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Von der Stille zur Musik

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48. Internationales Festival für Neue Musik „Warschauer Herbst“ ·
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Nachdem der letztjährige Warschauer Herbst ein eklektisches, aber interessantes und repräsentatives Repertoire präsentiert hatte, schlug Festivaldirektor Tadeusz Wielecki dem Publikum diesmal ein attraktives, kohärentes und dazu modisches Musikprogramm vor. Der Osten – näher und ferner – kann ein Topthema nicht nur in der Ökonomie der Weltmärkte, sondern auch in der Kultur sein. Es ist ja nichts Neues, dass Europäer diese andere Welt mit ihren Wertehierarchien und Gesellschaftsregeln, mit ihrer vieldimensionalen Philosophie und ihren geheimnisvollen Religionen fasziniert.

Vor diesem Hintergrund wurde in Warschau Musik von Qigang Chen, Xiaoyong Chen, Xiaosong Qu und Xu Yi aus China, von den in Süd-Korea geborenen Isang Yun, Younghi Pagh-Paan und Unsuk Chin sowie von japanischen Komponisten wie Toru Takemistu, Joji Yuasa, Isao Matsushita, Kazuhiko Suzuki und schließlich Toshio Hosokawa präsentiert. Diese ganz eigene Musikwelt, mit Stille zwischen den Klängen, breitem emotionalem Atem, Einzeltönen, Klangfarben-Bordunen, um die ganze Stücke oft gebildet sind – all das macht großen Eindruck.

Toshio Hosokawa bildet in seinen Werken eine Metapher, in der die Solisten Spiegelbilder von Menschen sind, während das Orchester den Kosmos repräsentiert. Die Verbindung zwischen Individuum und Natur kann man etwa in „Voyage IV – Extasis“ für Akkordeon und Ensemble oder in „Re-turning. ‚In Memory of Kunio Tsuji‘“ für Harfe und Orchester beobachten. In „Utsurohi-Nagi“ für shô und Streichorchester mit Harfe, Celesta und Schlagzeug stellt der Komponist die chinesische Konzeption von Geist – „ch’i“ – vor.

Das altchinesische Instrument Shô ist für Hosokawa ein besonderes Medium: der Ton entsteht sowohl bei der Ein-, als auch bei der Ausatmung – eine Illustration des Ur-Prozesses von Leben und Tod („Cloudscapes – Moon Night“ für Shô und Akkordeon). Die Interpreten – Teodoro Anzelotti (Akkordeon), Mayumi Miyata (Shô), Naoko Yoshino (Harfe), das Polnisch-Deutsche Ensemble unter Rüdiger Bohn sowie das Symphonieorchester der Nationalen Philharmonie unter Antoni Wit und Takuo Yuasa – haben einen großartigen Beitrag zur Entdeckung von Hosokawas Musik in Polen geleistet.

Die Musik aus Ostasien blieb noch lange Zeit in Köpfen der Zuhörer, die nicht nur zur alten Garde des Festivalpublikums gehörten, sondern zu einer neuen Gruppe junger Leute, die keine musikalische Ausbildung besitzen und trotzdem gerne den Warschauer Herbst besuchen. Problematisch dagegen die Musik der polnischen Nachbarn: von den Komponisten aus der Ukraine, Weißrussland aber auch aus Russland hörte man in Warschau entweder eine rückwärtsgewandte, eklektische Musik oder die Sprache der Zweiten Avantgarde, aber in epigonischem Sinn – „Wie ist es möglich“ von Marina Wojnowa, „Woman and Birds“ von Edison Denisow oder langweilige „Moje – jej“ von Eugeniusz Poplawski, oder postmodernistische, humorvolle Spiele, minimalistisch in ihrer kompositorischen Mitteln und leider sehr oft zu ermüdend – „vnik-ton experience“ von Wladimir Nikolajew oder „Get Out!!!“ von Nikolaj Korndorf. Nur das Können des Moscow Contemporary Music Ensemble und der Seattle Chamber Players retteten die Konzerte.

Erstaunlich frisch und einfach schön klang die Musik, die man schon zur Klassik des 20. Jahrundert zählen kann. Die „Amériques“ von Edgar Varèse und die „Notations I–IV, VII“ von Pierre Boulez wurden durch das Nationale Rundfunksymphonieorchester unter Christopher Lyndon-Gee, „Répons“ von Boulez zum ersten Mal in Polen aufgeführt. Die Solisten des Court-Circuit Ensembles und die Musiker des Orchesters der Neuen Musik aus Kattowitz unter François-Xavier Roth spielten dieses schwierige Werk in einer großen Sporthalle mit grandiosem Verständnis.

Gemeinsam mit dem Deutschen Musikrat iniziierten die Organisatoren eine polnische Premiere von „Landschaft mit entfernten Verwandten“, einer Oper von Heiner Goebbels. Ein bedeutendes Ereignis auf der polnischen Bühne. Dazu noch die Musiker aus Ensemble Modern! Einfach fantastisch.

Es gab in diesem Jahr auch Enttäuschungen. „Requiem für Larissa“ von Walentin Silvestrow ist ein Werk, das zu persönlich ist, dass die richtige Kritik dazu geschrieben werden könnte. Der Komponist schuf das „Requiem“ nach dem Tod seiner Frau. Etwas anderes ist es mit „Fall and Resurrection“ von John Tavener, das während des Finalkonzertes aufgeführt wurde. Das aufgeblasene, pompöse, aggressive, freche und musikalisch leere Werk sollte den Organisatoren eine Warnung sein, in ihrer Planung genug Vorsicht walten zu lassen. „Anfangs oppositioneller Unruheherd und Demonstrationsort einer neuen polnischen Musik, ist der Warschauer Herbst unter Argwohn und Skepsis, offizieller Ablehnung und vielleicht auch stillem Neid östlicher Beobachter zu zentraler Bedeutung herangewachsen. Er wurde zum wichtigsten und lebendigsten Umschlagplatz für Musikstücke, Kontakte und Informationen in einer geteilten Welt.“ Dieser Kommentar von Ulrich Dibelius („Moderne Musik nach 1945“, München 1998) ist aufgrund einer veränderten politischen, aber auch ästhetischen Situation nicht mehr aktuell. Dennoch verliert heute das Festival seine Ur-Funktion nicht. Der Warschauer Herbst ist immer noch der einzige Platz in Osteuropa, wo neue musikalische Ideen aus der ganzen Welt präsentiert werden.

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