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Sitzenbleiben ist kein Grund mehr zum Schämen

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Hand aufs Herz! Sind Sie, werter KIZ-Surfer, schon mal sitzen geblieben? Egal, ob wegen Russisch oder wegen Latein. Die schulische Ehrenrunde ist heutzutage lediglich ein Lapsus. Vielleicht waren sie doch "nur" hochbegabt?

Berlin (ddp). Ausgerechnet Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hatte als Erste ihr "Coming Out". In einem Zeitungsinterview gab sie zu, als 16- oder 17-Jährige wegen Latein sitzengeblieben zu sein. Andere prominente Politikerkollegen folgten ihr auf den Fuß. Auch Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) musste einem Zeitungsbericht zufolge wegen Latein eine Ehrenrunde drehen. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) soll in der zehnten Klasse hängen geblieben sein. "Es gab da ein paar Meinungsverschiedenheiten wegen meiner schulischen Leistungen und meiner Disziplin", verriet er der "Bild"-Zeitung.

Sitzenbleiben, so scheint es, ist salonfähig geworden und kein Grund mehr, den Mantel des Schweigens darüber zu decken - allerdings nur, wenn aus den Betroffenen später etwas geworden ist. Das meint zumindest der Wattenscheider Psychologe Hagen Seibt. "Sehr viele Sitzenbleiber machen später eine große Karriere", hat der Experte beobachtet.

Paradebeispiel ist der Physiker Albert Einstein, der trotz seiner Fünf in Mathe weltberühmt wurde. Die 281 471 Schüler, die allein im vergangenen Schuljahr von dem nicht seltenen Phänomen betroffen waren, befinden sich in prominenter Gesellschaft: Zu den "Durchrasslern" sollen auch die TV-Talker Johannes B. Kerner und Harald Schmidt, Rock-Idol Sasha und Popsänger Matthias Reim sowie Deutschlands Star-Moderator Thomas Gottschalk gehören.

Psychologe Seibt, der selbst auf dem Gebiet der Begabtenförderung tätig ist, hat zu dieser Thematik seine eigene Theorie. Er schätzt, dass ein Drittel der Sitzenbleiber hochbegabte Schüler sind. "Es müsste genauso viele gelangweilte Schüler geben wie Sitzenbleiber", sagt er. Wer als Fünfjähriger schon die Tageszeitung liest und dann später in der Schule erst die einzelnen Buchstaben lernen soll, schaltet ab. Seibt ist deshalb für eine Begabtenförderung im frühen Schulalter. Mit einfachen Tests ließe sich herausfinden, wer hochintelligent oder lernbehindert ist. Besonders schlaue Kinder könnten dann ein oder zwei Klassen überspringen und seien dann mehr gefordert als unter Gleichaltrigen.

Seit den für deutsche Schüler verheerenden Ergebnissen der PISA-Studie wird über dieses Thema debattiert. Neue Nahrung bekam die Diskussion mit dem Vorstoß der niedersächsischen Kultusministerin Renate Jürgens-Pieper (SPD), die das Sitzenbleiben abschaffen will. Doch wirklich neu ist ihre Forderung nicht. Im Juli vergangenen Jahres füllte die Lehrergewerkschaft GEW in Sachsen mit ihrer Forderung nach Abschaffung der schulischen Ehrenrunden das Sommerloch. Jetzt zieht die Diskussion größere Kreise und deshalb zahlreiche Sitzenbleiber-Geständnisse Prominenter nach sich.

Wer sich allerdings gar nicht erst in diese Gefahr begeben will, kann mit Hilfe des Internets vorbeugen oder sich für die Ehrenrunde rüsten: Unter www.sitzenbleiben.de gelangt der Surfer auf die Seite des Kurpfalz-Internats in Bammental. Die private Ergänzungsschule bietet unter anderem Sommerferienkurse in Mathe, Latein und Deutsch an. Sie wirbt mit dem sinnigen Spruch: "Wenn intelligente Kinder schlechte Schüler sind, helfen wir ihnen aus der Krise." Etwas preiswertere Hilfe gibt es unter der Adresse www.sitzenbleiber.de, wo Hilfe für die Hausaufgaben angeboten wird. Auch hier verspricht die Werbung Enormes: "Überrasche deine Lehrer sofort mit immer perfekten Hausaufgaben."

Susann Huster