Er besitzt nur 1 bis 1,7 Millimeter schmalere Tasten und hat doch das Zeug, die Klavierwelt Europas zu revolutionieren: An der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart ist die europaweit erste „Sirius 6.0 Klaviatur“ im großen Steinway-D-Konzertflügel – Länge 2,74 Meter – eingebaut worden. Eine Sonderanfertigung des Remscheider Klaviaturenherstellers Kluge GmbH, die Pianistenhände um zwölf Millimeter pro Oktave „wachsen“ lassen kann.
„Ein Meilenstein pianistischer Chancengleichheit“
Das bedeutet für 87 Prozent aller Pianistinnen und 24 Prozent aller Pianisten einen Quantensprung in der Chancengleichheit. Ist doch vielfach belegt, dass die seit 1880 genormte Größe von 6.5 Zoll (16,5 cm) pro Oktave in erster Linie Frauen benachteiligt, zudem Virtuosen asiatischer Herkunft, aber auch Männer mit schmalen Händen, kleinen Handtellern oder geringeren Spannweiten. Während Klavierpädagogik-Professorin Ulrike Wohlwender im April ihre Rede zur Einweihung der „Sirius 6.0 Klaviatur“ hält, ist ihr der Stolz anzumerken: „140 Jahre lang hatten wir genormte Klaviaturen für Flügel und Klaviere – jetzt kommt endlich Bewegung in den Klavierbau.“ In Wohlwender begegnet man einer Pionierin, die ihre musikphysiologischen Herzensprojekte auf den Spuren Christoph Wagners seit über 20 Jahren mit Ausdauer, Resilienz und internationaler Weitsicht verfolgt. So markiert der hinter ihr auf der Bühne stehende Steinway mit „Sirius 6.0“-Wechselklaviatur für sie nur ein Etappenziel: „Mit dieser maßgeschneiderten Sonderanfertigung wollen wir Modellprojekt für andere Hochschulen und für Konzertpodien sein. Unser Gedanke: Wenn es hier geht, geht es in jedem Konzertsaal.“ Kein Wunder, dass sie die von ihr 2020 an der Stuttgarter Musikhochschule gegründete Zukunftsinitiative „Sirius 6.0“ genannt hat. Sirius wie der strahlendste Stern am Winterhimmel.
Pianistische Zukunft bedeutet für Wohlwender und ihre vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter: Bei Kindern, hochbegabten Jugendlichen, Frauen und Männern sollen mit „Sirius 6.0“ nicht nur schmerzhafte Überlastungssyndrome wie Sehnenüberreizung, Ganglion oder einschlafende Finger vermieden werden. In erster Linie soll es gerechter zugehen, denn bei Internationalen Klavierwettbewerben liegt noch vieles im Argen. Männer gewinnen viermal so häufig wie Frauen, erste Preise fürs weibliche Geschlecht sind noch seltener. Wie die von Erica Booker und Rhonda Boyle 2015 veröffentlichten Studien zeigen, macht noch etwas anderes stutzig: Geht es in den Wettbewerben um Bach-oder Mozart-Repertoire, sind Frauen deutlich erfolgreicher. Große Hände gleich große Preise hat vor allem mit den extremen Anforderungen zu tun, denen schmalere Hände ausgesetzt sind, wenn sie mit Brahms, Rachmaninoff oder Liszt beim romantischen Repertoire mitzuhalten versuchen.
Freiheit für die Finger
Alle, die den neuen Konzertflügel beim Stuttgarter Premierenkonzert ausprobieren dürfen, sind begeistert: Angefangen bei Silvia Molan, Mitbegründerin der Zukunftsinitiative „Sirius 6.0“ und Lehrbeauftragte für Sirius. Die Brasilianerin eröffnet das Konzert mit den fordernden „Impressões’ Seresteiras“ aus Heitor Villa-Lobos „O Ciclo Brasileiro“ (1936). Ihr Fazit: „Ich habe mehr musikalische Auswahl, weil ich jetzt mehr Freiheit habe. Und ja, dadurch, dass die Hände entspannter werden, kann ich besser steuern. Es geht nicht nur um die Spannweite 1 bis 5. Es geht auch um die Finger dazwischen, wie viel Freiheit sie haben.“ In Silvia Molan hat Ulrike Wohlwender ihre wichtigste Mitstreiterin. Anfangs noch ihre Masterstudentin für Klavierpädagogik, ist sie inzwischen geschätzte Kollegin, die nicht nur viel konzertiert, sondern darüber hinaus sowohl den Instagram-Channel von Sirius 6.0 pflegt als auch die Vernetzung nach Brasilien betreut.
