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Wir brauchen einen neuen Humanismus

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Projekt mit Modellcharakter: die erste Bayerische Musikhauptschule
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In Österreich sind Musikhauptschulen seit den 70er-Jahren fest im Regelschulwesen etabliert, in Deutschland hingegen ist musikalische Bildung immer noch etwas für eine Elite: Schulen mit Musikschwerpunkt sind zum überwiegenden Teil Gymnasien. In Ruhstorf an der Rott (Landkreis Passau) ist man jedoch dem österreichischen Beispiel gefolgt, dort gibt es seit dem Schuljahr 2003/2004 die „1. Bayerische Musikhauptschule“ – ein vielfach preisgekröntes Projekt mit Modellcharakter, dem weitere sieben Hauptschulen im Bundesland folgen sollen.

Während quer durch alle Medien Politiker, Lehrer und Eltern die Abschaffung der als „Restschule“ verschrieenen Hauptschule fordern, geht das Bundesland Bayern den umgekehrten Weg und wertet die Hauptschulen durch Musikförderung auf. Dass es so weit kommen konnte, ist nicht zuletzt dem Engagement des Rektors der Ruhstorfer Grund- und Musikhauptschule geschuldet. Seit 1971 ist Josef Bertl, 60, als Lehrer an der Schule und seitdem setzt er sich dort für die Musik ein. Zurückgehend auf die Idee von Carl Orff, jedem Kind eine Stunde Musikunterricht am Tag zu ermöglichen, begann in Ruhstorf bereits 1975 der erweiterte Musikunterricht mit einer zusätzlichen wöchentlichen Musikstunde. Schulleitung und Schulamt stellten verstärkt Lehrer mit Musikausbildung ein, die gemeinsam schulinterne Musik-Projekte anboten. 1996 erfuhr Bertl aus der Zeitung vom Musikhauptschulsystem in Österreich. Er knüpfte Kontakt zur nahe gelegenen Musikhauptschule in Schärding und war begeistert: „In Schärding habe ich ein System gesehen, das mit einfachen Mitteln auch in Bayern umzusetzen wäre – so dachte ich in meiner Einfältigkeit. Ich habe nicht mit der Widerständigkeit der deutschen Behörden gerechnet.“ Eine grenzüberschreitende Partnerschaft der beiden Schulen war schnell beschlossen, eine zweite Partnerschaft mit der Musikmittelschule „Josef Wenter“ in Meran (Südtirol) folgte drei Jahre später. Doch die Umsetzung der Musikhauptschul-Idee in Deutschland erwies sich als schwierig. 1999 begann Bertl Anträge zu stellen. Gleichzeitig vereinbarte die Schule – bis dahin einmalig in Bayern – eine Kooperation mit der Kreismusikschule Passau. Ähnlich wie in Österreich kamen nun die Musikschul-Lehrer für den Instrumentalunterricht an die Volksschule – und zwar vormittags während der Regelunterrichtszeit. „Ich dachte, wenn wir das ausbauen, können wir den Staat dazu bewegen, die Musikstunden zu bezahlen – eine Illusion!“, wie Bertl feststellen musste. Immer wieder fuhr er nach München, führte Gespräche, versuchte die politischen Entscheider von seiner Idee zu überzeugen. Plötzlich, 2003, kam die Nachricht, dass seine Schule die erste Musikhauptschule Bayerns wird. Mit diesem Titel wurde das Kontingent an zugeteilten Musikstunden auf zwölf erhöht, doch die angestrebte tägliche Musikstunde war damit noch nicht möglich. Auch reichen die Staatsmittel noch nicht aus, um den zusätzlichen Instrumental­unterricht vollständig zu finanzieren. Die Schule ist weiterhin auf eine Mischfinanzierung aus Spendengeldern, Elternbeiträgen und Zuschüssen der umliegenden Gemeinden angewiesen, deren Schüler die Musikhauptschule ebenfalls besuchen können.

In Ruhstorf beginnt der erweiterte Musikunterricht im zweizügigen Grundschulbereich mit einer zusätzlichen Stunde Blockflötenunterricht, der für alle Schüler verbindlich ist. Ab Klasse drei kommt noch eine Stunde Chorgesang oder „Kreativ“ (Tanz, szenische Darstellung, Instrumentenspiel) hinzu. Ab Klasse fünf wird für einen der beiden Züge eine Musikklasse eingerichtet. Die Kinder dort können ein Instrument ihrer Wahl erlernen. Unterrichtet werden sie darin eine Stunde pro Woche vormittags durch Lehrer der Kreismusikschule. Der Regelunterricht wird dadurch in den Nachmittag hinein verlängert. Eine zweite zusätzliche Stunde ist für das Ensemblespiel vorgesehen, alternativ ist auch Chorgesang wählbar. Ab Klasse sieben müssen sich alle bayerischen Schüler zwischen den Fächern Kunst und Musik entscheiden. Landesweit wählen nur 18 Prozent der Schüler Musik, in Ruhstorf dagegen ist es rund die Hälfte.

