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Ratlos

Untertitel
Cluster 2012/11 2
Publikationsdatum
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Mein erstes Geld verdiente ich als Klarinettist im Musikkorps der Freiwilligen Feuerwehr an Volkstrauertagen. Es gab 1,50 Mark pro „Ich hatte einen Kameraden“-Strophe. Höre ich in einem Konzert mit Neuer Musik Anklänge an Märsche, mag mich das zwar irritieren, aber ich freue mich auch und genieße das Uffze-Uffze-Gefühl im Bauch. Über solch heimliche Freude bin ich nun stinksauer:

Ich hatte das Programmheft nicht gelesen, hatte durch Titelgebung zwar eine vorsichtige Ahnung, verstand aber den vorgetragenen Text nicht und erfahre später, dass sich die kindliche Marschfreude mit aktuellen Grausamkeiten im Nahen Osten verbunden hatte. Während der heimeligen Aftershowparty sind zweifellos genau dort Menschen krepiert. Dass täglich gemordet wird, weiß ich durch die Tagesschau. Dafür brauche ich kein Oratorium. Es bedarf auch keines Madrigals, das mich an Naturkatastrophen erinnern lässt, während die Menschen vor Ort in Notunterkünften ganz real um ihre Verwandten trauern. Et cetera …

Künstler haben zweifellos persönliche Motive. An Aufrichtigkeit oder Redlichkeit zu zweifeln, ist unlauter, zumal ich mich solchen Themen erst gar nicht stelle. Die kaum zeitversetzte Ästhetisierung konkreter Gräuel ertrage ich dennoch nicht. Das ist nicht heldenhaft von mir. Und nun klappen sich mir die Fußnoten hoch und ich blicke auf 200 Buch- und Partiturmeter Adorno, Schönberg, Nono, Celan: Texte und Musiken, die ich liebe. Am Ende keine Pointe, nur Ratlosigkeit. 

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