Als Prorektor haben Sie in den vergangenen Jahren die zum Teil hochemotionale Diskussion um die Zukunft der baden-württembergischen Musikhochschulen miterlebt. Was hat Sie dazu bewogen, die Herausforderung des Rektorenamts zu suchen?
Das ist eine berechtigte Frage, denn es ist ja eine sehr grundsätzliche Entscheidung, sich für ein solches Amt zu bewerben und damit aus dem eigenen Fach heraus ins Hochschulmanagement zu gehen. Die Erfahrung, die Sie ansprechen, war einschneidend. Sie hat mir deutlich gemacht, in welchem Ausmaß der gesellschaftliche und politische Diskurs heute das Schicksal und den Fortbestand der Musikhochschulen bestimmt. Wenn man sehr stark in seinem eigenen Fach verwurzelt ist, dann lebt man in dem Gefühl, dass im Wesentlichen die Inhalte, dass Kunst, Forschung und Lehre die Weiterentwicklung der Hochschulen bestimmen. In der Zeit als Prorektor habe ich erfahren, dass viele großartige Entwicklungen, dass eine ganze gewachsene Kultur an einer Hochschule schlagartig durch eine politische Entscheidung enden könnten. Es ist in der Öffentlichkeit nicht ganz zur Kenntnis genommen worden, dass der Baden-Württembergische Rechnungshof, vor allem die Freiburger Musikhochschule, mit ihrer vermeintlich so guten, „elitären“ Ausstattung im Blick hatte. Hier ging es tatsächlich um die Streichung von 15 Professuren. Wenn die Vorstellungen des Rechnungshofes umgesetzt worden wären, wäre das nicht mehr die gleiche Hochschule, sondern eine Hochschule, in der zentrale, historisch gewachsene Fachbereiche quasi amputiert worden wären. Dass dieser Kahlschlag durch sachliche Argumentation verhindert werden konnte und dass unsere Wissenschaftsministerin Theresia Bauer in der Folge eine befriedende, umsichtige und kluge Hochschulpolitik betrieben hat, die die Krise gleichsam zu einem Innovationsmoment genutzt hat, ist eine Erfahrung, die mich ebenfalls stark geprägt hat. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass man in diesem Amt ganz entscheidende inhaltliche und institutionelle Weichenstellungen beeinflussen kann und dass es nicht allein darum geht, einen Betrieb zu verwalten.
Wie weit ist die Musikhochschule Freiburg in ihren Reformbemühungen gekommen?
Die Hochschule hat ganz grundlegende Reformen in Angriff genommen. Ich möchte da exemplarisch unsere Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Freiburg mit einem neuen Modellstudiengang für die Ausbildung von Grundschullehrern und einem EMP-Masterstudiengang, den wir gemeinsam ausrichten, nennen. Überhaupt den kontinuierlichen Ausbau und die Ausdifferenzierung unserer pädagogischen Studiengänge. Dieser Aufbau einer starken pädagogischen Säule stellt für eine künstlerische Hochschule mit der Tradition, dem Anspruch und dem Selbstverständnis Freiburgs einen Quantensprung dar. Uns ist völlig klar, dass wir mit der musikalischen Förderung und Ausbildung ganz früh ansetzen müssen, auch unsere „Akademie zur Begabtenförderung“ (FAB) ist hier zu erwähnen. Bei unserem zentralen Großprojekt, dem „Freiburger Forschungs- und Lehrzentrum Musik“ (FLZM) mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, stehen inzwischen die Grundpfeiler. Die Reform der Instrumental- und Gesangspädagogik wird jetzt mit dem neuen Struktur- und Entwicklungsplan, den vielen neu geschaffenen Stellen und den neuen Berufungen erst richtig losgehen: Die Hochschule befindet sich in einem radikalen Generationswandel, in einem Zeitraum von nicht einmal sieben Jahren sind hier fast 50 Prozent der Stellen neu zu besetzen. Das ist eine große Herausforderung und Chance zugleich.
Was sind die dringlichsten Aufgaben, die Sie nach ihrem Amtsantritt angehen werden?
