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Anselm Hüttenbrenner (1794–1868). Litographie von Josef Eduard Teltscher
Anselm Hüttenbrenner (1794–1868). Litographie von Josef Eduard Teltscher
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Schuberts Seelenverwandter

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Die Erstausgabe der „Geisterszenen“ macht auf Anselm Hüttenbrenner aufmerksam
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Der Name Anselm Hüttenbrenner ist den meisten Musikern und Musikfreunden lediglich als zeitweise enger Komponistenfreund Franz Schuberts ein Begriff. Seine Musik kennen nur wenige Spezialisten und Sammler sehr fragmentarisch. Auch wenn sich das nicht so schnell ändern dürfte und er natürlich den ganz Großen seiner Zeit wie Beethoven, Weber oder Schubert nicht das Wasser reichen kann und von den jüngeren Generationen schnell als gediegener Konservativer vergessen wurde, so ist es sein Œuvre doch durchaus wert, als eines der bedeutendsten aus der „zweiten Reihe“ entdeckt und zunehmend aufgeführt zu werden.

Editorisch geschieht dafür bereits seit einiger Zeit mehr, als man vermuten würde.
Mutmaßlich der führende Hüttenbrenner-Experte ist der Innsbrucker Musikwissenschaftler Michael Aschauer, der nun mit einem besonderen Coup aufwarten durfte. Im Helbling Verlag veröffentlichte er in einer vorbildlichen Edition Hüttenbrenners späte „Geisterszenen“ (oder auch „Geistererscheinungen“). Vorausgegangen war, ebenfalls bei Helbling, eine CD-Ersteinspielung mit der sehr begabten und ernsthaften jungen Pianistin Julia Rinderle, die sich nicht nur von Aschauer einweisen ließ, sondern sich die durchaus herausfordernde Musik zu eigen machen konnte. Ihre Aufnahme der 22 zwischen zwei und vier Minuten dauernden „Tongemälde“ zeugt von anmutiger Verinnerlichung und unschuldiger Natürlichkeit und wird auch den virtuosen Ansprüchen uneingeschränkt gerecht.

Und diese Musik ist eine Sensation, denn tatsächlich finden wir hier in diesen im Frühjahr 1850 – also mehr als 22 Jahre nach Schuberts Tod – entstandenen Fantasiestücken jenen Seelenverwandten Schuberts, nach dem wir bislang vergeblich Ausschau hielten. In keiner anderen Musik ist die Nähe zum späten Schubert – harmonisch, im heiklen Klaviersatz, in der Art der Figurationen, gerade auch hinsichtlich der „ins Leere“ laufenden Entwicklungen, der drastischen Abbrüche, die erst durch das Erfassen der Form als Ganzes aufgefangen werden können – so unüberhörbar wie hier. Ein fehlendes Glied der Musikgeschichte wird eingereiht und lässt Schubert nicht ganz so isoliert, wenngleich ungebrochen einzigartig, dastehen. Natürlich fällt dabei auch auf, dass Hüttenbrenner eben kein Mann der großen Form ist, sondern ein Meister der Charakterminiatur, die hier ins Zyklische gedehnt ist. Man könnte sagen, es ist eine Art Schubert ohne Durchführung …

Freilich stimmt das nicht ganz, wie man der gleichfalls von Aschauer erstmals herausgegebenen Klaviersonate in E-Dur von 1826 entnehmen kann – in welcher gleichfalls die Nähe zu Schubert teils frappierend ist. Doch Hüttenbrenner besticht mit vielen weiteren Facetten. So komponierte er 1851 24 Fugen in allen Dur- und Moll-Tonarten (ohne Präludien!), ein Unterfangen, dem sich in der Nachfolge Bachs zu jener Zeit sonst nur Alexander Klengel gestellt zu haben scheint. Dieser seinerzeit sehr ungewöhnliche Fugenzyklus wird demnächst auch im Helbling Verlag erscheinen.

Anselm Hüttenbrenner wurde 1794 in Graz geboren und profilierte sich früh als exzellenter Klaviervirtuose, auch als herausragender Improvisator. Gemeinsam mit Schubert studierte er in Wien bei Antonio Salieri die Technik des gesanglichen Komponierens, beide traten zusammen auf und Schubert schrieb Klaviervariationen über das Thema des Variationensatzes aus Hüttenbrenners Streichquartett in E-Dur, welches seinem eigenen „Tod und das Mädchen“-Thema charakterlich sehr ähnlich ist. 1821 kehrte Hüttenbrenner nach Graz zurück, und Schubert vermisste ihn schwer. 1831 bis 1839 wirkte er als Direktor des „Musikvereins für Steiermark“. Sein erstes Requiem war damals in Wien sehr bekannt und wurde anlässlich der Totenfeiern von Sa­lieri, Beethoven und Schubert gespielt­ – man muss sich schon wundern, dass niemand auf die Idee gekommen ist, es wiederzubeleben. 1840 wurde sein drittes Requiem in Graz anlässlich der Trauerfeier für Kaiser Franz I. gespielt. Einem kurzen Wien-Intermezzo 1858 folgte der Rückzug Hüttenbrenners aufs Steirische Land, wo er 1868 unweit seiner Geburtsstadt verstarb.

Beim Katzbichler-Verlag sind seine 1817 bis ’18 entstandenen vier Streichquartette in Partitur und Stimmen erschienen, in einer Ausgabe von Michael Kube – wobei dem die Erstveröffentlichung des c-Moll-Quartetts beim Accolade Musikverlag vorausging, welcher auch die Erstausgabe des ungefähr zur gleichen Zeit komponierten Streichquintetts in c-Moll verantwortet. Diese fünf Werke zählen zu den zauberhaftesten Streicherkammermusik-Beiträgen ihrer Zeit, auch hier wieder in unverkennbarer Verwandtschaftsbeziehung zu Schubert, und auch hier wieder formal viel schlichter und knapper gehalten – aber gerade auch für ambitionierte Laien sehr dankbare Literatur, bevor man sich an einen großen Schubert-Brocken wagt … Und bei Accolade ist auch eine der drei Hüttenbrenner-Symphonien im Erstdruck erschienen: die 1837 komponierte Symphonie in a-Moll, die aufgrund ihrer solistischen Einsprengsel den Beinamen „Concertante“ erhielt. Sie ist ein ausgewachsenes viersätziges Werk, das unbedingt neben dem Freund Schubert in unseren Abonnementkonzerten erklingen sollte. Und es ist noch viel zu entdecken aus der Feder dieses sympathischen Meisters, der unter anderem acht Opern, sechs Messen, über 200 Lieder und unzählige Klavierwerke hinterließ.

  • Anselm Hüttenbrenner (1794–1868): Geisterszenen – 22 Tongemälde für Klavier. Kritische Erstausgabe, hrsg. von Michael Aschauer. Helbling Verlag W7452

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