwendungen sind an den unerwartet auftretenden Solisten zu richten“.


Weitere Uraufführungen/Ursendungen (mit Vorbehalt):

05.06.: Dariya Maminova, Tamon Yashima, Zaneta Rydzewska, neue Werke für Kammerensemble hand werk, Alte Feuerwache Köln

06.06.: Anno Schreier, Landschaft im Schnee, Saal Hütten in Roetgen-Rott

11.06.: Dai Fujikura, Entwine für WDR-Sinfonieorchester, WDR3 Tonart

15.06.: Benjamin Schweitzer, Umbra – Antumbra – Penumbra für Bassklarinette und Orchester, Greifswald

18.06.: Stephanie Thiersch und Brigitta Muntendorf, Spektakel der Vermischung für Choreographie, Musik und Architektur, Festival Theater der Welt Düsseldorf

25.06.: Chaya Czernowin, neues Orchesterwerk, Nicolaus Richter de Vroe, Violinkonzert, musica viva Herkulessaal München

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