Es wird sehr darum gehen, die großen Projekte, die in der Amtszeit von Rüdiger Nolte in Angriff genommen wurden, nun konkret umzusetzen. Bei unserem Forschungszentrum heißt das, dass wir die unterschiedlichen Strukturen von Musikhochschule und Universität zusammenbringen müssen, die gemeinsamen Studiengänge zum Wintersemester 2017/18 einführen. Es muss uns gelingen, den Anspruch, den wir an eine breit aufgestellte Musikforschung haben, die die künstlerische Praxis angemessen reflektiert, einzulösen. Die andere große Herausforderung ist die Entwicklung einer wirklich modernen Instrumental- und Gesangspädagogik. Sie soll neben der Schulmusik, die in Freiburg traditionell sehr stark aufgestellt ist, zu einem Schwerpunkt ausgebaut werden. Wir müssen PädagogInnen ausbilden, die für die gesellschaftlichen Herausforderungen und Realitäten gewappnet sind. Wir brauchen hier nicht nur FachexpertInnen auf dem Instrument, sondern MusikerInnen mit einem breiten künstlerischen und handwerklichen Horizont.
Welche Rolle spielt dabei das neue Freiburger Forschungs- und Lehrzentrum Musik?
Ich glaube, dass es eine ganz zentrale Rolle spielen wird, weil es die Brücke bilden wird zwischen künstlerischer Praxis und kritischer Reflexion. Neben klassischer musikwissenschaftlicher, musiktheoretischer und musikpädagogischer Forschung soll an unserem Forschungszentrum der Frage nachgegangen werden, was unsere musikalische Praxis eigentlich bestimmt, was die Grundlagen dessen sind, was wir tun, also um eine artistic based beziehungsweise artistic oriented research im weitesten Sinne. Und das insbesondere in dem Bewusstsein, dass wir uns zentral eben auch mit historischer Kunst auseinandersetzen, die es immer wieder für die Gegenwart zu gewinnen gilt. Das Forschungszentrum ist aber auch in struktureller Hinsicht wichtig. Ich glaube, dass drittmittelgeförderte Forschungsprojekte für die Musikhochschulen in Zukunft immer wichtiger werden. Mit dem Zentrum, an dem insgesamt 18 Professuren angesiedelt sind und das zudem eng mit der Universität und auch der PH verzahnt ist, können wir in diesem Bereich neue Maßstäbe setzen. Großartig an diesem Forschungszentrum ist, dass es die für sich stark aufgestellten Disziplinen Musiktheorie, Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Musikermedizin vereint. Traditionell haben diese Fächer die Tendenz, sich voneinander abzugrenzen. Hier in Freiburg ist aber in den letzten Jahren zwischen den Fächern und den Institutionen PH, Universität und Musikhochschule eine enge, auf persönlichen Beziehungen, gemeinsamen Erfahrungen und tiefem Vertrauen beruhende Zusammenarbeit erwachsen, die in unserem Zentrum nun einen angemessenen institutionellen Rahmen gefunden hat.
In vielen Musikhochschulen ist ein Spannungsfeld zwischen pädagogischen Reformen und der „klassischen“ Ausbildung entstanden. Wie möchten Sie zwischen diesen vermeintlich unterschiedlichen Interessen vermitteln?
Als ich studierte, war die pädagogische Ausbildung der kleinere, etwas schwächere Bruder der Solisten- bzw. der Orchesterausbildung. Ich sage das nicht vorwurfsvoll, denn dieser Mangel an inhaltlicher Ausdifferenziertheit war Reflex eines bürgerlichen Bildungsbegriffs, dessen kanonische Einheit schon damals brüchig war und heute wohl vollends zerfallen ist. Wir haben es heute mit einem sehr offenen, sehr disparaten Kulturbegriff zu tun, mit dem MusiklehrerInnen umgehen können müssen. Auch die Schulstrukturen und die Lern- und Lehrmilieus und –formen sind heute völlig andere. InstrumentallehrerInnen treffen auf eine musikalische Gegenwartskultur und auf eine pädagogische Realität, die im großen Gegensatz steht zur Ausbildung etwa einer klassischen KonzertpianistIn, deren Ausbildung sich immer noch kaum von der unterscheidet, die ich selbst durchlaufen habe. Wir müssen PädagogInnen aber heute so ausbilden, dass sie in diesem Umfeld bestehen und Interessierte für die Musik begeistern können. Wir sollten „ganzheitlich“ ausgebildete PädagogInnen hervorbringen, die nicht nur entwickelte Finger, sondern auch entwickelte Ohren und Augen haben, um hier einmal C.P.E Bach zu bemühen. Blattspielen, Spielen nach Gehör, Improvisation, genreübergreifendes Repertoire, Digitalisierung et cetera: Es braucht ein breit aufgestelltes Metier um heute als InstrumentalpädagogIn bestehen zu können.
