In Deutschland gibt es (noch immer) eine stattliche Zahl von Opernhäusern. Und Musikhochschulen, die Jahr für Jahr eine stattliche Zahl von Sängern ausbilden. Wie kommen die zusammen? Die Opernhäuser zu Sängern? Zumal neben der natürlichen Fluktuation noch die Engagements wechseln. Weshalb die Frage auch umgekehrt heißt: Wie kommen die Sänger zu Opernhäusern?
Früher hielt sich jeder halbwegs berühmte Solist einen Impresario. Als festangestellter Sekretär eines Sängers regelte er die Engagements, besonders die Gagenhöhe, er besorgte Hotels, Schiffspassagen und Taxis, Einladungen zu Empfängen und Garderobe für den Sängeralltag. Auch die Großen von heute leisten sich noch immer ihre Dienste.
Aber die kleinen und mittleren Größen unter den Sängern, die Berufs- oder Seiteneinsteiger, die alltäglich die Opernaufführungen bestreiten, haben mitnichten Privatsekretäre. Nun können sie selber auf Tippeltour gehen, wollen sie neue Engagements oder weg von der Straße, wenn ihr Vertrag nicht verlängert wird: dieses Mehrspartentheater im Ruhrgebiet oder jenes Opernhaus in der Bundeshauptstadt anschreiben, rundum zum Vorsingen antreten, zuvor Unterkünfte und Fahrkarten buchen und nachher mit ihnen in Verhandlung treten. Oder sie können sich in die Hände eines Opernagenten begeben.
Der nimmt ihnen diese lästigen Arbeiten ab, hält ihnen den Rücken frei für die Kunst. Er steht aber nicht mehr einem einzigen Maestro, sondern mehreren Sängern zu Diensten, arbeitet im eigenen Büro, von wo er sie mit Arbeit versorgt und ihre Karriere aufbaut. Wenn es klappt. Nur dann bekommt er Provision, zur Hälfte vom Künstler, zur anderen vom Opernhaus. Nach Honorarordnung.
Ich sprach mit zwei Agenten, mit Günter Ocklenburg aus Hamburg und Sigrid Rostock (nein, nicht aus Rostock, aber doch aus der Ex-DDR) aus (Ost-)Berlin, wo sie bis 1989 in der staatlichen Künstleragentur arbeitete. Sigrid Rostock hätte wieder festangestellt arbeiten können, gab aber der Zentralen Bühnen-, Film- und Fernsehvermittlung (ZBF) einen Korb, um sich 1991 selbstständig zu machen. Was heißt, dass es auch in der BRD eine staatliche Vermittlungsinstanz für Musikhochschulabsolventen und Opernsänger gibt, die stempeln gehen.
Die Bundesanstalt für Arbeit hatte früher das Monopol auf Arbeitsvermittlung, über ihre Dienststelle ZBF also auch für Opernsänger(!). Erst mit der Aufgabe dieses Monopols und der Möglichkeit, dass private Arbeitsvermittler gewinnorientiert in diese Branche einsteigen, schlug die große Stunde der Opernagenturen.
Zunächst über Teil-Lizenzen, Ocklenburg durfte anfänglich nur fünf Sänger betreuen, erhielt aber 1984 die Voll-Lizenz. Bis 1994 mussten die angehenden Agenten einen Befähigungsnachweis, nämlich Referenzen, beibringen. Das betraf Ocklenburg wie Rostock gleichermaßen. Seit 2002 private Arbeits- und Ausbildungsvermittler freien Marktzugang erhielten und damit auch die privaten Künstlervermittler, stehen nun eine schwer überschaubare Zahl von Agenturen untereinander sowie mit der ZBF im Wettbewerb. Letzteres zum Ärger aller Agenturen, wie Ocklenburg und Rostock beteuern. Denn Hauptaufgabe und damit auch Haupteinnahmequelle ist für sie die Arbeitsvermittlung, die aber das ohne Provision arbeitende und damit für Sänger und Theater kostengünstigere Arbeitsamt auch betreibt. Dafür kümmern sich private Agenturen, ähnlich wie einst der Impresario, um viele Dinge, für die staatliche Vermittler weder Zeit, Nerv noch Auftrag haben.
