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Da stand noch keine rote Fahne neben dem Dirigentenpult: Hans Werner Henze leitet eine Probe seines Oratoriums „Das Floß der Medusa“ in Halle B der Hamburger „Planten un Blomen“. Foto: NDR/Hans-Ernst Müller
Da stand noch keine rote Fahne neben dem Dirigentenpult: Hans Werner Henze leitet eine Probe seines Oratoriums „Das Floß der Medusa“ in Halle B der Hamburger „Planten un Blomen“. Foto: NDR/Hans-Ernst Müller
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Untergegangen in den APO-Wogen ?

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Der Skandal um das Oratorium „Das Floß der Medusa“ im Rückblick
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Ernst Schnabel, ein alter Freund Hans Werner Henzes, hatte den Text zum Oratorium „Das Floß der Medusa“ gerade fertiggestellt, als am 10. Oktober 1967 die Nachricht von der Ermordung Ernesto „Ché“ Guevaras eintraf. Dieser argentinische Arzt und Guerillero hatte gegen die Unterdrückung der Dritten Welt gekämpft – ebenso wie Jean-Charles, die Hauptfigur des Oratoriums. So beschlossen Schnabel und Henze, ihr Stück, ein Auftragswerk des NDR, zu einer Trauerallegorie für Ché Guevara zu machen.

Dieser Freiheitskämpfer wurde zum Idol der Studentenbewegung, der Henze im Sommer 1967 in den USA begegnet war. In der Unterstützung dieser Bewegung sah er einen Weg, seinem persönlichen Faschismustrauma zu entkommen. Henze, der zugleich die gesellschaftliche Isolierung der Neuen Musik überwinden wollte, las sofort die Schriften und Tagebücher Ché Guevaras. Schockiert durch die Ermordung Benno Ohnesorgs durch einen Berliner Polizisten reiste er im Herbst nach West-Berlin und traf dort bei Hans Magnus Enzensberger führende Köpfe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), darunter Gastón Salvatore und Rudi Dutschke. Wie sie stellte er die Welt der Väter in Frage und strebte eine repressionsfreie Gesellschaft an. In jenem Herbst schrieb Henze in einem Aufsatz, Musik könne unter den bestehenden Verhältnissen nur noch Verneinung sein. Notwendig sei die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über die Menschen: die Weltrevolution.

Der damals 41-jährige Komponist solidarisierte sich mit den Berliner Studenten. Er half ihnen bei der Organisation eines Vietnam-Kongresses und nahm am 18. Februar 1968 mit Luigi Nono an einer Vietnam-Demonstration teil. Als Dutschke kurz darauf angeschossen wurde, kam er sofort nach Berlin und nahm den Schwerverletzten bei sich auf. Henzes Kontakte zur Studentenbewegung wurden kritisch kommentiert. Es kam sogar zu einer Pressekampagne, als die Hamburger Uraufführung des Oratoriums „Das Floß der Medusa“ angekündigt wurde. Besonders boshaft fiel ein von Konrad Boehmer angeregter „Spiegel“-Artikel aus, der das Ché Guevara gewidmete Werk als „musikalisch konterrevolutionär“ bezeichnete. Anders als Nono und Boulez sei Henze ein Epigone. „Das ist Henzes große Revolution: Sie reproduziert das bourgeoise Musikideal.“ Unter Verweis auf das hohe Auftragshonorar von 80.000 D-Mark schrieb „Die Zeit“: „Unser Respekt vor Pfiffiküssen, die die kapitalistische Kuh erst richtig melken, ehe sie sie schlachten, hält sich in Grenzen.“

