Für Augen und Ohren gewohnte Umgebungen, besonders in unmittelbarer Nähe, fördern eine Trägheit in ihren alltäglichen Wahrnehmungen. Bekanntem verweigert man Aufmerksamkeit. Zwar nicht ganz, aber doch so, dass sogar in der Hansestadt Lübeck, deren Zentrum mit 1.800 denkmalgeschützten Gebäuden zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, die meisten Menschen achtlos durch die vielen engen Straßen entlang alter Mauern gehen. Die Beobachtung von gewissermaßen abgestumpften Sinnen gegenüber der historischen und aktuellen Qualität der Arbeits- und Wohnquartiere machte Prof. Dr. Hans Bäßler oft genug auf dem Weg von seinem Haus (Baujahr 1587) zur Musikhochschule (MHL), wunderte sich über diese „existenzielle Verarmung“ und hatte die Idee, die Steine in Lübeck in übertragener Bedeutung zum Klingen zu bringen.
Musik und Architektur
„Klingende Steine“ – dieser Gedanke war der Keim, woraus ein Konzept zu einem ausgedehnten interdisziplinären Projekt der MHL reifte, um sich des Zusammenhangs von Architektur und Musik in einer Reihe von Veranstaltungen von Oktober 2015 bis zum Frühjahr 2016 schärfer bewusst zu werden. Eine glückliche Koinzidenz war dabei, dass zum 100-jährigen Jubiläum des St.-Annen-Museums die Ausstellung „Lübeck 1500 – Kunstmetropole im Ostseeraum“ vorbereitet wurde, zu der Katharina Bäuml als Expertin für Alte Musik eingeladen worden war. „Mich inspirierte besonders ein Exponat, das Flügelretabel der Fronleichnamsbruderschaft, wo das gleiche Instrumentarium zu sehen ist, das wir in unserer Capella de la Torre verwenden, nach weiteren Kontexten von Musik und Architektur zu suchen”, sagt Katharina Bäuml.
Ein verblüffender Archivfund war, dass in den beiden Türmen des Holstentors, Wahrzeichen der Hansestadt Lübeck, je Pfeifer/Trompeter und Pauker gespielt und sogar gewohnt haben. Für „Lübeck 1500” konzipierte Katharina Bäuml „klingende Führungen” sowie andere pädagogische Programme für Kinder und Jugendliche. Nachrichten von diesen Planungen erreichten auch Hans Bäßler, und es ergab sich reibungslos die gemeinsame Idee, das MHL-Portfolio und die Ausstellungsthematik zu vernetzen. Beider Initiative mündete in der Aufgabenteilung, dass Hans Bäßler die Gesamtleitung und Katharina Bäuml die künstlerische Leitung des Projekts übernahmen.
Epoche 1500 bis 1750 im wissenschaftlichen Fokus
Aufgrund der genannten Voraussetzungen bot sich an, die lokale Musikkultur zwischen 1500 und 1750 unter die Lupe zu nehmen. „Während das Barock mit den zentralen Organisten Franz Tunder und Dieterich Buxtehude in Lübeck relativ gut erforscht ist und gepflegt wird, hat eine grundlegende Aufarbeitung der Zeit davor, also Renaissance und Frühe Neuzeit, bisher noch nicht stattgefunden”, berichtet Christoph Flamm, Professor für Musikwissenschaft. „Dieses Engagement beginnt jetzt mit der Detektiv- und Rekonstruktionsarbeit von Katharina Bäuml, ihre Impulse für eine synästhetische Wahrnehmung dieser Epoche wollen wir integrieren. Sie und ihr Ensemble kommen nicht nur ins Museum, sondern eben auch in Seminare.” Lübeck hat offensichtlich von überallher Musik bezogen, man war stets aktuell informiert, hat gebündelt und für eigene Zwecke Passendes extrahiert. Aber ungeklärt ist unter anderem, wieso Notenhandschriften und -drucke aus der Petrikirche überliefert sind, woher sie kamen und welche Repertoirepflege damit verbunden war.
Außerdem lagern noch etliche unerschlossene Werke und andere Dokumente dieser Epoche in der Stadtbibliothek, wovon einige besondere ausgewählt und neu ediert werden sollen, um die Rezeption Alter Musik zu forcieren. Abgesehen vom Bereich Musiktheorie an der MHL, „wo es für die Kollegen ganz normal ist, sich mit Topoi des 15. und 16. Jahrhunderts analytisch zu beschäftigen und etwa Stilkopien zu schreiben, ist die Alte Musik, wie auch anderswo, unterrepräsentiert. Da haben wir echten Aufholbedarf”, stellt Christoph Flamm fest. Erst recht in praktischer Hinsicht, denn weder waren bisher Studierende noch Schüler mit solchen Themen konfrontiert. Deshalb werden im Rahmen des Projekts „Klingende Steine” in 70 internen Lehrveranstaltungen entsprechende Kenntnisse über Alte Musik vermittelt und für Unterrichtseinheiten didaktisch/methodisch zugeschnitten.