Günter Ocklenburg, dem auch die Nachwuchsförderung am Herzen liegt, wirbt in den Musikhochschulen, in denen er Ausschau nach großen Begabungen hält, schon für die Zusammenarbeit von Jungsängern und Agenten. Karriere, meint er, kann niemand auf eigene Faust machen, die fast immer mit einem Festvertrag an einem der rund 70 Opernhäuser beginnt. „Er müsste 70 Bewerbungsmappen verschicken: Bin lyrischer Bariton und suche einen Job.“ Gibt es jedoch in ganz Deutschland nur drei lyrische Vakanzen, verschickt er von vornherein 67 Mappen umsonst.
Andersherum sucht nicht nur ein einziger lyrischer Bariton Arbeit. Der Agent, der seine Schützlinge genauestens kennt, schickt nicht alle seiner stellungslosen Baritone zum Vorsingen, sondern nur den einen, von dem er überzeugt ist, dass er die Vakanz erhält. „Zu 80 Prozent führt ein solches Vorsingen auch zum Engagement. Wenn nicht, dann liegt das am Typ des Sängers, den sich der Regisseur für die Partie anders wünscht.“
Fleißarbeit der Agenturen
Für eingeführte, also seit langem bestehende Agenturen wie die Ocklenburgische gilt: Ihr Kontakt zu Opernhäusern ist so eng, dass sie deren Vorstellungen kennen und sogar ahnen, welche Inszenierungen sie planen könnten. Sie stellt einem Opernhaus einen Sänger auch ohne Vakanz vor. „Wir sagen, das ist ein neuer Name, der singt jetzt einen ,Papageno‘ und zwar sehr gut. Der wäre unser Tipp, sollten sie an Ihrem Haus eine ,Zauberflöte‘ inszenieren.“
Nach genauem Abwägen, welcher Sänger auf welche Vakanz passt, beginnt die Fleißarbeit der Agentur: Arrangieren des Vorsingens mit dem künstlerischen Betriebsbüro, Besorgen von Unterkunft, Flug- und Zugbillets. Ocklenburg spricht mit dem Anwärter auch das Vorsingen durch. „Es geht so weit, dass wir sagen, welche Kleidung an welchem Haus angebracht ist: Jeans oder Anzug.“
Der Agent berät auch bereits fest engagierte Künstler, die sich verändern wollen, aber nicht wissen, wo im In- wie Ausland die Vakanzen sind. Gewöhnlich folgen noch zwei, drei Spielzeiten an verschiedenen Häusern im Festvertrag, um viele Partien gesungen und unter diversen Dirigenten und Regisseuren Erfahrungen gesammelt zu haben, bevor der Sprung in die Selbständigkeit gewagt wird. Um die vorzubereiten, sorgt der Agent noch während der Festverträge für Gastauftritte. Viele Gastverträge an vielen Häusern schaffen einem Sänger den Namen, der ihm die freiberufliche Arbeit gestattet. Was für seinen Agenten allerdings heißt, immerfort Gastpartien anbieten zu können.
Rundumbetreuung
Es gibt Sänger, die freischaffend sind, obwohl sie (noch) keinen Namen haben und niemals festangestellt waren. Sei es, weil keine Vakanz zu ihrer Stimme oder ihre Stimme zu keinem Typ passte. Oder weil sie sich nicht an ein Haus binden wollen. Auch für diese finden Agenten Betätigungsfelder: kleine Partien in konzertanten Opernaufführungen, in Oratorien oder Konzerten. – Fraglich allerdings in welchen zeitlichen Abständen.
