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Staatsminister Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Nike Weber-Köpf vom Berliner KURIER über die "Pisa"- Studie. "Das Ergebnis der Studie ist möglicherweise ein heilsamer Schock."
KURIER: Was bedeutet die "Pisa-Katastrophe" in Ihren Augen?Julian Nida-Rümelin: Wie Sie wissen, bin ich für Bildungspolitik nicht zuständig, sondern für Kultur und Medien. Aber es gibt eine kulturelle Dimension, die weit über bildungspolitische Fragen hinausgeht. Das Ergebnis der Studie ist möglicherweise ein heilsamer Schock. Andererseits bin ich zuversichtlich, dass eine Untersuchung, die die Gesamtheit der Bildungssituation zum Gegenstand hätte, für Deutschland ganz gut ausginge. Ich denke da an das duale Ausbildungssystem, das es so in fast keinem anderen Land gibt: Die Verbindung von Lehre und überbetrieblicher Ausbildung.
Die Situation an deutschen Universitäten kennen Sie aus eigener Anschauung.
Julian Nida-Rümelin: Was die Pisa-Studie erfasst, ist nicht Wissen, sondern Verstehen. Das Ergebnis ist alarmierend - und entspricht meinen Einschätzungen: Nämlich dass die Fähigkeit, sich mündlich auszudrücken, einen gegliederten Vortrag zu halten, Texte zu lesen und zu verstehen, dramatisch zurückgegangen ist. So ist ein Großteil der Hausarbeiten von Erstsemestern nicht mehr Schriftdeutsch. Das ist irgendein Deutsch. Aber nicht mehr Schriftdeutsch.
Haben Sie und Ihre Kollegen diesen Sachverhalt nie thematisiert?
Julian Nida-Rümelin: Was die Pisa-Studie jetzt ganz deutlich erhärtet hat, wurde früher von Bildungsforschern geleugnet. "Das sind diese Hochschullehrer", hieß es. "Erst schrauben sie ihre Erwartungen immer höher und wundern sich dann, dass sie nicht erfüllt werden können."
Was hat die Köpfe unserer Kinder leerer gemacht?
Julian Nida-Rümelin: Ein Aspekt liegt in der 68er-Revolte mit ihren unterschiedlichen Wirkungen. Einerseits war das Programm "Bildung und Kultur für alle" in Deutschland überfällig. Denn beim Anteil der Studierenden pro Jahrgang war und ist Deutschland im europäischen Vergleich rückständig. Andererseits wurde das Leistungsprinzip entwertet. Es ist gut, alle mitzunehmen. Aber schlecht ist, wenn der bequemste Weg zum Weg der Wahl wird.
Selbst unsere 15-jährigen Spitzendenker schnitten im internationalen Vergleich mäßig ab. Vermissen Sie die alte Elite?
Julian Nida-Rümelin: Ich bin kein Freund elitärer Gruppenbildungen und des Unter-sich-Bleibens. Wie zum Beispiel in Frankreichs Ministerien, in denen sich immer wieder die Leute aus den gleichen Schulen ein Stelldichein geben. Im Übrigen: Wer sich selbst als "Elite" bezeichnet, weckt den Verdacht, dass er nicht dazugehört.
Gibt es für die Bildungsmisere eine Lösung?
Julian Nida-Rümelin: Die Lösung liegt nicht allein in den viel diskutierten Strukturreformen, in der Frage der Klassengrößen an unseren Schulen oder dergleichen mehr. Sondern es handelt sich vielmehr um eine große kulturelle und gesellschaftliche Herausforderung.
Das heißt?
Julian Nida-Rümelin: Es ist eine Frage des Selbstverständnisses, der kulturellen Atmosphäre. Verstehen wir uns in erster Linie als Nation der Autobauer, obwohl es natürlich ein unbestrittener Erfolg ist, Autoexporteur Nummer eins zu sein. Oder verstehen wir uns als Land der Bildung und Kultur. Letzteres ist ins Hintertreffen geraten.
Warum hat Bildung für unsere Identität diesen hohen Stellenwert?
Julian Nida-Rümelin: Im 18. Jahrhundert entstand im deutschen Sprachraum die Idee der deutschen Kulturnation. Deutschland war zu dieser Zeit kein Staat, sondern zersplittert in viele Herzog- und Fürstentümer. Also im Gegensatz etwa zu Frankreich politisch rückständig. Die Kulturidee schuf eine zwar kleine, aber tragende Bildungsschicht in Deutschland, um die uns der Rest der Welt beneidete. Deutschland hatte exzellente Universitäten und Gymnasien. Dies sicherte der deutschen Nation die Spitzenstellung in Bildung, Wissenschaft und Forschung, über Jahrzehnte hinweg. Das Wort vom Lande der Dichter und Denker machte die Runde.
Und davon kann jetzt keine Rede mehr sein ...
Julian Nida-Rümelin: Diese Hochphase endete mit dem Ersten Weltkrieg. Die sozialen Verwerfungen des Krieges und der Inflation erschütterten das Bildungs-Bürgertum. Der Nationalsozialismus verfolgte, vertrieb und tötete einen großen Teil der deutschen, insbesondere der jüdischen und der kritischen Intelligenz. Und nach dem Krieg galten über Jahrzehnte andere Prioritäten.
Aber wie ändert man kulturelle Atmosphäre? Das ist schließlich keine Frage des großen Ganzen, sondern jedes Einzelnen.
Julian Nida-Rümelin: Mittlerweile hat fast ein Drittel der Jugendlichen kein Interesse an Büchern. Bildung spielt für ihr Selbstwertgefühl eine untergeordnete Rolle. Kinder müssen ja nicht gut in der Schule sein. Aber für irgend etwas sollten sie sich interessieren. Bei uns scheint im Unterricht etwas schief zu laufen. Im internationalen Vergleich fehlt es offenbar an pädagogischem Verständnis. Ein Mathematik-Lehrer hat im Grunde das Gleiche studiert wie ein Diplom-Mathematiker. Ein wissenschaftliches Studium, ausgelegt auf die Forschung. Einmal zurück in der Schule, muss er den Rest seines Lebens mit mathematischen Banalitäten verbringen. Ein Stoff, der in der Vorlesung in wenigen Wochen abgehakt wurde.
Unsere Misere ist nun öffentlich. Hat man mit deutschem Abschluss auf dem internationalen Markt überhaupt noch eine Chance?
Julian Nida-Rümelin: Anders als in den USA verlassen unsere Gymnasiasten die Schule mit relativ breiten Kenntnissen, etwa in Fremdsprachen. Dieser Vorsprung geht nach meinem Eindruck - ich kann das auch aus persönlicher Erfahrung bestätigen, da ich in den USA gelehrt habe - im Laufe des Studiums wieder weitgehend verloren. Trotzdem können sich unsere Diplomierten und Magistrierten im internationalen Vergleich ganz gut sehen lassen. Aber in den USA wird der akademische Nachwuchs in der Zeit nach dem Abschluss in den Gradeschools weit intensiver qualifiziert und gefordert. Da ziehen die Amerikaner an uns vorbei.
Quelle: http://www.bundesregierung.de