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Foto: Juan Martin Koch
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Das kleine Einmaleins des Miteinanders

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Ein Verhaltenskodex für künstlerische Hochschulen macht Sinn
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Ein Kodex mit konkreten Verhaltensregeln für ein respektvolles Miteinander im Arbeits- und Unterrichtsalltag ist eine Maßnahme zur Prävention von Machtmissbrauch und sexuellen Übergriffen. Sie wird an Kultur- und Bildungseinrichtungen seit einigen Jahren wiederentdeckt.

Kunst- und Musikhochschulen haben als Ausbildungsstätten eine besondere Verantwortung für junge Menschen. In den „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen“ der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof) von 20161 werden die Spezifika der künstlerischen Ausbildung dargestellt. Die bukof wird im Frühjahr 2023 erneut Empfehlungen veröffentlichen und dazu gehören Kodizes. Der Deutsche Bühnenverein, das Netzwerk Regie, die Freie Szene und einzelne Hochschulen haben solche Selbstverpflichtungen erarbeitet.2

Was gibt es zu regeln?

Zunächst wird auf den Einwand eingegangen, in einem Kodex stünden häufig Selbstverständlichkeiten. Das trifft teilweise zu, doch was ist selbstverständlich und wer bestimmt das? Zumal an den heterogenen Kunsthochschulen mit Studierenden aus verschiedenen Herkunftsländern? In der Regel werden in einem Kodex Traditionen, Regeln und Ideale verschriftlicht. Dadurch dient er zunächst neuen Mitgliedern zur Orientierung, wie „der Laden läuft“ bzw. nach eigenem Anspruch idealerweise laufen sollte. Dies ermöglicht insbesondere Studierenden, die besonders abhängig sind und geschützt werden müssen, auch unangenehme oder tabuisierte Themen anzusprechen. Grenzüberschreitungen müssen thematisiert und in jedem Einzelfall eine Lösung gefunden werden3. Auf der Grundlage eines Code of Conduct können Einwände von Studierenden nicht länger nach dem Motto „das machen wir hier schon immer so“ abgetan werden. Ein Wertekodex erleichtert es also, bislang Unsagbares auszusprechen und damit Studierenden, für die eigenen Rechte einzutreten. Wichtig ist seine Wirkung auch für Menschen, die seit Jahrzehnten an einem Haus tätig sind und bestimmte gesellschaftliche und interne Debatten nicht zur Kenntnis nehmen. Durch die Diskussion über einen Kodex erfahren sie, wie die (aktuelle) Leitung und das Kollegium dieser Institution miteinander umgehen will.

Wie im Folgenden gezeigt wird, sind die Kodizes sehr unterschiedlich in Bezug auf die Zielgruppe, die Regelungsinhalte, den Grad der Konkretisierung und damit den Umfang, die Sprache (juristisch versus umgangssprachlich) sowie mögliche Sanktionen bei Missachtung. Mancher Kodex steht für sich allein, andere sind eingebunden in weitere Dokumente oder Präventionsmaßnahmen. Diese Vielfalt zeigt, dass jede Institution kreativ einen maßgeschneiderten Kodex entwickeln kann.

Bühnenverein macht’s vor

Als Reaktion auf die #Me-Too-Debatte hat der Deutsche Bühnenverein 2018 einen „Wertebasierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch“4 verabschiedet. Denn die Mitglieder des DBV teilen gesellschaftliche Werte, die ein freiheitliches und respektvolles Miteinander in ihren Betrieben fördern und stärken sollen. Dazu zählen der Schutz der Menschenwürde, die Wahrung persönlicher Integrität und gegenseitigen Respekts, die Anerkennung von gesellschaftlicher Diversität sowie die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Mitglieder dulden keine „Benachteiligungen aufgrund von nationaler oder ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, politischer Überzeugung, Behinderung, Alter, Familienstand, sexueller Identität oder Orientierung sowie sozialer Herkunft“. Sie tragen die Verantwortung, dass diese Werte in ihren Einrichtungen auch gelebt werden. Um diese Werte im Alltag wirksam werden zu lassen, hat der DBV alle unter seinem Dach organisierten Theater, Orchester und Festivals aufgefordert, auf dieser Basis geeignete Instrumente zur Realisierung zu entwickeln. Als Arbeitgeber*innen stehen sie in der Pflicht, ihre festangestellten und freiberuflichen Mitarbeiter*innen und Arbeitspartner*innen aktiv vor jeder Form von Diskriminierung, sexuellen Übergriffen, Machtmissbrauch, Mobbing und herabwürdigendem Verhalten zu schützen. Es gab viele Diskussionen, konkrete Reformen und gemeinsam wurde der Kodex weiterentwickelt und 2021 erneuert.