Auch einige Hamburger Musikstudenten lasen diese Polemiken und waren verunsichert. Wolfgang Florey heute: „Wir waren aufgestachelt.“ Als Hamburger Cellostudent hatte er sich schon geärgert, als die Leitung der Musikhochschule anlässlich einer Aufführung der frühen Henze-Oper „Das Wundertheater“ Honorarforderungen der Mitwirkenden schlicht überging. Nun wunderte er sich, dass ein so wohlhabender Komponist die Weltrevolution forderte: „Er galt als Salonlinker, obwohl man kaum etwas von ihm kannte.“ Zusammen mit anderen Musikstudenten wie Niels Frédéric Hoffmann organisierte Florey deshalb eine Diskussion mit dem Komponisten. Diese gut besuchte Debatte in einem Hamburger Studentenwohnheim, an der auch Hochschuldirektor Wilhelm Maler und Chordirektor Helmut Franz teilnahmen, empfand Henze als aggressiv und hämisch. Von den Berliner Studenten war er einen anderen Ton gewohnt. Glücklicherweise gelang es Günter Amendt und Gastón Salvatore vom Berliner SDS, die kurz vor der Aufführung anreisten, die Hamburger Studenten umzustimmen. Sie ließen sich von der Glaubwürdigkeit von Henzes politischem Engagement überzeugen und beschlossen, das Konzert am 6. Dezember 1968 zu unterstützen. Ihre angeblich geplanten Störmanöver, von denen der „Spiegel“ später berichtete, entfielen damit.

Noch am Tag der Uraufführung formulierten sie als Hamburger „Arbeitskreis sozialistischer Musikstudenten“ ein Flugblatt. Darin verteidigten sie den Komponisten gegen die Angriffe der Presse, forderten für die Zukunft allerdings andere Modelle der Musikausübung. Nicht zuletzt sollten künftige Konzerte vor Arbeitern stattfinden, nicht vor der Bourgeoisie. Dieses Flugblatt wurde vor dem Konzert in der Halle B von „Planten un Blomen“ verteilt. Niels F. Hoffmann erinnert sich: „Ich trug dabei einen dunkelblauen Anzug.“ Verteilt wurde auch ein weiteres Flugblatt „In Sachen Henze“ der Berliner SDS-Projektgruppe „Kultur und Revolution“, das ebenso um Verständnis für den Komponisten warb.

Steine des Anstoßes waren aber nicht die Flugblätter, sondern ein Plakat mit dem Bild Ché Guevaras sowie je eine rote und schwarze Fahne vor dem Dirigentenpult. Wer sie dort angebracht hat, bleibt bis heute ein Rätsel. Die Studenten der Hamburger Musikhochschule und der Berliner SDS hatten nichts Entsprechendes vorbereitet. Als diese Symbole aber vor dem Podium hingen, waren weder die Studenten noch der Komponist zum Wegnehmen bereit. Henze: „Ich wurde vom Justiziar des Rundfunks aufgefordert, die Fahne entfernen zu lassen, sonst wäre ich für die Konsequenzen verantwortlich. Da sagte ich, ich pfeife auf die Konsequenzen, weil ich mir eine solche Nötigung nicht bieten lassen wollte.“ Widerstand kam allerdings von Mitgliedern des RIAS-Kammerchores, welche die Entfernung der roten Fahne forderten. Henze lehnte dies weiterhin ab, was die Studenten unterstützten. Sie hätten Henze die Wegnahme der Fahne verübelt, hätte dies doch sein Image als Salonlinker bestätigt.

Als schließlich der stellvertretende Intendant des NDR selbst die Fahne entfernte, entstand ein Tumult. Daraufhin stürzten etwa 25 Polizisten, die in einem Nebenraum gewartet hatten, in voller Montur, mit Schutzhelmen und Knüppeln, in den vollbesetzten Saal, was das schockierte Publikum mit einem Aufschrei beantwortete. Rufe von Niels F. Hoffmann („Lasst die Leute in Ruhe!“) und Henze („Die Polizei verhindert bewusst die Diskussion“) blieben ohne Wirkung. Die Uniformierten brachten mit brutaler Gewalt angebliche Gewalttäter, darunter den Autor Ernst Schnabel, aus dem Saal. Dabei zersplitterte eine Glastür. Als Reaktion erhob sich im Saal der Ruf „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“, von Henze mitdirigiert. Tatsächlich bildet der Rhythmus dieser Parole, die er von Vietnam-Demonstrationen kannte, den Schluss seines Werkes. Die Uraufführung fand aber nicht mehr statt. So strahlte der NDR anstelle der Live-Übertragung den Mitschnitt der Generalprobe aus.

