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Bestürzend konventionell: der „Cyber-Marsch“, komponiert von Sebastian Middel. Montage: Martin Hufner
Bestürzend konventionell: der „Cyber-Marsch“, komponiert von Sebastian Middel. Montage: Martin Hufner
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Sechs Achtel für ein Hallelujah

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Nachschlag 2017/06
Publikationsdatum
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Vor einiger Zeit habe ich gelobt, den „Cyber-Marsch“ der Bundeswehr zu rezensieren, sobald er mir in die Finger fiele (Ehrensache für den Marschkönig von Kreuzberg). Inzwischen lässt er sich online anhören und in Teilen auch ansehen: Aufnahme und Kommentar auf der Seite des „Cyber- und Informationsraums, Partiturauszüge auf der Verlagsseite.

Um es vorweg zu sagen: das Stück ist, ziemlich überraschend für den Marsch eines „Cyber-Kommandos”, geradezu bestürzend konventionell – und zwar konventionell nach den Maßstäben der populären Musik um 1910, also des Lochkartenzeitalters. Wie durchaus ungebrochen und ohne Anflüge ironischer Distanzierung hier die Marsch-Topoi der vorletzten Jahrhundertwende abgerufen werden, ist bemerkenswert. Wenn die Bundeswehr ihre Cyber-Krieger nach den gleichen Kriterien auswählen wollte wie ihre Komponisten, müsste sie Hollerith-Spezialisten einstellen. Vielleicht macht sie es sogar, denn auch für die Armee scheint ja zu gelten: „Man kriegt kein gutes Personal mehr” – wie so­eben durch den Fall eines terroraffinen Oberleutnants eindrucksvoll bestätigt wurde. Das Cyber-Kommando selbst sieht sich jedenfalls auch musikalisch an vorderster Front: „Der Marsch ist geprägt von einem kraftvollen Rhythmus im 6/8-Takt, einer schwungvollen Melodik und einer progressiven [!] Harmonik. So symbolisiert der Charakter des Marsches die Kreativität, die Aufbruchstimmung und den visionären Tatendrang des neuen Kommandos Cyber- und Informationsraum.” Da es sich bei dieser famosen Komposition immerhin um die Repräsentationsmusik eines staatlichen Organs handelt, liegt ihre kritische Analyse sozusagen im öffentlichen Interesse. Dieses soll hier zu seinem Recht kommen.

Zeitloser Zauber der Chromatik

Die Komposition gliedert sich in eine Einleitung, einen A-Teil, einen B-Teil, eine Überleitung zum Trio sowie schließlich ein durch ein dramatisierendes Zwischenspiel à la John Philip Sousa („dogfight“) aufgebrochenes Trio mit Final-Grandioso. Alle Teile sind regulär acht-, sechzehn- oder zweiunddreißigtaktig und beruhen statt auf „progressiver Harmonik” auf altbewährten harmonischen Patterns. Entgegen der Tradition steht das Trio in derselben Tonart (B-Dur) wie der Kopf, der B-Teil dafür auf der Oberquinte (F-Dur).

Sowohl die Einleitung als auch der A-Teil (Buchstaben A, B) fokussieren eine – Donnerwetter! – chromatische Wendung, nämlich eine so genannte Ausweichung zur zweiten Stufe (siehe Noten im Bild).

Ein ganz hübscher Effekt (nach, wie gesagt, den Maßstäben von 1910) ergibt sich in der Einleitung dadurch, dass der chromatische Klang (G-Dur-Septakkord) sehr betont am Ende der ersten Phrase steht (T. 4).

Der A-Teil, eine sechzehntaktige Periode, zielt eigentlich auf einen authentischen Ganzschluss auf der I. Stufe, wird aber beim ersten Durchlauf etwas gewollt zur Dominante umgebogen (und zwar über die in diesem Stück ohnehin arg strapazierte Mollsubdominante), so dass durch die Wiederholung eine 32-taktige Doppelperiode entsteht. Wenn dann endlich der „richtige“ Ganzschluss erscheint, klingt er erstaunlich blass.

Wie im A-Teil, so wird auch im B-Teil (Buchstaben C, D) durch die Wiederholung mit variiertem Ende eine 32-taktige Doppelperiode gebildet. Nicht ganz unoriginell ist die Idee, eine über die „Vermollung“ der Subdominante eingefädelte Kadenz in einen Modulationsgang zur iii. Stufe (a-Moll) übergehen zu lassen. Melodisch allerdings herrscht Leerlauf.

