Hauptbild
Hans Werner Henze 1955. Foto: Schott Music / Hans Kenner
Hans Werner Henze 1955. Foto: Schott Music / Hans Kenner
Banner Full-Size

Sechs Saiten für den sechsten Gesang

Untertitel
Die Wiederentdeckung einer verschollenen Gitarrenmusik Hans Werner Henzes
Publikationsdatum
Body

Im Rahmen der Tage der Neuen Gitarrenmusik Trossingen fand im Juni eine besondere Uraufführung statt: Erstmals erklangen Hans Werner Henzes vollständige „musiche per chitarra – accompagnando il ‚Sesto Canto‘ di Ernesto Schnabel“. Über seine Entdeckung dieser Hörspielmusik, die als Henzes ers­tes Gitarrenwerk einen Vorläufer der „Drei Tentos“ aus der „Kammermusik 1958“ darstellt, berichtet der Gitarrist und Komponist Andreas Grün.

„Die Stimmung war oft gedrückt, das Komponieren schwer. Ich selber hatte mir zur Übung und zur Einkehr nach den üppigen Wucherungen der ‚König Hirsch‘-Musik einen sporadischen Zyklus von streng gesetzten Reihenkompositionen verordnet, machte die ‚Drei sinfonischen Etüden‘ (und nebenbei eine Gitarrenmusik für Ernst Schnabels Hörspiel ‚Der sechste Gesang‘).“1 Der beiläufig angehängte Nachsatz machte mich stutzig – eine Hörspielmusik für Gitarre? Ich las Henzes Autobiografie „Reiselieder mit böhmischen Quinten“ als Vorbereitung zu meiner Lehrveranstaltung „Neue Musik für Gitarre“. Von dieser Hörspielmusik wusste ich nichts. Aber es kam noch besser, kurz darauf, wo er über die „Tentos“ aus „Kammermusik 1958“ – nach allgemeiner Anschauung seine frühesten Gitarrensoli – schreibt: „Letztere entstammen eigentlich der schon erwähnten Hörspielmusik zu Ernst Schnabels ‚Sechstem Gesang‘ (aus der ‚Odyssee‘) und wurden teilweise auch schon in ‚Maratona‘ verwendet.“2 Nun wurde ich wirklich neugierig.

Henze und die Gitarre

1951 hatte der junge Henze sein erstes Italienerlebnis – mit weitreichenden Folgen: 1953 verließ er Deutschland endgültig. Dabei ging es ihm aber weniger um La dolce vita; es war für ihn eine Reise in die Vergangenheit, die griechische Antike bestimmte seinen Kurs. Auf der Insel Ischia im Golf von Neapel findet Henze sein neues Domizil, wo er sich und seine Musik neu definieren kann und bis zum Herbst 1955 „König Hirsch“ komponieren wird. Im Orchester dieser Oper taucht ein zartes Instrument auf, die Gitarre. Sie wird Henze von da an sein Leben lang begleiten, obwohl er selbst sie nicht spielt.

Und nach dem „König Hirsch“ also auch eine Hörspielmusik für Gitarre? Ich kontaktierte die Paul-Sacher-Stiftung in Basel, der Henze alle seine Materialien überlassen hatte, und man bestätigte, dass ein Manuskript mit Musik zu „Der sechste Gesang“ vorhanden sei. Was ich dort dann vorfand, waren aber nur Skizzen: acht Seiten Entwürfe, Fragmente, Motive et cetera. Etwas enttäuschend, aber doch: tatsächlich Musik für Gitarre solo! Und dabei sogar etwas, das dem Beginn des ersten „Tento“ aus „Kammermusik 1958“ entsprach.

Da die Reinschrift somit als verschollen angesehen werden musste, wollte ich die Musik wenigstens hören. Der nächste Weg führte also zum SWR nach Baden-Baden, wo die dreiteilige Funkproduktion von 1955 archiviert ist. Dort erlebte ich die nächste Enttäuschung: Im 1. Teil nach der Ansage ein dürftiges Gitarren-Plingpling, dann nur noch Text, 90 Minuten ohne Musik, am Ende ein knappes Nachspiel. Im 2. Teil außer kurzem Vor- und Nachspiel während anderthalb Stunden zwei magere Musikbeiträge. Im 3. Teil nach dem Gitarrenintro im Verlauf von 60 Minuten wenigstens drei musikalische Miniaturen; und als Finale tatsächlich etwas Bekanntes, eine Kurzfassung des dritten „Tento“.

Eine moderne Odyssee

Ernst Schnabels auch als Buch veröffentlichter „Roman für den Rundfunk“ ist eine moderne Odyssee-Version, die davon handelt, wie der Held von Troja als Schiffbrüchiger auf der Insel Scheria strandet, wie er an den Hof des Alkinoos kommt, dort mit den über ihn erzählten Geschichten konfrontiert wird, sich in Nausikaa verliebt und, statt nach Ithaka zurückzukehren, lieber weiter über die Meere fahren würde.