Es passiert, dass über längere Zeit keine Vermittlung gelingt, obwohl der Agent rotiert. Tendiert der Erfolg gegen Null, trennen sich Agentur und Künstler voneinander. Für Freiberufler ist der Arbeits-, Zeit- und Geldaufwand der Agentur hoch. Es ist ja eine Rundumbetreuung, charakterisieren Ocklenburg und Rostock ihre Tätigkeit. Zur Arbeitsbeschaffung gehört das Aushandeln des Vertrags, inbegriffen Probengeld und Reisekosten.
„Ich führe auch den Kalender, habe alle Termine, kann neue vereinbaren für Verträge, Vorsingen, Interviews, Platteneinspielungen.“ – Was sie zuvor aber alles erst organisiert hat, wie Sigrid Rostock erklärt.
Agent als Pschychologe
Für Günter Ocklenburg bedarf eine gute Rundumbetreuung auch einiger Psychologie-Kenntnisse. Um eine Karriere zu bremsen zum Beispiel, wenn sie zu schnell läuft. Ist nach vier, fünf Jahren die Stimme kaputt und die Laufbahn beendet, schadet das nicht nur dem Künstler, sondern auch ihm. „Da muss der Agent raten, auf ein Angebot zu verzichten, auch auf das schnelle Geld.“ Bei Krisen muss sich der Sänger an seinen Agenten wenden können. „Der sollte den richtigen Arzt kennen oder einen schönen Ort zum Ausspannen.“ Ein Agent stößt auch auf auch eigene psychologische Grenzen. Ocklenburg wie Rostock legen auf eine stimmige Chemie Wert. Rostock: „Mit einer, die zu viel Diva ist, würde ich nicht arbeiten.“ Ocklenburg: „Es gibt Künstler, die eine wunderbare Stimme haben, sehr präsent auf der Bühne sind, aber menschlich kommt man mit ihnen nicht zurecht.“ Einen solchen Fall hatte er gerade und hat sich von dieser Künstlerin getrennt.
Vakanzen in Erfahrung zu bringen, ist Grundvoraussetzung fürs Überleben. Ihre Kenntnis basiert auf engen Kontakten zu Intendanten, Dramaturgen und künstlerischen Betriebsbüros der Opernhäuser. Günter Ocklenburg hält mit seinen beiden Mitarbeitern Kontakte zu allen Opernhäusern: „Ob Stadttheater oder internationales Haus, sogar bis ins Ausland.“ Sigrid Rostock, die allein arbeitet, kann nicht alle Häuser kontaktieren.
Manch kleineres Haus allerdings verschickt Rundschreiben mit Stellenangeboten. Findet die Agentin Passendes für ihre Sänger, muss sie sich sputen, die Erste zu sein. Sonst hat ihr die Konkurrenz die Vakanz schon weggeschnappt. „Bei den großen Häusern muss man im Vorzimmer sitzen, warten und antichambrieren.“ Da fühlt sie sich dann wie eine Staubsaugervertreterin. Kontakte, die nicht zu einer Vertrauensbasis zwischen Agentur und Opernhaus führen, sind nichts wert. „Wenn man einem Opernhaus zweimal den falschen Künstler angeboten hat, dann geben die einem keine Vakanzen mehr“, weiß Ocklenburg. Und bevor ein Opernhaus einen Agenten anruft, dass abends die „Lucia“ ausgefallen ist und umgehend Ersatz gebraucht wird, vergehen nach seiner Erfahrung 15 Jahre Zusammenarbeit.
Informationen über die Opernszene im In- wie Ausland holen sich Agenten auch ganz schlicht aus Feuilletons, weshalb Ocklenburg sechs Zeitungen studiert. Andere Quellen sind Gespräche während der Premierenfeiern. Rostock wie Ocklenburg besuchen alle Premieren ihrer Sänger. Das allein bedeutet für Günter Ocklenburg, im Dauergespräch zu stecken. Seine Agentur betreut rund 25 Künstler intensiv. Und eine größere Zahl weiterer, die nur gelegentlich kontaktiert werden wie bei kurzfristigen Besetzungen. Da es sich um Sänger aller Stimmfächer handelt, kann seine Agentur Vakanzen in allen Fächern besetzen.
Fortsetzung in der nmz 11/03