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Störung statt Bekenntnis

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Uraufführungen 2020/10
Publikationsdatum
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Fanatische Hassprediger und prophetische Heilsbringer, drachenartige Reptilienmenschen, satanische Geheimzirkel und rituelle Kindsmorde, dazu unumschränkte Gewaltherrscher, Blutsauger und Sklavenhändler, geknebelte Völker, Armut, Elend, Hunger, Feuersbrünste, Naturkatastrophen… und eine todbringende Seuche! Nimmt unsere Zeitmaschine gerade Kurs auf das finstere Mittelalter oder geradewegs in die Apokalypse?

Aktuelle Meldungen berichten von Verschwörungsmythen, Indoktrinationen, Unterdrückungen, Religions- und Rassenkämpfen, Diktatoren, Giftmorden, Kriegen und säbelrasselnden Flottenverbänden. Es ist eine Hexenküche aus Fakten und Lügen, berechtigten realen Sorgen und gezielter Desinformation. Als Einheizer wirken – mal wieder – die Sozialen Medien. Denn wer im grenzenlosen World Wide Web surft, erhält hochpersonalisiert auf das eigene Such-, Sucht-, Denk- und Streamingverhalten zugeschnittene Informationen. Wie soll man sich da ein wirklichkeitsgetreues Bild der Lage verschaffen? Zumal manipulative Trolle, Bots, Fake News, gekaufte Klickzahlen und Likes die Situation zusätzlich vernebeln. Wir brauchen einen neuen Ausgang des Menschen aus seinen fremd- und selbstverschuldeten Filterblasen.

Nach mühsam errungenen Menschen- und Freiheitsrechten, Mitbestimmung, Gleichheit und Teilhabe scheint die demokratische Grundordnung gegenwärtig immer mehr Schreihälsen immer weniger wert zu sein. Die Frage ist nur, ob dieser Umstand ein Symptome der Aushöhlung ist oder im Gegenteil ein Anzeichen einer Hochzeit der Demokratie? Im seinem soeben erschienenen Buch „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern“ schreibt Botho Strauß: „Demokratie wird nicht ge­stärkt durch präsidiale Ermahnungen, man möge sich zu ihr bekennen und sie gegen ihre Feinde verteidigen. Die Demokratie stärkt allein ihre Anfechtung. Sie ist das bestmögliche System zur Überwindung ihrer Infragestellung. Ihrem elementaren Funktionieren sind Störung und Gefährdung zuträglicher als Bestätigung und Bekenntnisproklamationen.“ Der streitbare Dichter zielt nicht auf staatstragende Bekräftigung, Bestandssicherung und Massenunterhaltung, sondern auf Verunsicherung, Reibung, Prüfung – ganz so wie die zeitgenössische Musik.

Die Donaueschinger Musiktage versprechen im 99. Jahr ihres Bestehens vom 16. bis 18. Oktober einige utopische und dystopische Denkanstöße, zumindest wenn man manchen Werktiteln glaubt. Uraufgeführt werden Oliver Schnellers „The New City“, Lula Romeros „displaced“, Tansy Davies’ „The Rule is Love“, Jason Yardes „The Problem with Humans“, Marco Nikodijevics „K-Hole / Schwarzer Horizont“ und von Sergej Maingardt und Jens Standke die vielleicht Augen und Ohren öffnende immersive audio-visuelle Skulptur „Blindfolded“ für VR-Brille, Kopfhörer und Lautsprecher. Weitere Novitäten stammen von Michael Wertmüller, Klaus Lang, Cathy Milliken, Wojtek Blecharz, George Lewis, Laure M. Hiendl, Matana Roberts, Malte Giesen, Artur Zagajewski, Sasha Blondeau, Nigel Osborne, James Clark, Carola Bauckholt, Gerald Barry, Peter Ablinger, Alexej Sioumak, Mica Levi, Alexander Retinsky, Christian Skjødt, Jan Jelinek und Mike Cooper. Neben bekannten Namen sind auch einige von außerhalb des europäisch-nordamerikanischen Horizonts vertreten. Mögen sie die Demokratie durch Anfechtung stärken!

Weitere Uraufführungen:

09.10.: Philipp Maintz, Konzert für Orgel und großes Orchester, Steirischer Herbst Graz
11.10.: Alberto Posadas, Poetica del camino, WDR Köln
15.10.: Beat Furrer, Konzert für Violine und Kammerorchester, Prinzregententheater München
24.10.: Liisa Hirsch, Enno Poppe, neue Werke für Ensemble Musikfabrik, Fes­tival Afekt Tallin
28.10.: Christina C. Messner, ohn warum – re!quiem.20, Kunst-Station Sankt Peter Köln
30.10.: Elnaz Seyedi, neues Ensemblewerk, NOW!-Festival Essen
31.10.: Alan Hilario „Bevölkern Sie Ihre ganz eigene kleine Welt!“, Video-Textoper für Ensemble Aventure und Zuspielband, Schlossbergsaal des SWR Freiburg

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