Enthusiastisch klingt auch Lukas Saalfrank, 28 Jahre alt, der im Master Instrumentalpädagogik bei Wohlwender studiert. Für einen Mann habe er vergleichsweise kleine Hände, berichtet er. Saalfrank greift nicht nur bei der Aprilpremiere in die Tasten, sondern mit Brahms „Ballade“ op. 118 Nr. 2 auch sechs Wochen später: Als das Vierte Internationale Stretto-Pianofestival am 26. Mai an der Stuttgarter HMDK über die Bühne geht. Sein Resümee zu beiden Auftritten: „Dank Sirius 6.0 kann ich die Dezimen wirklich spielen. Auf der Normklaviatur war das für mich nicht möglich, dort musste ich sie arpeggieren.“ Vor ihm ist bereits die junge Masterstudentin Julia Koch mit Frédéric Chopins Etüde F-Dur op. 25 Nr. 3 in den Ring gestiegen und spricht anschließend von einem Zustand der Schockverliebtheit. Warum? „Weil das Spielgefühl für kleinere Hände oder Hände mit geringeren Spannweiten wahnsinnig angenehm ist.“
Sie hat zuvor viel auf dem kleinen Yamaha-Stutzflügel von 1,49 Metern geübt, der seit Ende Januar 2020 im Stuttgarter Proberaum steht. Auch dieses Instrument hat auf Anregung Wohlwenders Geschichte geschrieben: Er war der erste Flügel an einer europäischen Musikhochschule mit schmaleren Tasten. Obwohl in den Yamaha die 6.0-Klaviatur von Laukhuff fest eingebaut wurde, ist seine Bedeutung nicht zu unterschätzen. Mit ihm konnte die „Sirius 6.0-Initiative“ bei dem von Hannah Reimann 2021 in New York ins Leben gerufenen Internationalen Stretto Piano Festival Europa vertreten. Dass Reimann auf ihrer Website seit Mai 2024 mit Daniel Barenboims Ritterschlag wirbt – „I am happy to support and encourage this initiative“ – verwundert nicht. Spielt doch Barenboim selbst seit langem eine ungefähr sieben Millimeter pro Oktave schmalere Klaviatur, hängt diese Tatsache aber nicht an die große Glocke.
Vom Überaum aufs Podium
Mit dem frisch gekürten Steinway-D-Konzertflügel jedenfalls „haben wir es jetzt aus dem Überaum aufs Konzertpodium geschafft und eröffnen damit eine ganz neue, künstlerische Dimension“, konstatiert Wohlwender bei der Einweihung. Auch Axel Köhler, Rektor der HMDK Stuttgart, umreißt einleitend die historische Dimension des großen Steinway mit „Sirius 6.0 Wechselklaviatur“: „Ein Meilenstein der pianistischen Chancengleichheit.“ Da ist es kaum verwunderlich, dass der umgebaute Flügel zum Anziehungspunkt für jede Menge Klavierprofessoren-Prominenz geworden ist, die mit ihren Student*innen anreisen, um ihn zu hören und zu testen. Da wären Annette Seiler vom Tiroler Landeskonservatorium Innsbruck sowie jeweils eine Kollegin vom Mozarteum Innsbruck und Mozarteum Salzburg. Und natürlich findet sich Prof. Ulrich Hench von der Nürnberger Musikhochschule unter den Gästen, die sich 2023 als erste der Stuttgarter Zukunftsinitiative angeschlossen hat. In Nürnberg steht seit gut einem Jahr ein „Steinway-M-Flügel“, den die Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber mit einer „Sirius 6.0 Klaviatur“ versehen hat.
Ganz aktuell freut sich Wohlwender über einen weiteren Erfolg in Form eines aktuellen Bescheids der Deutschen Rentenversicherung. Das Schreiben hat ihr eine Opernrepetitorin von einer anderen Musikhochschule zur Einsicht überlassen. „Sie leidet an Fingerarthrose als Folge biomechanischer Überlastung“, so Wohlwender. Im Bescheid werde angekündigt, dass die Kosten „für eine fest verbaute „Sirius 6.0 Klaviatur“ in einem Konzertflügel “ bis zu einem Betrag von 10.000 Euro übernommen würden.
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