Kodex Regie

Das Netzwerk Regie vertritt seit 2022 als eingetragener Verein Theaterregisseur*innen und engagiert sich kulturpolitisch. Seine Mitglieder sind der Überzeugung, dass Verbesserungen der Verhältnisse im bestehenden Theatersystem nicht nur von den Theaterleitungen und der Kulturpolitik ausgehen können, sollen und müssen, sondern Regie eine verantwortungsvolle Leitungsposition mit vielen Gestaltungsmöglichkeiten sei. Vieles liege im eigenen Arbeits-, Verantwortungs- und Wirkungsbereich. Die wichtigsten Ziele sind im Kodex Regie5 verankert: angemessene Bezahlung, faire Produktionsbedingungen und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einer konstruktiven Feedbackkultur.

FAIRSPEC Kodex

Der FAIRSPEC Kodex gehört im deutschsprachigen Raum zu den ersten Richtlinien für ethische Arbeitsweisen in der Freien Szene. Durch Selbstverpflichtung und gegenseitige Rückendeckung will die Initiative FAIRSPEC problematische Verhaltensweisen in den darstellenden Künsten angehen, denn Studien und Umfragen haben in den letzten Jahren Missstände im Tanz- und Theaterschaffen aufgezeigt – besonders an größeren, subventionierten Institutionen. Das heterogene Arbeitsumfeld in der Freien Szene stehe vor ähnlichen Herausforderungen, benötige jedoch besonders behutsame und flexible Lösungsansätze, denn Künstler*innen arbeiteten hier oft mit geringen finanziellen Mitteln und wechselnden, kurzen Arbeitsverträgen. Der familiäre Umgang in der Freien Szene sei angenehm, berge jedoch auch die Gefahr von Missverständnissen und undeklarierten Machtverhältnissen. Deshalb hat die Initiative FAIRSPEC in einem einjährigen Prozess mit mehr als 150 Künstler*innen sowie Vertreter*innen von Institutionen und Förderstellen einen Kodex erarbeitet.

Die Leitmotive umfassen persönliche Kompetenzen, Aspekte der Kommunikation und Zusammenarbeit sowie die Verpflichtung, die Richtgagen von Berufsverbänden einzuhalten. Der FAIRSPEC Kodex6 kann von allen freien Künstler*innen auf Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch unterzeichnet werden.

Arbeitsgruppe der RKM

Die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) hat 2016 eine vorübergehende Arbeitsgruppe (AG) „Sexualisierte Diskriminierung und Machtmissbrauch“ eingerichtet. 2019 hat diese AG die Handlungsempfehlung „Guter Umgang im Studierenden-Lehrenden-Verhältnis, insbesondere in Lehr- und Prüfungssituationen / Prävention von Machtmissbrauch“7 verabschiedet. Darin wird der künstlerische Einzelunterricht behandelt. Hier könne sich eine Nähe entwickeln, die einerseits inspirieren und den künstlerischen Entwicklungsprozess maßgeblich fördern, die aber andererseits auch missbraucht werden könne. Der Blick auf bestehende Prüfungsverfahren zeige, dass sie manchmal „ungeschriebenen Traditionen“ folgen und von Studierenden wie auch Prüfenden teilweise als dem künstlerischen Entwicklungsprozess nicht angemessen, wenig wertschätzend und belastend wahrgenommen würden. Die AG empfahl, dass RKM-Hochschulen in einem partizipativen Prozess einen hochschulspezifischen Code of Conduct zum professionellen Umgang im Studierenden-Lehrenden-Verhältnis mit transparenten Bewertungskriterien, einer wertschätzenden Feedbackkultur und Verfahren zur Feststellung von Befangenheit entwickeln. Von einer Mustervorlage wurde abgesehen, da die hochschulspezifische Entwicklung dieser Standards Teil des Sensibilisierungsprozesses sein solle und notwendig erscheine, um von allen Hochschulmitgliedern akzeptiert zu werden.

