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Zerrieben zwischen Haydn und HipHop

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Schulmusik als Anbiederungspädagogik oder Wissensvermittlung &#183
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Was waren das damals noch für Zeiten, als wir uns glücklich wähnten, weil wir genau sagen konnten, wohin die Reise der deutschen Musikpädagogik dem Musikunterricht an den deutschen Schulen gehen sollte! Klare Verhältnisse, denn natürlich lieferten die Methodiken für die Kleinen die Volkslieder, für die Größeren waren die Kunstwerke vorbehalten. Das Ganze sollte garantiert werden, indem an allen Schulen – entsprechend dem Sportunterricht (welch Vergleich!) – ein ein- bis zweistündiger Musikunterricht erteilt wurde, in den Volksschulen (so hießen sie damals noch) genauso wie in den Mittel- und Oberschulen. Hinzu kamen der Chor, ja vielleicht auch einmal eine kleine Orff-Gruppe. Und nicht zu vergessen: Die Krone der Schulmusik – natürlich am Gymnasium – konnte dann nur noch das Orchester sein, das neben dem Weihnachtskonzert, dem jährlichen Höhepunkt schulmusikalischen Lebens, auch noch das a-Moll-Violinkonzert von Vivaldi und die kleine g-Moll-Sinfonie von Mozart im Sommer schaffte.

Die schulmusikalische Welt war in Ordnung, weil sie streng hierarchisiert war. Der „ganz normale“ Unterricht spielte vielleicht in der einen oder anderen Publikation eine Rolle, indem noch eine weitere Einheit der „Kleinen Werke großer Meister“ angeboten wurde. Zwischen Hagiographie der großen Meister und neuen (alten) Liedern gab es nicht sehr viel. Das Gymnasium gab den Ton an, die anderen Schularten schafften sich sehr, den gymnasialen Stoff aber natürlich um so weniger.

Das kleinste gemeinschaftliche Vielfache: Die Elementarlehre, das Lieblingskind der Musiklehrerinnen und -lehrer, und das bis zum heutigen Tage. Notenschreiben und -lesen als Kulturtechnik, die nicht hinterfragt zu werden brauchte. „Wer weiß, wozu es dir noch einmal nützen kann! Warte nur ein Weilchen...“ Die unkonkrete Utopie, in der Schule zu lernen, was in seinem Sinngehalt nicht zu bestimmen ist. Das nennt man dann „überschüssige Erfahrung“, eine Erfahrung, die im Megapack tagaus, tagein Schülern zugemutet wurde.

Kein Wunder, dass der Ort dieser aberwitzigen Nicht-Pädagogik, die den Erfahrungshorizont von Schülern gar nicht erst entdecken wollte, für Schüler mit der Musik selbst, die vermittelt werden sollte, nicht in Deckung gebracht wurde. Denn Musik in dem Sinne, wie sie es verdient hätte, erfahren zu werden (nämlich unmittelbar!), meinetwegen zwischen Haydn und HipHop, interessierte musikpädagogisch nicht; schnell der Griff zur Austaste, damit sich Schüler sogleich zu einem „Klangausschnitt“ von vielleicht zwei Minuten äußern sollten, einer Zeitdauer, die in Relation zu dem ganzen Werk (das nie gehört wurde), mindestens im Verhältnis 1:10 steht. Im fragwürdigen Sinne eines falsch verstandenen „exemplarischen Prinzips“: „Wie wirkte die Musik auf Euch?“, „Wo befand sich der Höhepunkt?... Nein, nicht ganz, vielleicht doch, ach ja, so meinst du das.“ Und dann wieder dieses Herumkauen auf dem Dreiklang („Ich sehe aber sechs Noten!“) in Takt 7, letztes Viertel („Stell dir vor, wir hätten jetzt C-Dur!“, „Ich sehe kein C-Dur“, „Sollst Du auch nicht, nur vorstellen, also wenn jetzt A-Dur, ja wenn es also C-Dur wäre, dann wäre der Dreiklang ... na? Ist doch klar, dann ist das hier G-Dur, also die Dominante“).

Diese Form der Wissensvermittlung aus der schlechten alten Zeit kann man wohl nicht meinen, wenn man sich Gedanken über den Musikunterricht heute macht. Leider ist sie keine Karikatur, sondern kommt immer und immer wieder vor, gleichsam als Katarakt des Untauglichen, der oft manifester sein kann als Sinnvolles, das sich immer wieder dem sich Veränderndem anpassen muss.