Henze hatte Schnabel 1951 kennengelernt, als dieser gerade Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) geworden war. Daraus entwickelte sich eine langjährige Freundschaft, deren künstlerischer Höhepunkt 1968 „Das Floß der Medusa“ werden sollte. Seit Januar 1955 von der Bürde seiner Intendanz wieder befreit, verbringt der Schriftsteller den Sommer bei seinem Freund auf Ischia und verfasst dort seinen Roman. Mitte August ist „Der sechste Gesang“ beendet, Henze liest das Manuskript und schreibt sofort eine Nachricht:

„Dein buch ist wunderbar. am schluss muss man schlucken. wider erwarten ist es in einem atem und der wird zarter und pfeifender, immer mehr. ich hätte von den einzelheiten, die ich kannte, nicht auf einen solchen bogen gerechnet, aber es ist furchtbar traurig und einsam. es kommen einem die tränen. in jedem augenblick geht es wieder auf eines dieser dinge zu, von denen Dein werk voll ist: was man elegie auf die liebe nennen könnte. aber mein gott, es ist viel grösser und stärker als nur das. […] – ich ziehe den hut und gratuliere Dir von herzen.“3

Zu diesem Zeitpunkt ahnt Henze noch nicht, dass er drei Monate später Musik dazu komponieren wird. Wer diese Idee dann hatte, lässt sich nicht mehr feststellen; weit scheinen die Gespräche darüber aber nicht gediehen zu sein, denn erst Ende Oktober, nach seiner Abreise, erläutert Schnabel sein inzwischen gereiftes Konzept:

„Ich bin in Baden-Baden und habe heute nun mit dem NWDR und dem SWF vereinbart, dass ‚Der sechste Gesang‘ bei beiden Sendern kommt. Beide Seiten sind durchaus einverstanden mit der Idee, dass Du eine Guitarrenmusik dazu schreibst und sie in Neapel fertig produzieren lässt. […] Es würde sich alles in allem um etwa 35 Musikmomente drehen. In den allermeisten Fällen wird es sich wirklich um Momente handeln, um eins–zwei Griffe in die Saiten, um einen Doppelpunkt oder irgendein anderes Satzzeichen, was von einem Kapitel zum anderen führen soll. In etwa fünf Fällen hättest Du die Möglichkeit, Dich etwas ausführlicher zu verbreiten.“4

Auch im Vorwort des Sendemanuskripts geht Schnabel auf die Musik ein: „‚Der sechste Gesang‘ ist kein Hörspiel, sondern ein erster Versuch eines ‚Romans für den Funk‘. […] Die Gitarrenmusik hat keine andere Absicht, als zwischen die einzelnen Kapitel […] Interpunktionszeichen zu setzen.“5 Und dann werden im Verlauf des Textes die von ihm so genannten „Musikalischen Interpunktionen“ an 46 Stellen genau beschrieben, etwa „Ein abschließender, zugleich aber weiterführender Gedankenstrich“, „Ein heller Doppelpunkt“, „Ein kapriziöser Punkt“, „Skurriles Ausrufungszeichen“, „Ein Gedankenstrich, der zitternd Wellen schlägt“ und so weiter. Schnabels Brief vom Oktober wirft freilich eine weitere Frage auf: Die Musik sollte, wie man liest, in Italien aufgenommen werden. – Von wem?

Der neapolitanische Prinz

Am 12. Mai 1955 hatte Henze Ingeborg Bachmann über ein ihn aufwühlendes Erlebnis berichtet: „vor drei wochen bin ich dem echten neapolitanischen prinzen begegnet, der echter ist, als es sich meine phantasie je auszudenken erlaubt hat. wie kann ich’s Dir sagen? […] ich habe noch nie so etwas gesehen. zudem wollte es das schicksal, dass er eine aussergewöhnliche musikalische begabung hat, das heißt mehr als das, in ihm offenbart sich die musik, als wäre er selbst teil von ihr. sie sagten, er sei Orpheus.“ 6 Der „Prinz“ ist der damals 18-jährige, sich auf der Gitarre begleitende neapolitanische Sänger Fausto Cigliano, der Mitte der 1950er-Jahren populär wurde und bis heute in Italien einigen Ruhm genießt.

Henze sucht die Nähe seines Orpheus und trachtet wenigstens künstlerisch nach einer Liaison. Petrarca-Lieder werden angedacht, aber nie realisiert. Dann kommt die Idee auf, die Musik zum „Sechsten Gesang“ für Cigliano zu komponieren und von ihm einspielen zu lassen. Für den SDR verfasst er noch einen Essay: „Die Canzonen von Neapel, unverfälscht gesungen von dem neapolitanischen Volkssänger Fausto Cigliano in einem Bericht des deutschen Komponisten Hans Werner Henze“ – ein Anlass, um Mitte Dezember zusammen nach Stuttgart zu fahren.Als der SWF-Hörspiel-Leiter Gert Westphal vom SDR-Radioessay-Chefredakteur Alfred Andersch erfährt, dass Henze mit seinem italienischen Musiker gerade während der Textaufnahmen für den „Sechsten Gesang“ in Stuttgart sein wird, lädt er beide kurzerhand nach Baden-Baden ein, um die Hörspielmusik statt in Neapel im eigenen Studio einspielen zu lassen. Die Terminabstimmung gelingt. Allerdings zeigt sich ein gravierendes Problem: Cigliano kann überhaupt keine Noten lesen. Man findet Ersatz in einem Gitarristen, der gerade im Frühjahr erst durch die Uraufführung von Boulez’ „Le marteau sans maître“ auf sich aufmerksam gemacht hat. Am 11. Dezember 1955 spielt Anton Stingl in Baden-Baden Henzes erste Gitarrensoli ein.