MHS Trossingen

Die Staatliche Hochschule für Musik Trossingen hat bereits 2008 eine „Senatsrichtlinie Kodex für freundliches und faires Miteinander“ erlassen und 2022 aktualisiert8. Hier sind die Antidiskriminierungssatzung und der Code of Conduct in einem Dokument zusammengefasst. Die MHS Trossingen ist der Überzeugung, dass Leistungen im Studium, in der Kunst und in der Forschung besser in einer Umgebung des intakten Miteinanders am Arbeits- und Studienplatz gedeihen können. Mit dieser Richtlinie werden die Diskriminierungsverbote des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) angewendet. Sie gilt insbesondere auch gegenüber und zugunsten Studierenden und Lehrbeauftragten, die arbeits- oder dienstrechtlich nicht an die Hochschule gebunden und daher vom AGG nicht erfasst, jedoch besonders schutzbedürftig sind. Die Richtlinie eröffnet den betroffenen Personen ein Beschwerderecht und verpflichtet die Hochschule zu präventiven Maßnahmen. Die Regelungen gehen teilweise ins Detail. So sollte in Unterrichtssituationen auf der Ebene zwischen Lehrpersonen und Studierenden „die gegenseitige Anrede per „Du“ oder per „Sie“ einvernehmlich geklärt werden!“ (S. 2). Unter der Definition von Belästigung wird in einer Fußnote auf Körperkontakt, zum Beispiel zur Korrektur der Spielhaltung, in der Instrumentalausbildung eingegangen. „Lehrkräfte an der MHS sollten deshalb grundsätzlich vorab erfragen, ob sie einen Sachverhalt in einer Übungssituation durch Körperberührung klären dürfen und wenn dies von Seiten der Studierenden nicht gewünscht ist, selbstverständlich auf verbale Erklärungen zurückgreifen.“ (S. 3).

HfMT Köln

Die Hochschule für Musik und Tanz Köln (HfMT) geht einen anderen Weg. Seit 2016 setzt sie sich gegen jede Form von Diskriminierung und Machtmissbrauch in allen Bereichen des Hochschullebens ein. Dafür gibt es fortlaufend Kampagnen, die von einer AG aus Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden konzipiert werden. Ihre Ziele sind Sensibilisierung, Empowerment sowie die konstruktive Reflexion herausfordernder und potentiell grenzüberschreitender Situationen. Formen sind unter anderem Plakatserien, Filme, künstlerische Aktionen, Podiumsdiskussionen, Workshops und Informationsangebote.9 Außerdem hat der Senat der HfMT Köln im Januar 2020 ergänzend zum Leitbild einen Code of Conduct beschlossen. Diese Selbstverpflichtung zu einem respektvollen und aufmerksamen Umgang miteinander soll dazu dienen, im Fall von Problemen oder Konflikten, die im Hochschulalltag auftreten können, einen konstruktiven Dialog und eine gemeinsame Verständigung zu ermöglichen. Er umfasst fünf kurze Punkte und ist als Flyer auf deutsch und englisch erschienen10. Unter Punkt 2 „Reflexion von Nähe-Distanz-Verhältnis“ verpflichten sich die Hochschulmitglieder, „den Unterricht grundsätzlich in den Räumen der Hochschule (oder nach Absprache an Gastspielstätten) stattfinden zu lassen“.

mdw Wien

Die mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bekennt sich im Leitbild zu demokratischen Werten, Gleichbehandlung und Diversität11. Der achtseitige Code of Conduct von 202012 geht auf verschiedene Themen wie etwa Nebenbeschäftigungen, Verhalten bei Dienstreisen, Spenden, Korruption und Gesundheit ein und richtet sich insbesondere an Beschäftigte und Lehrende. Der Abschnitt zu „Professioneller Beziehungsgestaltung“ fordert bei Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Führungskräften und Mitarbeiter*innen sowie zwischen Lehrenden und Studierenden, eine angemessene persönliche Distanz zu wahren: „Sollte es zu pädagogisch-didaktischen Zwecken im Rahmen des Unterrichts zu Berührungen kommen, ist dabei unerlässlich, vorab zu erklären, warum die Berührung sein soll, wo berührt werden wird und die betreffende Person zu fragen, ob die Berührung erwünscht ist. Erst nach deren Zustimmung darf berührt werden“ (S. 3). Weiterhin sind Liebesbeziehungen zwischen Universitätsangehörigen geregelt; diese sind nicht verboten. Sollte es sich dabei um ein Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden handeln, ist die Institutsleitung zu informieren und unverzüglich ein Wechsel der Lehrperson zu veranlassen, um eine unbefangene und objektive Beurteilung zu gewährleisten (S. 4).

