Das für Außenstehende vielleicht etwas sonderbar klingende Fach „Schulpraktisches Klavierspiel“ soll Musiklehrerinnen und Musiklehrer auf die spätere Berufspraxis vorbereiten. Seit 1992 wird von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar hierfür alle zwei Jahre ein eigens initiierter Wettbewerb ausgerufen. Ob es sich dabei um nüchternes Schulhandwerk, humorvolle Klavierkunst oder doch musikalische Universalität Lisztscher Prägung handelt, hat unser Autor Thomas Grysko beim Besuch des 13. Bundeswettbewerbs für Schulpraktisches Klavierspiel Grotrian-Steinweg herauszufinden versucht. Hierfür begleitete er die Weimarer Schulmusikstudentin Josefine Schlät Ende April 2016 auf ihrem Weg durch den Wettbewerb.
„Noten zu haben ist schon auch schön!“, versichert mir Josefine bei unserem ersten Zusammentreffen. Allerdings ist gerade die Improvisation ein wesentlicher Bestandteil des Bundeswettbewerbs „Schulpraktisches Klavierspiel“ und eine vom Publikum hoch geschätzte Disziplin: aus einem initiierten oder unmittelbaren Impuls heraus, spontan und ohne Notentext gemäß der Juryvorgaben zu musizieren. Josefine Schlät, Weimarer Studentin der Schulmusik, nimmt an diesem in Deutschland einzigartigen Wettbewerb zum ersten Mal teil und verrät mir am Vorabend, wie aufgeregt sie ist: „Ja, ich hab’ mich sehr überwinden müssen, zumal ich immer wieder Vorspielangst habe. Und dann habe ich mir den Saal mit den ganzen Leuten vorgestellt und gedacht: Nee …!“
Ursprünglich ein Vorschlag ihres Professors Gero Schmidt-Oberländer, waren es letztlich Freunde, die Josefine in freundlicher Sturheit und im Wissen um ihre Fähigkeiten zur Teilnahme ermunterten. „Ich habe mich dann um Weihnachten herum entschieden und hatte auch für meine Bachelor-Prüfung schon Lieder vorbereitet – es stand also bereits ein Grundgerüst. Über die Semesterferien habe ich mir dann etliche Chorsatzbücher und Kunstlieder angeschaut, Blattspiel geübt und in den letzten Wochen auch mal Ernstfallrunden geprobt. Das hat eigentlich gut funktioniert. Na ja, die Lieder manchmal etwas mittelprächtig“, erinnert sie sich lachend.
Freiheit mit Tücken
Nach Wochen intensiver Vorbereitung folgt nun die Ungewissheit, was am morgigen ersten Wettbewerbstag passieren wird, zumal ein ausgeklügeltes Losverfahren regelt, wann die Bewerber spielen dürfen. „Ich weiß gar nicht, ob ich morgen schon dran bin“, sagt Josefine. „Am Anfang jedenfalls gibt es die Liedrunde, die über zwei Tage läuft.“
Am nächsten Tag treffe ich vor dem Eröffnungskonzert Stefan Bauer, Professor für Schulpraktisches Klavierspiel und zugleich federführender Leiter des Wettbewerbs. „Musiklehrer sollten in der Lage sein, die Schüler mit einer groovigen Begleitung aus ihren Sitzen zu locken, gut abzurocken! Im Wettbewerb wird deshalb auch Handwerkliches verlangt, das die Kernkompetenzen des Schulmusikers in den Fokus rückt, wenn man etwa im Unterricht Lieder begleitet oder als Chorleiter aus der Partitur spielt“, erklärt Bauer. „Die größte Herausforderung bietet allerdings die Improvisationsrunde, weil man kaum an Grenzen gebunden ist und diese Freiheit ihre Tücken birgt. Das hat dann vor allem mit spontaner Kreativität zu tun.“
Noch vor dem Eröffnungskonzert wird unter den insgesamt 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmern von bundesweit zehn Musikhochschulen die Reihenfolge ausgeknobelt. In der ersten Runde sollen sie zeigen, wie sie selbst ausgewählte sowie in kurzer Klausur erarbeitete Lieder im Sinne großer stilistischer Bandbreite umsetzen. Für Josefine geht es bereits am frühen Nachmittag los – und somit gleich am ersten Tag zur Sache! Gegen 14.00 Uhr füllt sich langsam der Saal „Am Palais“ und die sieben Jurymitglieder sowie zahlreiche Besucher besetzen die Plätze. Als dritte Teilnehmerin aufgerufen, betritt die 24-Jährige gefasst, aber lächelnd, die Bühne. Ihr Einleitungsstück ist sogleich eine selbstbewusste Ansage und verarbeitet mithilfe ausgefeilter Harmonik und virtuosen Läufen ein melancholisches jüdisches Lied über einen Zigarettenverkäufer.
Vielfältiges Repertoire
Danach folgen der Rocktitel „Hold the Line“ und das Lied „Freut euch des Lebens“, wobei die junge Künstlerin jeweils als Sängerin und Pianistin zugleich agiert. Zum Abschluss präsentiert sie den Jazzstandard „There will never be another you“. Dann donnert Applaus auf. Diese erste Runde ist schon mal gut gelaufen! Nach ihrem Auftritt steht Josefine draußen im Foyer, umringt von ihren Freunden und lacht verlegen – der kleine Vorraum ist mittlerweile überfüllt, viele umarmen sie und gratulieren ihr. Sie selbst ist noch immer aufgeregt: „Ich komme jetzt gerade erst raus aus meinem Delirium …!“ Im weiteren Verlauf der Liedrunde fällt mir die große Vielfalt des Repertoires der Teilnehmer auf, denn vom Volkslied über Popmusik bis zum Jazzstandard ist stilistisch alles vertreten und dem Zuhörer wird geboten, was man aus vielen konventionellen Konzerten kaum kennt: Authentische Überraschungsmomente!
