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Schola Heidelberg und ensemble aisthesis in der Heidelberger Peterskirche. Foto: studio visuell / Heidelberger Frühling
Schola Heidelberg und ensemble aisthesis in der Heidelberger Peterskirche. Foto: studio visuell / Heidelberger Frühling
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Zwingende Dramaturgie, unerbittliche Spannung

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Uraufführungen von Lisa Streich und Berthold Tuercke beim Heidelberger Frühling
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Manchmal wird die Kunst von der Realität eingeholt. Bei der künstlerischen Planung des Heidelberger Frühlings 2022 hatte niemand ahnen können, dass wenige Wochen zuvor in Europa ein Krieg ausbrechen würde. Auch nicht Walter Nußbaum, Gründer und Leiter des vorwiegend auf zeitgenössische Musik spezialisierten Vokalensembles Schola Heidelberg sowie des ensemble aisthesis.

Seinem Konzert vom 1. April, bei dem beide Ensembles Musik des 18. Jahrhunderts mit solcher der Gegenwart verwoben, lieh Bachs Kantate „Ihr werdet weinen und heulen“ den Titel: Es war die gedankliche Klammer für ein übergreifendes Konzept, das die Möglichkeit der Wendung von Klage und Trauer in Trost und Freude massiv infrage stellte – und sich dadurch eben nicht nur äußerlich, sondern in seiner tieferen Botschaft als bedrückende Reflexion auch über unsere Kriegsgegenwart begreifen ließ. Ich erinnere mich an keinen ersten Apriltag, dem der Gedanke an Scherz so gründlich ausgetrieben worden war wie diesem. Und zugleich an wenige Konzerte, deren Dramaturgie ich als ebenso bezwingend und wie aus einem Guss erlebt habe. Dass der Applaus in der Heidelberger Peterskirche ausdrücklich bis zum Ende aufgespart werden sollte, mag wie mitgeteilt auch der Rundfunkaufzeichnung geschuldet sein; und doch drängt sich der Gedanke auf, dass hier der Wunsch nach nahtlosen Übergängen von einem Werk zum nächsten den entscheidenden Ausschlag gegeben hatte. Tatsächlich schienen sich die Grenzen zwischen den Stücken aufzulösen, so natürlich reihten sie sich als klingende Perlenschnur dicht aneinander. Die Idee des künstlerischen Dialoges der Vergangenheit mit dem Heute, welcher bei der Verbindung der beiden Ensembles gleichsam zwangsläufig entsteht, wurde dadurch noch stärker zugespitzt als sonst üblich, denn nicht die jähe Zäsur, nicht der aparte Kontrast stand im Zentrum, stattdessen das gleitend Verbindende, und dies nicht nur auf der Ebene des Ausdrucks, sondern insbesondere der geistigen Haltung, ja der Spiritualität. Die durchgängige Benutzung historischer Instrumente durch das „ensemble aisthesis“ sorgte darüber hinaus für eine klangliche Einheit, die sich von Zelenka über Bach bis zu Ives erstreckte.

Der Abend begann mit dem rätselhaft betitelten „Hipocondrie“ von Jan Dismas Zelenka: eines seiner 1723 wohl anlässlich der böhmischen Königskrönung in Prag entstandenen Orchesterwerke mit etlichen konzertierenden Stimmen. Die Biographen haben daraus gar ein Selbstporträt ableiten wollen, aber es ist wohl doch einfach eine skurril bezeichnete französische Ouvertüre in A-Dur, die zu den ersten Werken gehörte, mit denen der Komponist seine späte Wiederentdeckung in den 1970er-Jahren feierte. In der luftig federnden Interpretation des „ensemble aisthesis “wurde im Grave zuviel Pomp vermieden, das fugierte Allegro strömte beschwingt und kantabel, doch am Ende überrascht Zelenka mit einem melancholischen Lentement in a-Moll, das auch noch mit terzlos hohlem Klang endet; vermutlich ist hier die Wurzel des Titels zu suchen. Diese Eintrübung leitete geradezu symbolisch über in Zelenkas Miserere in ­c-Moll von 1738, das am Ende eine ganz ähnliche Überraschung bietet: die frappierende zyklische Wiederkehr der düster pochenden Anrufung des Anfangsteils, auch hier schlagartig von Dur nach Moll wechselnd. Die Sopranstimme von Peyee Chen verlieh dem „Gloria Patri“ berückendes Leuchten.