Öde Interludien

Die Trio-Einleitung (Buchstabe E) beginnt mit einer Formel, die an Abgedroschenheit schwerlich überboten werden kann: der sukzessiven Schichtung eines Signalmotivs im Dreiklangsraum. Das Trio-Zwischenspiel (Buchstaben J, K) folgt dem klassischen Dreisprung-Modell: Initialphrase – Sequenzierung – Ausbreitung der Dominante bzw. Entwicklung. Nun kann man dieses an sich simple Muster mit mehr oder weniger Lebendigkeit konkretisieren (höchst aufregende Zwischenspiele finden sich in einigen weniger bekannten Sousa-Märschen). Im vorliegenden Fall haben wir aber zu Beginn lediglich eine Quintfallsequenz (III-vi-II-V) aus dem Baukasten, dann in der Dominantfläche den bemüht-interessanten Einschub einer Molltonika bzw. -subdominante (b-Moll mit Sexte, T. 98) und nur ganz zum Schluss immerhin einen schüchternen kleinen Kanon (T. 100ff.), dem allerdings sofort die Puste ausgeht – ausgehen muss, denn der sechzehnte Takt ist ja schon erreicht.

Das Herzstück eines jeden Marsches ist das Trio-Thema. Hier allerdings denkt man: „Schon mal gehört.“ (War es in einem Hollywood-Kriegsheldenepos aus den 40er-Jahren? Oder doch in einer Reportage über das Berliner Sechstagerennen von 1931?) Ein Hauch des Ungewöhnlichen durchweht immerhin die zweite Phrase, und zwar zum einen dank einer Quasi-Umkehrung der ersten Phrase anstelle ihrer erwartbaren wörtlichen Wiederholung, zum anderen durch die Einbeziehung harmonischer Nebenstufen. Im Übrigen jedoch regiert das Klischee. So vorhersehbar wie der Halbschluss bzw. die Dominantausweichung in der Mitte dieser 32taktigen Periode (T. 116–118; Taktangaben beziehen sich ab hier stets auf den finalen Durchlauf des Themas, da nur dieser online eingesehen werden kann) tritt in Takt 128 die Subdominante ein – eingeführt allerdings über eine Oktavparallele der Außenstimmen: „Melden Sie sich nach Dienstschluss bei mir!“, raunzt der preußische Musikmeister. Auch die Weiterführung über den Quintsextakkord der Doppeldominante in den kadenzierenden Quartsextakkord (T. 129f.) befriedigt vollauf unsere Erwartung. Dass die Auflösung nicht sofort, sondern erst nach harmonischen Zwischenschritten erfolgt: geschenkt – aber auch das gibt’s schon im Pop des späten 19. Jahrhunderts. Die Konventionalität der Harmonik wäre okay – und ich selbst habe mich, die Zentralkapelle Berlin ist Zeugin, oft genug solcher Trivialitäten schuldig gemacht – wenn es auf einer anderen Ebene originelle Attraktionsmomente gäbe – flirrende Holzbläser-Figuren, eine verblüffende Gegenmelodie, Irritationen von Form und Metrum. Aber nein – alles bleibt dem quadratischen Raster und dem Schema Melodie und Begleitung verhaftet. Die dreiklangsbasierte Posaunen-Tenorhorn-Bariton-Linie mag man kaum als Kontrapunkt gelten lassen. Und auch die kecken Fanfarenstöße (Stößchen!) der Trompeten, hinter deren manierierter Lustigkeit freilich ein großdeutscher Wochenschau-Tonfall lauert, können die Sache nicht retten. Der angeklebte Plagalschluss endlich, der ein letztes Mal die Mollsubdominante bemüht, ist von peinlich-banaler Wirkung.

In „Mahler. Eine musikalische Physiognomik“ schreibt Adorno: „Wie später in den Jazz ist wahrscheinlich im neunzehnten Jahrhundert ein gewisser Typus künstlerisch unprätentiöser, aber handwerklich qualifizierter Musiker in die Militärmusik gegangen und hat dort einer kollektiven Unterströmung recht genaue kompositorische Formeln gefunden; das mochte Mahler an ihnen bewundern.“ Seitdem hat sich viel verändert. Nur die Musik ist noch dieselbe.

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