Die am nächsten Tag folgende Runde im Bereich „Blattspiel- und Partiturspiel“ ist etwas für den visuell orientierten Musiker, denn hier müssen Notenzeichen ad hoc in klingende Musik verwandelt werden. Immer wieder sind dabei auch kleinere Ensembles zu erleben, wenn Sänger und Instrumentalisten vom Institut für Musikpädagogik und Kirchenmusik die Teilnehmer begleiten. Mehr als einmal hört das Publikum „Mignons Lied“ von Moritz Hauptmann mit den Textzeilen von Johann Wolfgang von Goethe, ein Stück, das den Teilnehmern erst kurz vor dem Auftritt gegeben wird. Nach dem gestrigen Erfolg ist Josefine mit ihrem zweiten Auftritt allerdings sehr unglücklich: „Also die Blattspielrunde ging daneben, und das ist mir unangenehm, weil ich dachte, ich habe mich blamiert. Ich war diesmal einfach nicht gut!“ Motivation ist in diesem Falle alles, denn das Herzstück des Wettbewerbs steht mit der morgigen Improvisationsrunde ja noch bevor!
Stefan Bauer berichtet mir unterdessen bei einem Kaffee, dass es bereits einen DDR-internen Wettbewerb gab, der 1988 erstmalig unter Einbeziehung des Volksbildungsministeriums stattfand. „Ursprünglich war dieser als ‚Leistungsvergleich Schulmusikausbildender Einrichtungen der DDR im Vielseitigkeitsfach Schulpraktisches Klavierspiel‘ gegründet worden“, erzählt er lachend. „Nach der Wende hat Wolfram Huschke, damals Institutsdirektor der Schulmusik, gesagt: ‚Dieser Wettbewerb, das ist etwas ganz besonderes, das wäre doch schön, wenn das weitergehen würde‘. Über private Kontakte hat man mit der Braunschweiger Klaviermanufaktur Grotrian-Steinweg glücklicherweise auch einen äußerst engagierten Partner und Finanzier gefunden. Sicher gibt es anderswo auch Improvisationswettbewerbe, aber diese Vielseitigkeit in Hinblick auf Liedbegleitung, Partiturspiel und Improvisation findet man sonst nirgends.“
Spontane Pfeifeinlagen
Im gefüllten Festsaal des Fürstenhauses soll am dritten Tag die Improvisationsrunde zeigen, wie spontan und einfallsreich die Teilnehmer sind. Eine Klangachterbahn! Mancher verarbeitet tonmalerisch Ballerina-Tanzschuhe, andere erschaffen im Sinne einer Stilimitation neueste Bach-Präludien. Es gibt Popsongs und spontane Pfeifeinlagen, Improvisationen über Passagen aus Märchen von Andersen oder auch über Bilder aus dem Kartenspiel „Dixit“. Josefine, die heute sehr gut gelaunt erscheint, verzaubert die Zuhörer mit einer träumerischen Improvisation im Stile der „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn, erfindet einen entschlossenen Tango und vertont mit eloquenter Basslinie kontrapunktisch äußerst geschickt den Gang durch ein düsteres Labyrinth. Es ist offensichtlich, dass ihr das Improvisieren sehr viel mehr liegt als von ihr selbst angekündigt. Im Publikum lauschen gespannt auch ihre Eltern, die extra für die Abschlussrunde angereist sind. Unter großem Applaus geht Josefine von der Bühne. Sie lächelt und wirkt sehr zufrieden.
„Die erste und jetzt die dritte Runde sind beide richtig gut gelaufen! Ich war zwar sehr nervös, habe mich aber auf der Bühne total gut gefühlt und hatte das Gefühl, dass ich das, was ich konnte, auch gezeigt habe. Letztlich habe ich mich über meine eigene gestrige Enttäuschung geärgert, da es ja doch mehr ums Mitmachen geht!“ Am Ende loben tatsächlich alle, Teilnehmer, Jurymitglieder und Zuschauer einhellig die entspannte und sympathische Atmosphäre dieses Weimarer Wettbewerbs.
Unter den Preisträgerinnen und Preisträgern ist Josefine leider trotzdem nicht, auch wenn ich ihr persönlich den Preis für die beste Improvisation sehr gegönnt hätte (Handwerk und musikalische Dramaturgie beherrscht sie, ohne auf Effekte zu verzichten). Aber wer weiß, zu welchen Wettbewerben sie noch Gelegenheit haben wird … Apropos Ballerina-Schuhe: Nach dem Wettbewerb erfahre ich, dass Josefine zum kommenden Wintersemester ganz neue Pläne verfolgt. „Ich unterbreche dann mein Studium für ein Jahr und ziehe nach Leipzig, um eine Tanzpädagogikausbildung zu machen. Darauf freue ich mich jetzt richtig!“ Musikpädagogen sind eben doch Universalkünstler, Popstars, Virtuosen und Gelehrte zugleich. Womit wir wieder bei Franz Liszt wären – auch wenn der nicht gerade als großer Tänzer bekannt wurde …