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Mit schwingender Luft gefüllter und modellierter Raum: Klangkunst-Flaneure im Wasserwerk. Foto: Alexander Paul Englert
Mit schwingender Luft gefüllter und modellierter Raum: Klangkunst-Flaneure im Wasserwerk. Foto: Alexander Paul Englert
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Wahrnehmungsaufgaben für den Raumhörer

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Johannes S. Sistermanns’ Klangkunst-Installation „Der gefilterte Raum“ im Jugendstil-Wasserwerk Hattersheim
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Zum Glück gibt es Mietfahrräder. Die Wasserwerkchaussee in Hattersheim, am Südhang des Taunus zwischen Frankfurt und Wiesbaden, ist mit Basalt gepflastert, für Autos gesperrt und kilometerlang. Wer an ihrem Ende, nach einem Weg durch Wasser- und Naturschutzgebiet, durch Laubwald, zwischen langen Zäunen, Brombeer- und anderem Gesträuch im Alten Wasserwerk angekommen ist, hat sich den Eindruck erarbeitet, in einer anderen Welt zu sein. Nur der regionaltypische Verkehrsgeräusch-Pegel erinnert daran, dass die Region dicht besiedelt und wirtschaftlich intensiv genutzt ist.

Das Alte Wasserwerk ist ein maßvoller und differenzierter Betonbau mit schön geschwungenen Jugendstil-Linien, bei dessen Anblick es leicht fällt, ein Wort wie „Industriekultur“  zu verwenden. Das sorgsam gehütete Gelände wirkt auf den ers­ten Blick idyllisch, auf den zweiten erweckt es ein wenig auch den nicht ganz so anheimelnden Eindruck einer Hochsicherheitszone. Großer Publikumsverkehr ist hier eigentlich nicht vorgesehen.

Dafür hat die Initiative „Route der Industriekultur Rhein-Main“ eine gastliche Atmosphäre herstellen können an den beiden letzten Juli-Wochenenden, an denen das Gelände sowie der ge- und umbaute Raum des Jugendstil-Wasserwerks der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht war. Sie hat auch ein so großes Publikum angelockt, dass die Veranstalter selbst immer noch erstaunt sind.

Vielleicht kommt das daher, dass das Gelände nicht nur zugänglich gemacht, sondern auch als Kulturgut inszeniert wurde. Der Klangkünstler Johannes S. Sistermanns hat eine Installation erarbeitet, die er wegen ihrer räumlichen Eigenschaften eine Klangplastik nennt. Sie ist nicht optisch spektakulär, sondern füllt und modelliert den Raum allein mit der schwingenden Luft und anderen Materialien, die in ihm vibrieren. Sistermanns hat auf Lautsprecher verzichtet, er überträgt mit Transducern und Membranen die Schwingungen seiner Kompositionen auf Fensterscheiben, auf im Raum straff verspannte Folien, auf das Interieur, das zum großen Teil aus Metallkörpern besteht.

Wer die Gelegenheit wahrnimmt, mit angemessener Aufmerksamkeit durch den Raum zu gehen, wird hinterher nicht den Eindruck haben, dass hier etwas erklingt, was diesen Raum inszeniert. Es ist eher so, dass der Raum selbst eine Qualität der Klänge geworden ist, die in ihm unterwegs sind und die Aufmerksamkeit des Flaneurs lenkt, ablenkt, konzentriert, reflektiert. Zu dieser Raumwahrnehmung gehört auch, dass es eben nicht, wie bei einem konventionellen Musikstück oder einer konventionellen Installation, ein Werk gibt, das erklingt und für dessen Wahrnehmung es feste Kriterien gibt. Es ist eher so, dass zu jeder Zeit an jedem Ort im Wasserwerk etwas zu hören ist, was Grund und Ursprung in einer vielschichtigen Komposition hat, die in markanter Weise zum Raum gehört und sich den darin enthaltenen Gegenständlichkeiten anverwandelt hat.

Zu jeder Zeit und aufgrund von Zeitversetzungen mit jedem anderen Klang im Raum entsteht eine neue Verbindung, eine neue Wahrnehmung, voller fortschreitender Übergänge und Rückkehren. Es gibt keine ideale Hörposition für das Ganze dieses Werks, stattdessen stellt Sistermanns dem Raumhörer die Aufgabe, Differenzen wahrzunehmen, Überlagerungen zu erkunden, räumliche Nähen, Höhen und Fernen zu realisieren, über Materialien, ihre klanglichen Eigenschaften und Möglichkeiten nachzudenken und so einen Raum zu erfahren, der im Zuge dieser Wahrnehmungsarbeit immer mehr zu einem erzählenden Raum wird.

Seine Geschichte ist zwar die einer wirtschaftlichen Nutzung, eine Geschichte der urbanen und regionalen Infrastruktur-Entwicklung, die auch zumindest früher einmal ein kulturelles Projekt war. Aber es ist auch eine Geschichte aus älteren Zeiten, die metaphysische Qualitäten im Jugendstil-Ambiente entdeckt. Der auch die Aufgaben eines Wasserwerks reflektierende Titel des Klangkunstwerks lautet „Der gefilterte Raum“. Und weil ein Raum nicht nur innen ist, sondern auch durch Außenraum definiert, ist der Klang des Wasserwerks auch draußen erfahrbar, wo er sich mit Natur- und Verkehrsgeräuschen vermischt.

Diese erstaunliche Erweiterung und Intensivierung der „Route der Industriekultur“ ist ein Projekt des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, initiiert und kuratiert von dessen Stellvertretender Geschäftsführerin Julia Cloot. Das Klanginstallations-Projekt gibt der ansonsten eher an Freizeit- und Tourismus-Bedürfnissen ausgerichteten Industriekultur-Präsentation im Rhein-Main-Gebiet eine neue Dimension.

Das Thema „Gesundheit“, das in diesem Jahr im Fokus steht, lenkt den Blick auf die kulturhistorische Leis-tung der städtischen Wasserversorgung und Brauchwasser-Entsorgung. Während etwa im späten 19. Jahrhundert die Großstadt Hamburg noch ihre letzte Cholera-Epidemie durchlitt, gab es in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet schon eine stadthygienische Infrastruktur, die Abhilfe geschaffen hatte – und die heute in Gestalt weniger und öffentlich kaum mehr wahrgenommener Jugendstil-Bauwerke präsent und damit präsentierbar ist. Das diesjährige Industriekultur-Thema, „Gesundheit“, ist keines, das die Baukörper selbst nahelegen. Es ist ein im Grunde metaphysisches Thema. Je mehr man darüber weiß, desto mehr bringt eine Klanginstallation zum Schwingen.

Das Klangkunst-Projekt des Kulturfonds Frankfurt RheinMain wird nach den gegenwärtigen Planungen bis in den Herbst des kommenden Jahres reichen. Die nächste Station wird ein Klangkunstprojekt von Erwin Stache im Museum Großauheim bei Hanau sein, es folgt im November eines in der Abteilung Schriftguss, Satz und Druckverfahren des hessischen Landesmuseums in Darmstadt. Im nächsten Jahr wird es wieder in der Juli-Mitte fünf Klangkunstprojekte im Rhein-Main-Gebiet geben, dazu eines in Bad Homburg, zu dem der Deutsche Musikrat eine Begleitausstellung konzipiert.

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