Empfehlungen

Jede künstlerische Hochschule sollte gemäß den Empfehlungen der RKM einen Kodex mit eindeutigen Regeln erarbeiten. Dieser sollte partizipativ entwickelt werden, um verschiedene Sichtweisen auszutauschen, voneinander zu lernen und alltägliche Themen breit zu diskutieren. Dies kann zum Beispiel die Frage sein, wer wen unter welchen Voraussetzungen duzen oder siezen oder anfassen darf, wie Hass, Gewalt, Liebe oder Erotik dargestellt und geprobt werden und wie verhindert wird, dass überholte Geschlechterrollen oder rassistische Stereotype mit der jeweiligen Darstellungsform reproduziert werden. Ein Code of Conduct ist kein starres Werk, sondern darf und soll sich weiterentwickeln. Bei diesem Prozess sollte die Kontinuität gewährleistet sein, etwa durch eine Arbeitsgruppe mit festangestellten Mitgliedern, die alle paar Jahre zusammentritt. Nach der Verabschiedung sollte diese Selbstverpflichtung in leicht verständlicher Sprache verfasst und je nach der internationalen Zusammensetzung der Hochschulmitglieder in weitere Sprachen übersetzt werden. Wenn der Code of Conduct dann von allen unterschrieben wird, sorgt das verschriftlichte Selbstverständnis tatsächlich dafür, dass ein freundlicher Umgang selbstverständlich ist.

1) Handlungsempfehlungen der bukof zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an künstlerischen Hochschulen vom 21.07.2016; https://bukof.de/wp-content/uploads/16-07-21-Handlungsempfehlungen-SDG-…
2) „Me-Too an den Musikhochschulen - Ein Wertekodex als Meilenstein auf dem Weg zu professionellem Umgang mit Nähe und Distanz“, Antje Kirschning in: üben & musizieren, Zeitschrift für Instrumentalpädagogik und musikalisches Lernen, 4_2018, S. 44-46 https://uebenundmusizieren.de/artikel/metoo-an-den-musikhochschulen/
3) „Sexismus – Übergriffe – Machtmissbrauch überwinden. Vom mühsamen Kulturwandel an Kunst- und Musikhochschulen“, Antje Kirschning in: Handreichung „Sexualisierter Belästigung, Gewalt und Machtmissbrauch an Hochschulen entgegenwirken“, vom Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW herausgegeben von Lisa Mense, Heike Mauer und Jeremia Herrmann https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00075205, S. 43–46
4) Deutsche und englische Version des Wertebasierten Verhaltenskodex des DBV, Fassung vom 28.10.2021 https://www.buehnenverein.de/de/verband/publikationen-und-statistiken/v…
5) Kodex Regie 20.02.2022 http://www.netzwerk-regie.de/.cm4all/uproc.php/0/DOKUMENTE/Kodex%20regi…
6) FAIRSPEC Kodex 30.8.2021 www.fairspec.ch/kodex
7) RKM-Handlungsempfehlung vom April 2019 „Guter Umgang im Studierenden-Lehrenden-Verhältnis, insbesondere in Lehr- und Prüfungssituationen /Prävention von Machtmissbrauch“: https://die-deutschen-musikhochschulen.de/wp-content/uploads/Beilage-zu…
8) Senatsrichtlinie Kodex für freundliches und faires Miteinander der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen 27.04.2022 https://www.hfm-trossingen.de/fileadmin/user_upload/pdf/Rektorat/Verhal…
9) https://www.hfmt-koeln.de/hochschule/profil/ethische-grundsaetze/
10) Code of Conduct der HfMT Köln https://www.hfmt-koeln.de/fileadmin/redaktion/downloads/flyer_code_of_c…
11) Leitbild der mdw Wien https://www.mdw.ac.at/35/
12) Code of Conduct der mdw Wien 18.08.2020 https://www.mdw.ac.at/upload/mdwUNI/files/code_of_conduct_mdw_stand_18_…

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