Warum die Aufnahmen dann größtenteils nicht verwendet wurden und in der archivierten Hörspielfassung kaum zu hören sind, wer sie wann aussortiert hat, lässt sich nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Alle Indizien zusammengenommen muss man jedoch davon ausgehen, dass die begrenzten Sendezeiten während der Produktion ernsthafte Schwierigkeiten bereiteten. Schnabel, vor die Wahl gestellt, entweder Text zu opfern oder Musik, entschied sich wohl für Letzteres.

Aphoristische Miniaturen

Aber was war das nun für eine Musik? – Mir kam die Idee, Stingls Sohn zu fragen, ob sich im Nachlass vielleicht Noten des „Sechsten Gesangs“ finden ließen. Und tatsächlich: Henze hatte seine Handschrift nach der Einspielung dem Gitarristen geschenkt! – Kurz darauf hielt ich eine Kopie in Händen: „musiche per chitarra / accompagnando il SESTO CANTO di Ernesto Schnabel“. Wie vom Schriftsteller vorgesehen: exakt 46 Nummern, Vor- und Nachspiele für die drei Teile, dazwischen aphoristische Miniaturen – 17 Seiten Notentext. Darunter wirklich Vorformen zu den „Tentos“, deren Weg sich nun vom „Sechsten Gesang“ über die „Fünf neapolitanischen Lieder“ und „Maratona“ bis zu „Kammermusik 1958“ verfolgen lässt.

Henzes Bemühung, in „König Hirsch“ etwas in der Art einer neapolitani­schen Kanzone zu schreiben, „das weder künstlich noch kunstvoll klingt, […] nur von wenigen gezupften Gitarrentönen begleitet, die den Bereich der leeren Saiten kaum verlassen sollen,“ 7 ist auch in diesen seinen ersten Gitarrensoli überall spürbar, immer wieder findet man neben kantablen Linien den Leersaitenakkord. Auch andere Klänge und Motive tauchen wiederholt auf und schaffen über das rein Funktionale hinaus subtile musikalische Zusammenhänge – für einen Zuhörer durch die epische Dimension des Textes freilich kaum wahrnehmbar.

Womit wir die vorläufig letzte Etappe der Geschichte erreichen. Die Frage, ob und wie Henzes Gitarrenerstling im ursprünglich intendierten Kontext tatsächlich wirkt und trägt, war nur zu beantworten durch eine erneute Realisierung des Hörspiels. Eine Mammutaufgabe, für die ich das O-TON ensemble wort der Musikhochschule gewinnen konnte. Unter der Regie von Elisabeth Gutjahr präsentierten 16 Akteure in einer halbszenischen Lesung die über fünfstündige Rundfunkfassung von Schnabels Odyssee-Version bei den Trossinger Tagen der Neuen Gitarrenmusik. Das Objekt meiner zunächst historischen Neugier nahm klingende Gestalt an und hat sich am Ende tatsächlich als lebensfähig erwiesen.

Obwohl die sparsamen Gitarrenstücke nur als Schwarzblenden zwischen oft breit ausgeführten Szenen dienen, gelang es Henze doch, mit seinen „Interpunktionen“ eine bedeutungsvolle, aussagekräftige Schicht im Gesamtwerk zu schaffen. In ihrer kontemplativen Grundhaltung werfen sie ein zusätzliches Licht auf das Geschehen, auch indem sie oft genug unmittelbar an den Text anknüpfen, statt nur Interpunktionen zu sein. Immer wieder greifen Henzes Motive echoartig die letzten Worte auf oder beziehen sich lautmalerisch auf die Handlung. Auch in seinen Hörspielminiaturen zeigt Henze seine Qualitäten als Komponist der Bühne.

Anmerkungen:

1    Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt am Main 1996, S. 168.
2     Reiselieder, S. 194.
3     Deutsches Literaturarchiv Marbach.
4     Historisches Archiv des SWR Baden-Baden.
5     Ernst Schnabel: Der sechste Gesang. Roman für den Funk. 1955, Typoskript, Archiv­exemplar des SWR.
6     Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze; Hans Höller (Hrsg.):  Briefe einer Freundschaft. München 2004, S. 52–53.
7    Hans Werner Henze: Über ‚Re Cervo‘ (‚König Hirsch‘). 1956. In Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984. München 1984, S. 35–36.

Autor und Verlag danken Corinna Schnabel, Bettina Rogosky, dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Historischen Archiv des SWR und der Hans Werner Henze Stiftung für die Abdruckgenehmigungen aus der Korrespondenz Schnabel–Henze.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!