Von der Musik „infiziert“

Josef Bertl liegen seine Schüler am Herzen, genau wie die Musik. Schon früh wurde er von ihr „infiziert“, wie er sagt, als Schüler bei den Regensburger Domspatzen. Dort kam er nicht nur mit der Musik, sondern auch mit dem Humanismus in Berührung – und dies sind bis heute auch die beiden Säulen seiner Pädagogik geblieben. „Der Mensch muss als Ganzes gesehen werden. Mathematik, Deutsch, Englisch, das alles ist wichtig, doch die Seele muss auch mitschwingen. Und das geht im künstlerischen Bereich am besten“, ist Bertl überzeugt. „Wir brauchen einen neuen Humanismus!“ „Über den musikalischen Erfolg kommt der schulische“, ist seine Erfahrung. Doch besonders wichtig ist ihm die integrative Kraft des gemeinsamen Musizierens – ein Aspekt, der gerade für Hauptschüler wichtig ist, wie er findet. „Die Kinder sind zu vielem fähig, man muss sie nur fordern“, ist Bertl überzeugt. „Gerade unsere Hauptschüler, auf die man immer so herab sieht, die können sehr viel. Und sie leisten was für die Region.“

Die Musikhauptschüler sorgen dafür, dass das kulturelle Leben im Ort weitergetragen wird, denn sie sind es, die den Nachwuchs für die Chöre und Blaskapellen der Region stellen. Sie sind gefragt, wann immer es im Ort etwas zu feiern gibt. Sie spielen an Fasching im Altersheim, singen in der Pfarrkirche zum Advent genauso wie auf der großen Bühne der Ruhstorfer Niederbayernhalle. Alle zwei Jahre inszenieren sie zusammen mit den Partnerschulen aus Schärding und Meran ein großes Stück. Letztes Jahr war es das Musical „Der kleine Tag“. Dort auf der Bühne zu stehen stärkt das Selbst­vertrauen. Die Musikhauptschüler lernen, dass sich Kreativität, Disziplin und Ausdauer auszahlen. Und durch ihre starke Präsenz im Gemeindeleben erfahren sie eine große Akzeptanz und Anerkennung in der Bevölkerung. Anerkennung kommt auch von anderer Seite: Schüler und Schule haben schon einige Preise gewonnen. Zuletzt wurde die Schule mit dem „Inventio 2006“ des Deutschen Musikrates und der Stiftung „100 Jahre Yamaha“ ausgezeichnet, und beim bundesweiten Wettbewerb „Musik gewinnt 2006“ waren die Ruhstorfer Schüler ebenfalls unter den Preisträgern.

Der zusätzliche Musikunterricht und die vielen Projekte verlangen Lehrern, Schülern und Eltern einiges an Einsatz ab. Doch die Mühe lohnt sich, nicht nur wenn der Applaus kommt. Das Gewaltpotential ist sehr viel niedriger als an den umliegenden Schulen, wo die Kinder keine Beschäftigung haben, hat Rektor Bertl festgestellt. Und nicht zuletzt eröffnet die musikalische Schulung den Kindern auch neue Berufsperspektiven. Die Berufsfachschule für Musik steht ihnen offen und damit eine Ausbildung zum Musiklehrer oder Musiktherapeuten – eine durchaus realistische Möglichkeit, da sich in der Ruhstorfer Umgebung mehrere Heilbäder befinden, die Bedarf an musiktherapeutischen Fachkräften haben. Mehrere ehemalige Musikhauptschüler haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Auch für andere Ausbildungsberufe scheint das Musizieren eine gute Vorbereitung zu sein: Von den 20 Schülern des letzten Abschlussjahrgangs hatten im Mai bereits 18 einen Ausbildungsvertrag in der Tasche.

Natürlich sind die Bedingungen für Hauptschulen in einer bayerischen Kleinstadt andere als in großstädtischen sozialen Brennpunkten wie Berlin-Neukölln. Doch es scheint, als ob dort, wo der Staat seinen kulturellen Bildungsauftrag so ernst nimmt wie in Ruhstorf an der Rott, tatsächlich so etwas wie eine „Schutzimpfung gegen Medienverwahrlosung“ wirksam wird, die der Kriminologe Christian Pfeiffer auf dem Mannheimer VdM-Kongress dem Musikunterricht zusprach.

Die Erfolge sind für Josef Bertl aber noch lange kein Grund, seine Hände in den Schoß zu legen. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes, der nebenberuflich noch mehrere Chöre leitet, Vorsitzender des Sängerkreises Passau und Mitglied im kulturpolitischen Ausschuss des Landtags ist, hat noch einiges vor. Zum neuen Schuljahr beginnt – zunächst mit nur einer Hauptschulklasse – die sukzessive Umwandlung zur Ganztagsschule. Außerdem soll die Schule generalsaniert und erweitert werden. Und schließlich ist das Ziel, jedem Kind täglich eine Stunde Musikunterricht zu ermöglichen, noch nicht erreicht. „Ich kann einfach nicht ruhig sein in der Richtung,“ resümiert Bertl, „weil ich davon überzeugt bin, es nutzt der Gesellschaft und es nutzt unseren Kindern.“

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