Zwischen die Einzelsätze dieser beeindruckenden Karwochen-Musik eingeschoben waren die drei Kassandra-„Male“ von Berthold Tuercke: unbegleitete zwölfstimmige Chorsätze nach Gedichten von Ingeborg Bachmann aus dem Jahr 2020, die als Auftragswerke ursprünglich für sich entstanden waren und ihre späte Geburt inmitten von Zelenkas „Miserere“ letztlich den Unwägbarkeiten der Pandemie zu verdanken hatten. Zu diesen gehörte auch, dass das erste der drei unheilkündenden Stücke wegen Krankheit eines Vokalisten kurzfristig ersetzt werden musste; der bitonale 67. Psalm von Charles Ives (1894) füllte die Bresche und präsentierte das exquisit balancierte und nuancierte Stimmenspektrum der Schola Heidelberg. Tuerckes zweites Stück, „Schallmauer“, näherte sich in der Kühle seiner syllabisch hämmernden Tonrepetitionen fast einer Sprechmotette an, das dritte, „Enigma“, öffnete sich zu ätherischen Klängen zumal in den Frauenstimmen. Tuerckes Gedichtwahl verkörperte den Skeptizismus der ganzen Konzertidee bereits im Kleinen: „Ingeborg Bachmann macht es uns schwer, dem Geist der Utopie noch zu trauen. Denn sie weiß genau, wie es um uns bestellt ist.“ Diese a-cappella-Sätze waren bereits durch ihre Besetzung als Interpolationen in Zelenkas „Miserere“ erkennbar.

Anders die speziell für dieses Konzert entstandene Auftragskomposition von Lisa Streich, die in diesem Jahr den Heidelberger Künstlerinnenpreis erhalten hat und nun der Stadt nochmals die Aufwartung machte. Das uraufgeführte „Rememory“ der Schwedin ist genau auf die Besetzung dieses Abends zugeschnitten, Chor und Barockensemble. Als Textvorlage und Inspiration dient ihr eine Passage aus dem Roman „Menschenkind (Beloved)“ der afroamerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem die Grausamkeit der Sklaverei als verdrängtes Trauma thematisiert wird – eine Mutter tötet ihr eigenes Kind, um es vor der Versklavung zu retten. Streichs Exzerpt ist ein Wiegenlied, in dem die Blutströme von Natur- und Märchenbildern überlagert sind. Sie vertont es als sehr langsames, aber unerbittliches Anwachsen von Spannung durch klangliche Verdichtung und dynamische Intensivierung, bis schließlich eine Wolke von unerträglichem, an der Grenze des Schreiens angesiedeltem Leiden den gesamten Raum bis zum Bersten füllt, um wie durch Zauberhand doch in so etwas wie skeptische Sanftmut überzugehen. Schon in einigen anderen Werken hat Lisa Streich der Idee des Schmerzes mit geradezu physischer Härte Ausdruck verliehen, als existenzielle menschliche Erfahrung ohne jede Schutzhülle, ähnlich wie bei Galina Ustwolskaja. Ihr Stück bildete den ergreifenden Höhepunkt des Konzertes, und es war in der Mitte von Bachs Kantate „Ihr werdet weinen und heulen“ perfekt platziert, wuchs aus dieser heraus: Bach hatte für denselben Sonntag im Kirchenjahr schon ein Jahrzehnt zuvor in Weimar „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ komponiert und suchte in der Leipziger Version von 1725 erneut vor allem nach Wegen, intensivsten Schmerz zu schildern. Die Zuversicht auf Jesu Rückkehr wird erst sehr spät, in der letzten von drei Arien wiedererlangt, in denen die Vokalsoli (Terry Wey, Hans Jörg Mammel, Konstantin Paganetti) ebenso überzeugen konnten wie auch die solistische Blockflöte (Elisabeth Wirth).

Die bruchlose Verlängerung mit Charles Ives’ „Unanswered Question“ rückte indessen auch diese kleine Auflichtung (der Schlusschoral steht immerhin wieder in Moll) in den Konjunktiv, wenn nicht Irrealis. Dass die überirdischen Ruheflächen des Ives’schen Streichorchesters durch historische Instrumente gleichsam paradoxal in die Vergangenheit gebeamt wurden, fügt sich nur zu gut mit jener unergründlichen Weisheit der Druiden, die dort metaphorisch erklingt. Den Ruf der Trompete und die zunehmend desolaten Flötenentgegnungen dagegen konnte man am Ende dieses Konzertprogramms als Theodizee begreifen. Woher soll angesichts von so viel realem Leiden überhaupt Zuversicht entstehen? In Ingeborg Bachmanns „Enigma“ heißt es: „Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik.“ Vielleicht aber doch.

Die Spannung löste sich in langanhaltenden stehenden Ovationen, die der hervorragenden Leistung der Ensembles und Solisten galten, ebenso den Uraufführungswerken, die aber ganz gewiss auch dem angestauten (Mit-)Gefühl seinen notwendigen Raum gaben. Die Ensembles des Heidelberger Klangforums und Walter Nußbaum haben sich mit diesem außergewöhnlich tiefsinnigen und leider auch prophetischen Konzert tief ins Gedächtnis geschrieben.

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