Alte Musik mit Außenwirkung
Nun bleibt die Dechiffrierung „Klingender Steine” keine akademische Übung für Eingeweihte. Vielmehr stellt eine auf öffentliche Gebäude der Stadt verteilte Ringvorlesung in neun Kapiteln einem interessierten Publikum verschiedene Aspekte dieses seltsamen Phänomens vor: nämlich „Das Eigene als das Fremde” (Prof. Christian Höppner als Gast) zu erkennen oder sich auf „Zahl, Maß, Proportion. Von den niederländischen Wurzeln der seriellen Musik” (Prof. Oliver Korte) zu besinnen. Aber auch „Didactica Magna und Orbis Pictus damals … – und heute?” (Prof. Gaja von Sychowski) sowie Gespräche über „550 Jahre Orgelklang in St. Jacobi” (Prof. Arvid Gast) oder „Faszination Schnitger – der Orgelklang der Zukunft im Dom zu Lübeck” (Prof. Wolfgang Sandberger) wenden sich in authentischem Ambiente zum musikalischen Wahrnehmungsverbund von Ohren und Augen.
Junge Menschen werden Katharina Bäuml im Museum fragen können, was der Unterschied zwischen einer Oboe und Schalmei oder einer Violine und Gambe ist. Um da eine positive Resonanz zu bekommen, „ist es am besten, wenn man selber begeistert ist. Das überträgt sich”, ist sie überzeugt. „Außerdem wird eine Bibliotheksrallye stattfinden, wobei die Schüler nicht nur historische Noten sichten, sondern auch singen sollen, damit Musik einer Stilepoche, die den meisten nicht vertraut ist, unvoreingenommen entdeckt werden kann und nicht fremd bleibt.” Ebenso wird Katharina Bäuml in den Hochschulseminaren und Unterrichtspraktika der Studierenden präsent sein und persönlich Kontakt zu ihrem Metier herstellen.
Die pädagogische Richtung ist, durch Handlungsorientierung den Fremdheitsgrad Alter Musik – vergleichbar mit indischen Ragas oder indonesischem Gamelan – für Schüler der Gegenwart erfahrbar zu machen. Dazu sind die Bedingungen wegen unmittelbarer räumlicher Nähe zu der Epoche optimal, „weil die klingenden Steine uns umgeben”, meint Hans Bäßler.
Doch mit dem vorhandenen Lehrmaterial lässt sich wegen mangelnder Berücksichtigung Alter Musik nicht viel erreichen. Deshalb „werden wir für das Projekt neue Schulbuchkapitel schreiben, die nicht gedruckt, sondern auf elektronischer Basis mit dem Programm iBooks Author den iPad-Klassen zur Verfügung gestellt werden. Man kann das als PDF ausdrucken, aber auch ganze Partituren oder Musikbeispiele hochladen, sodass man Aufgaben und Einzelarbeiten zuweisen kann.” Das Projekt soll aber kein modifiziertes statisches Museumsmodul sein, sondern zur produktiv-dynamischen Auseinandersetzung mit der Epoche aus dem Blickwinkel der Gegenwart führen. Schüler können in diesem Kontext etwa Smartphone-Filme drehen, Texte schreiben, Originalmusik technisch verfremden und vieles mehr kreativ ausprobieren. Eine direkte Kooperation mit der MHL entsteht durch ein Werk über Hieronymus Bosch, das Prof. Franz Danksagmüller für die Stellwagen-Orgel in St. Jacobi komponieren wird, und Schüler sollen dazu Bilder entwerfen. Außerdem gibt es noch die Produktion Bux 21 von Franz Danksagmüller (Orgel) und Prof. Bernd Ruf (Saxophon), wobei Buxtehude- und Tunder-Material zu neuen Klängen verarbeitet und gemischt wurde.
In zwei Konzerten werden Reflexionen und Erfahrungen resümiert: Die Idee einer vollkommenen Stadtgemeinschaft präsentieren Katharina Bäuml und die Capella de la Torre als „Urbs beata-Stadtmusik um 1500” am 10. Januar 2016 in der St. Aegidien Kirche. Als „Konzertante Revue” werden Studierende und Schüler im Frühjahr 2016 in der MHL ein Programm aus dem Lernprozess zum Thema „Klingende Steine” aufführen. So sind die Chancen bestens, dass der Zusammenhang von historischer Architektur und Musik in Lübeck nicht nur durch eine nachhaltig geförderte Sensibilität im kollektiven Gedächtnis bleibt, sondern die Menschen in Zukunft auf ihren Wegen zur Arbeit oder Schule stets von nachhallenden Klängen begleitet werden.
www.mh-luebeck.de
www.altemusikluebeck.de
www.museumsquartier-st-annen.de
www.capella-de-la-torre.de
Ausstellungskatalog
Jan Friedrich Richter (Hg.): Lübeck 1500 – Kunstmetropole im Ostseeraum. Michael Imhof Verlag Lübeck 2015