Wie können es die Musikhochschulen schaffen, die Politik und die Allgemeinheit auch in Zukunft von der Notwendigkeit einer künstlerischen musikalischen Ausbildung zu überzeugen?
Die Bedeutung der Kunst und insbesondere der Musik für die Gesellschaft, die Bedeutung musikalischer Praxis für die Entwicklung von Jugendlichen et cetera – all das müssen wir natürlich immer wieder aufs Neue herausstellen und institutionell reflektieren. Die gesellschaftliche Funktion künstlerischer Praxis stand zu Recht im Zentrum jener „Zukunftskonferenzen“, die als Reaktion auf die Auseinandersetzung um die Zukunft der Musikhochschulen in diesem Bundesland abgehalten wurden. Aber ich möchte auch noch einen anderen Aspekt hervorheben: Vor nicht allzu langer Zeit habe ich die Mittelalter-Abteilung der National Gallery in London besucht. Da war so gut wie kein Mensch, während sich bei den Impressionisten und der zeitgenössischen Kunst die Massen drängen. Mittelalterliche Kunst lässt sich oft nicht unmittelbar erfassen. Sie spricht zu einem meist erst, wenn man bestimmte Dinge weiß. Trotzdem würde niemand so schnell auf die Idee kommen, die Mittelalterabteilung zu schließen und alles in den Keller zu packen. Ich will damit sagen: Der Staat hat eine Verpflichtung seinem kulturellen Erbe gegenüber. Es geht hier um unser kulturelles Gedächtnis und darum, ein kulturelles Erbe zu bewahren, das in starkem Maße mit unserem Land verbunden wird. Und diese Pflege des kulturellen Gedächtnisses ist eben auch eine zentrale Aufgabe der Musikhochschulen. Musik ist in dieser Hinsicht übrigens eine geradezu paradigmatische Kunstform mit Vorbildcharakter: Kompositionen können nicht wie Bilder einfach hingehängt werden, sie müssen praktiziert und aufgeführt werden – und damit immer wieder aufs Neue „interpretiert“ werden. Die Aktualität von Geschichte, der Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart lässt sich in der Musik erleben wie kaum in einer anderen Kunstform.
Sie haben die Musikhochschule Freiburg aus verschiedenen Perspektiven kennen gelernt: als Student, als Lehrbeauftragter, als Professor, als Prorektor und nun als Rektor. Was macht die Besonderheit des Standorts aus?
Man muss kein Wort darüber verlieren, dass Freiburg eine zauberhafte Stadt ist. Ich hatte das Glück, an anderen herausragenden und traditionsreichen Hochschulen lehrend tätig gewesen zu sein, an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin, an der Dresdner Musikhochschule, an der Schola Cantorum in Basel. Das Besondere hier ist ein ausgesprochenes Selbstverständnis als Standort künstlerischer Exzellenz und ein großer Stolz auf die eigene Tradition, getragen von einer selbstbewussten Professorenschaft, die sich einbringt und Neuem grundsätzlich aufgeschlossen gegenübersteht. Dazu kommt eine gute personelle Ausstattung. Die Hochschule steht zudem für eine Tradition des kritischen Nachdenkens über Musik. Es gab immer den stark sichtbaren Bereich der Neuen Musik und auch der Wissenschaften. Das Miteinander von künstlerischer Praxis und Reflexion ist meiner Empfindung nach hier stärker beheimatet als an manchen anderen Orten.
Prof. Dr. Ludwig Holtmeier
Ludwig Holtmeier, geb. 1964, ist seit 2003 Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Freiburg (HfM). Seit 2012 bekleidet er das Amt des Prorektors. Zum Wintersemester 2017/18 übernimmt er das Amt des Rektors. Holtmeier studierte Klavier in Detmold, Genf und Neuchâtel, Musiktheorie/Schulmusik an der HfM Freiburg sowie Musikwissenschaft, Geschichte und Germanistik an der Albert-Ludwigs-Universitä Freiburg und der Technischen Universität Berlin. Er promovierte an der TU Berlin mit einer Arbeit zur Rezeption der musiktheoretischen Schriften Jean-Philippe Rameaus. Nach seiner Assistenzzeit an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin wurde er im Jahr 2000 auf eine Professur für Musiktheorie an die Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber« nach Dresden berufen. Von 2007 bis 2009 lehrte er historische Satzlehre an der Schola Cantorum Basiliensis, Basel.