Das „Hamburger Abendblatt“ berichtete später schadenfroh, Henzes „Floß der Medusa“ sei in den APO-Wogen untergegangen, der Komponist habe den Skandal selbst inszeniert. Während Rudolf Augstein den RIAS-Kammerchor zum Helden der Veranstaltung machte, ist er für Wolfgang Florey verantwortlich für ihr Scheitern. Der Skandal, so Niels F. Hoffmann, wirkt im Rückblick wie eine Verschwörung gegen Henze und die Studentenbewegung, ohne dass man den Schuldigen genau benennen kann. Übereinstimmend wird der Polizeieinsatz als ungerechtfertigt und maßlos verurteilt. Für die Londoner „Financial Times“ war er „etwas Schreckliches“, was das ganze Deutschland-Bild trübte.

Obwohl Prominente wie Enzensberger, Dutschke und Nono sofort für Henze Partei ergriffen, hat der Skandal dem Komponisten enorm geschadet. War er bis dahin viel gespielt worden, so wurde er nun geschnitten, vor allem von den Rundfunkanstalten. Eine Wende in der Henze-Rezeption trat erst 1976 ein mit der Londoner Premiere seiner Oper „We come to the River“. Der Komponist wollte später nur ungern an den „Medusa“-Skandal erinnert werden, jedoch hat er sich von den 1968 vorgetragenen Ideen nicht abgewandt. Gemeinsam mit damaligen Studenten suchte Henze weiter nach alternativen Konzertformen und -inhalten. So entstand 1973 zusammen mit Dietrich Boeckle, Niels F. Hoffmann, Thomas Jahn, Luca Lombardi und Wilfried Steinbrenner als Kollektivkomposition die szenische Kantate „Streik bei Mannesmann“. An einem weiteren Gemeinschaftswerk, der Anti-Smog-Oper „Der heiße Ofen“, war er 1975 mit Niels F. Hoffmann, Wolfgang Florey und Thomas Jahn beteiligt. Die Beteiligten schwärmen heute noch von Henzes unkompliziertem Entgegenkommen bei der Zusammenarbeit. Die Thematik seines „Floß der Medusa“, die Unterstützung der Befreiungsbewegungen, griff der Komponist 1974 in seinem Liedzyklus „Voices“ auf, einem seiner besten Werke, dessen stilistische Vielfalt viele jüngere Kollegen heute als Vorbild betrachten.

Den 1968 geforderten neuen Modellen der Musikausübung entsprach auch die 1976 von Henze gegründete Musikwerkstatt in Montepulciano. Die Gruppe „Hinz und Kunst“, zu der u.a. Wolfgang Florey und Thomas Jahn gehörten, trat hier regelmäßig auf. Henze schrieb für sie das Quintett „Amicizia!“ und das imaginäre Theater „El Rey de Harlem“. Auf einen Vorschlag Floreys ging ein Gastspiel in der steiermärkischen Industriestadt Mürzzuschlag zurück. Die intellektuelle Studentenbewegung hatte immer den Kontakt zu Arbeitern erträumt. In der „Mürztaler Musikwerkstatt“, einer österreichischen Variante von Montepulciano, kam es tatsächlich zu solchen Kontakten. Hans Werner Henze, der die Ideen der 1968er ausdauernd und mit Feuereifer weiterführte, wurde für Wolfgang Florey und Niels F. Hoffmann zum Freund. Sie besuchten ihn mehrfach in seinem Haus in Marino und waren auch im Herbst 2012 beim Begräbnis anwesend. Die große Freundlichkeit und Offenheit des verstorbenen Freundes bleibt ihnen bis heute lebhaft in Erinnerung.

In der Amtszeit Klaus von Dohnanyis als Erster Bürgermeister hatte Henze 1983 den Bach-Preis der Hansestadt Hamburg erhalten – eine gewisse Wiedergutmachung für das, was er 15 Jahre zuvor hier erlitten hatte. Aber erst 2001 kam sein „Floß der Medusa“ endlich in Hamburg zur ungestörten Aufführung. Zuletzt war das Werk am 17. November 2017 in der Elbphilharmonie zu erleben. Seine Thematik, der dramatische Überlebenskampf Schiffbrüchiger, hat inzwischen an Aktualität sogar noch gewonnen.

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