Aber wie legitimiert man noch heute den Aberwitz? Indem man einen gegnerischen Popanz aufbaut, der die eigene Unzulänglichkeit legitimiert. Wer selbst spürt, dass er nichts vermitteln kann – im Sinne einer Ver-Mittlung zwischen dem Schüler und der Musik – , der spricht immer dann gern von der Kuschel- von der Anbiederungspädagogik, wenn der Musikunterricht noch die Schüler erreicht. Sich bei Schülern dadurch anbiedern, dass sie anfangen, sich selbst mit der Musik – ihrer eigenen wie der fremden der Lehrer – auseinander zu setzen, gehört zu den beliebtesten Vorwürfen, die heute allen gemacht werden, die sich Gedanken darüber machen, in welcher ästhetischen Welt eigentlich Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren leben und darauf den eigenen Unterricht ausrichten.

Begonnen hatte alles 1971 mit der hermeneutisch ausgerichteten deutschen Musikpädagogik Karl Heinrich Ehrenforths, die im Anschluss an die Existentialphilsophie Gadamers von einem hermeneutischen Zirkel sprach, der sich zwischen dem Kunstwerk und dem Schüler als dem Individuum bilden sollte. In diesem hermeneutischen Zirkel lassen sich keine Hierarchien konstituieren und keine Hagiophonie legitimieren, weil das subjektive Erfahren und Verstehen immer in die Unmittelbarkeit des musikalischen Umgangs gestellt wird. Und diese Unmittelbarkeit, eine zweite wichtige Einsicht bereits in der Reformpädagogik, nicht erst der 70-er Jahre!, kann durch musikalisches HANDELN eher erreicht werden. Die berühmte „sinnliche Spur der Erinnerung“ trägt eine kaum bedeutsame Nachhaltigkeit in sich, wenn man zwar viel „über“ etwas redet, aber nicht in einen Handlungszusammenhang bringt. Be-Greifen lässt sich nicht verordnen, es muss schon konkret werden. Wenn dieses Be-Greifen (in weiterem Sinne) musikalische Erfahrung macht, dann verändert sich schlagartig die Perspektive und Struktur des Musikunterrichts – egal welcher Schulart.

Das aber mußte die deutsche Musikpädagogik erst sehr schmerzvoll lernen. Durch die Grundschul- und sonderpädagogischen Ansätze eines Erich Hansen oder Wilfried Fischer, eines Franz Amrhein oder Björn Tischler verstand man die Aufgaben des täglichen Unterrichts aller Schulformen vollkommen neu. Auch hier wurde „gelernt“, wurde Wissen vermittelt, aber – entsprechend der Musik selbst – durch ein Sich-Bewegen, ein Nachspielen, ein Malen zur Musik, ein szenisches Darstellen. Musikalisches Lernen, ein Grundsatz, auf den Hermann J. Kaiser immer wieder versucht hat hinzuweisen, ist unverwechselbar mit der Musik als Musik und deswegen immer als individueller Prozess verbunden.

Die Barrieren, die der Unterricht zwischen dem Schüler und den Musiken aufbaut – Kaiser spricht zu Recht von den Musiken im Plural, um die Vielfalt musikalischen Geschehens zu verdeutlichen –, müssen erst mühsam wieder eingerissen werden, weil die negativen Erfahrungen mit dem Fach zu negativen Erfahrungen mit der Musik selbst wurden. Dieser mühsame Prozess aber wird sich nicht an den traditionellen (Zeit-) Räumen in den Schulen festmachen können. Im Gegenteil. Musiklernen in der Schule wird sich neue Zeiten als den immergleichen ein- oder zwei-Stunden-Takt in der Woche suchen müssen, denn diese Art, Wissen zu erwerben, braucht Zeit, braucht Räume, in denen wirklich Musik er- und geprobt werden kann, braucht Lehrer/-innen, die Lust darauf haben, sich selbst in der und mit der Musik zu erfahren. Sie sind dann nicht mehr die „letzte Instanz“ einer mehr oder weniger rigiden Meisterlehre, sondern sind Mittler, die hinter den Prozess zwischen den Schülern und der Musik zurücktreten.

Deswegen dominieren sie auch nicht ihre eigenen Musikpräferenzen, sondern verdeutlichen, „warum“ sie selbst zu diesen Präferenzen gekommen sind, warum sich ihnen auch ein Schumann und Ruzicka mit-teilen. Dann – auf einmal – stellt sich die Frage „Haydn oder HipHop“ nicht, vielmehr reden hier Menschen mit und in unterschiedlichen musikalischen Erfahrungen. Dann endlich würde Kultur lebendige Mit-Teilung. Und die Frage „Anbiederungspädagogik oder Wissensvermittlung“ würde sich auch nicht mehr stellen, weil man weiß, dass die Anbiederungspädagogik die Tochter einer falsch verstandenen Wissensvermittlungspädagogik ist, gezeugt aus der Resignation, letztlich doch nichts erreichen zu können.

Sagen wir’s doch knapp: Keine wirkliche Pädagogik kann auch nur auf eine Vermittlung von Wissen bestehen, wenn nicht die Erfahrung damit verbunden ist – und Anbiederung hat nichts mit Pädagogik zu tun!

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