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Tief verinnerlichte, fast stoische Ruhe: Christopher Robson als Museumswärter Orpheus. Foto: Roy Hessing
Tief verinnerlichte, fast stoische Ruhe: Christopher Robson als Museumswärter Orpheus. Foto: Roy Hessing
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Vielfältig verschränktes Erinnerungstheater

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„Styx – Orfeo’s past Now“ als grenzüberschreitendes Kunsterlebnis in München
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Ende November 2014. Eine Vorstellung des Musiktheaters „Styx – Orfeo’s past Now“ im Lichthof des Museums für Abgüsse klassischer Bildwerke in München in der Nähe des Königsplatzes. Man spürt auf Anhieb das Raumbewusstsein der Regisseurin Martina Veh als ausgebildete Architektin. Der Blick der Zuschauer wandert von der Galerie tief hinunter auf das Geschehen im Orkus zu den zu Gipsabgüssen mutierten Protagonisten, während noch vor der Vorstellung Museumsarbeiter mit Reinigungsarbeiten beschäftigt sind und die Hauptfigur Orpheus alias Museumswärter mit einem Pinsel liebevoll ein Gipsrelief erstellt.

Der Kern der Handlung, der Inszenierung und der Musik ist eine miteinander verschränkte Vielfalt von Grenzüberschreitungen: zwischen Innenwelt und Außenwelt, Gegenwart und Vergangenheit, Wirklichkeit und Erinnerung, Dehnung oder Infragestellung der zeitlichen Räume, unterstützt durch die Gipsabdrücke und besonders durch das Medium Video. Dieses steht für die mehrfache Abbildung der nur einmal in der Unterwelt real auftretenden und der sonst dem immer hoffnungsloser verwirrten Orpheus als in wahnhaft wechselnden Scheinbildern vorgegaukelten Eurydike. Die Handlung bewegt sich zwischen Leben und Tod, einzig getrennt durch den Fluss Styx als der letzten göttergegebenen Grenze. Sie oszilliert zwischen der klassischen Geschichte des Orpheus und dem heutigen Geschehen in einem Museum.

Der Countertenor Christopher Robson, einer der bedeutendsten lebenden Vertreter seines Fachs, der mit seinem Debüt vor über 30 Jahren gerade mit Monteverdis „L’Orfeo“ in der English National Opera eine steile internationale Karriere einleitete, hatte in der jetzigen Produktion „Styx – Orfeo’s past Now“ einen seiner letzten Gesangsauftritte. Er schlüpfte zugleich in die Rolle des alternden Selbstprotagonisten, der bei seiner Identifikation mit der Orpheus-Figur zugleich auch eine nostalgisch wehmütige Rückschau in seine eigene bewegte Achterbahnfahrt durch sein Leben hält. Die dritte wichtige Figur neben Orpheus und Eurydike ist Caronte, im griechischen Mythos der düstere Fährmann, der die Toten über den Totenfluss Styx setzt, damit sie ins Reich des Totengottes Hades gelangen können. Hier ist er die Museums-Reinigungskraft, die sich von Orpheus alias Christopher Robson dazu überreden lässt, ihn über den Grenzfluss Styx zu bringen. Als er dort einschläft, wird für Orpheus in der Unterwelt, der irrealen Scheinwelt des Museums, die Begegnung mit der Vergangenheit möglich, bis er allerdings, wegen der Übertretung des Verbots sich umzudrehen, seine Eurydike für immer verliert.

Von dieser vielfältigen Art von Grenzüberschreitungen ist auch die musikalische Konzeption des Komponisten Alexander Strauch gekennzeichnet. Dessen musikalisch-szenische Grundlage orientiert sich am Kern von Monteverdis „L’Orfeo“ aus dem Jahr 1607. Das Weglassen von dessen Basso-Continuo-Linie als Fundament für Monteverdis Harmonik ermöglichte es dem Komponisten, dem verwendeten Orpheus-Melos eine eigene Harmonik hinzuzufügen. Auch das Instrumentarium fungiert als Brücke zwischen gestern und heute: Zink, Theorbe, Cembalo und Orgel, teilweise in alter mitteltöniger Stimmung, verbinden sich mit E-Gambe und dem Viertelton-Syntheziser, was der Musik eine kristallin durchdringende, aber gleichmäßig verhaltene Schönheit und einen meditativen Charakter verleiht. Am Beginn des letzten Drittels, nachdem Orpheus endlich in der Unterwelt seiner Frau begegnet ist, erklingt überraschend Monteverdis vom Chor der Geister kommentiertes Madrigal „Ohimé il bel viso“.

Die Aufführung lebte von der bis zum Grund meditativ durchdachten und alle Möglichkeiten bis ins Letzte auslotenden Inszenierung von Martina Veh, knapp und präzise, ohne jedwelche Überladungen und durchgehend beherrscht von einer tief verinnerlichten, fast stoischen Ruhe. Die vom selben Geist getragene, beseelte und intelligent durchdachte Musik und die Regie wirkten wie ein ergänzungsreiches Duo, ein hochkünstlerisches Zwillingspaar.

Die beiden Videokünstler von „fettFilm“, Momme Hinrichs und Torge Møller, brachten mit ihren exzellenten Video-Installationen immer wieder die thematisch passenden Vorstellungen ins Bild und vollendeten damit die vielfachen Grenzüberschreitungen zu einem Gesamtkunstwerk.

Der weit mehr als nur routinierte, souveräne Meister der Bühnenkunst Christopher Robson glänzte auch hier mit seiner legendären Intensität des Ausdrucks und einem immer noch praktisch unverminderten Stimmumfang. Die 1990 in München geborene Mezzosopranistin Florence Losseau als Eurydike mit schöner, kraftvoller Stimme zeigte eine für ihren blutjungen Status frappierende, von Selbstbewusstsein getragene Eigenständigkeit in der musikalisch-stimmlichen Gestaltung ihrer Rolle. Und schließlich wirkte als Caronte der aus Athen stammende Bariton Marios Sarantidis, ein Vollblutbühnenmensch und geborener Schauspieler, als völlig adäquater Gesangspartner an der Seite des großen Meisters Robson. Auf Barockinstrumenten wurde die Musik vom „United Continuo Ensemble“ unter der Leitung von Nicholas Kok mit eindrucksvoller Souveränität umgesetzt.
 

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