Nur von und mit seinesgleichen zu lernen, vermeidet Chancen universaler Bildung. Globale Kommunikation via Internet überwindet zwar alle geographischen Grenzen virtuell, ersetzt aber nicht persönliche Begegnungen mit Kulturen außerhalb des eigenen lokalen Umfelds. Denn erst physische Mobilität kann die Erwartungen auf eine reale und nachhaltige Erweiterung des Erfahrungsradius, im Sinne international fundierter kultureller Kompetenz, erfüllen. Mit dieser Überzeugung werden an der Musikhochschule Lübeck (MHL) nun Initiativen forciert, Partnerschaften zum wechselseitigen Vorteil mit Musikhochschulen gerade außereuropäischer Standorte zu beginnen oder zu intensivieren, um sich auf einen zeitgemäßen Modus internationaler Beziehungen einzustellen.
Internationale Beziehungen sind keine gesetzliche Aufgaben der Musik- und Kunsthochschulen in Schleswig-Holstein, allerdings eine von der Landesregierung durchaus eingeforderte Gepflogenheit, die schon seit ungefähr zwanzig Jahren im Selbstverständnis und der Praxis der MHL begründet ist, wie Prof. Dieter Mack, Komponist, Vizepräsident und zuständig für Internationales, erläutert. Bisher zeige sich Internationalität vor allem intern, nämlich durch einen extrem hohen Anteil ausländischer Studierender, „über die wir uns natürlich freuen“, sagt Dieter Mack. „Aber sie kommen, viele aus dem asiatischen Raum, hierher, weil sie bei uns okzidentale Musik studieren wollen, womit sie oft schon in gewisser Hinsicht vertraut sind. Was fehlt, ist eine kontinuierliche Rückkoppelung, also Wissen und Erkenntnisse über die Musikkulturen ihrer Herkunftsländer an der MHL zu vermitteln.“ Der Bologna-Prozess und die vom DAAD moderierten Erasmus-Programme haben in den letzten Jahren Kontakte im überschaubaren EU-Rahmen etabliert, doch die kulturellen Unterschiede sind da nicht so signifikant. Deshalb möchte man an der MHL dezidiert weiter über die eigenen Landesgrenzen schauen, „um nun wirklich ganz andere Kulturen, Denkweisen und Lehrmethoden in ein Konzept zu integrieren, das Eigenes und Fremdes in bilateraler Partnerschaft berücksichtigt und bei dem Respekt vor Vielfalt und Differenz der zentrale Aspekt ist“, meint Dieter Mack. Vereinzelt waren Dozenten zu Gast in Lübeck, etwa ein Komponist von den Phlippinen, der sehr gut angenommene, interessante Seminare über seine Klangästhetik und ethnische Minderheiten veranstaltet hat. Auch pflegt die MHL seit 2002 eine Kooperation mit dem Xi’an Konservatorium in China, indem gegenseitige Besuche von Ensembles und Lehrenden organisiert werden.
Kooperationsprofile
Über solche punktuellen Kontakte hinaus sollen jetzt gezielt weitere Musikhochschulen für langfristige Partnerschaften und qualitative Austauschprogramme im Sinne einer gleichwertigen Kommunikation selektiert werden. Gerade zurück von einer Sondierungsreise erzählt Dieter Mack von seinen Beobachtungen an den jeweiligen Institutionen: Forschung und künstlerische Tätigkeit (artistic research) werden zum Beispiel an der Université de Montréal (Kanada) und dem Concordia Institute in Verbindung gebracht, und zwar in Versuchsanordnungen, die hochschulübergreifend entwickelt und ausgewertet werden.
Von dieser kreativ-explorativen Interdisziplinarität, die nicht unbedingt erfolgsorientiert ist, und dem freiem experimentellen Geist, etwa bei den Untersuchungen im BRAMS (International Laboratory for Brain, Music and Sound Research)-Netzwerk, könne man sich eher unkonventionelles wissenschaftliches Arbeiten gerade im Bereich Komposition aneignen. In Fullerton bei Los Angeles (USA) besteht eine Beziehung zur School of Music, wo die MHL-Big Band bereits aufgetreten ist. Weil es an der MHL keinen Studiengang für Popularmusik und Jazz gibt, sollen dort talentierte Jazzmusiker aus Lübeck die Gelegenheit bekommen, mit hochkarätigen Fachleuten dieses Genres zu studieren. Umgekehrt haben Jazz-Studierende aus Los Angeles großes Interesse daran, instrumentale Praktiken insbesondere der zeitgenössischen europäischen Musik, die nicht in Fullerton unterrichtet werden, entsprechend der gewünschten bilateralen Situation kennen zu lernen. Bezogen auf die Big Band, ist Jazz auch ein Faktor bei der angestrebten Kooperation mit dem Konservatorium in Tblissi/Tiflis (Georgien), wo der ehemalige MHL-Student und Saxofonist Reso Kiknadze seit 2012 Rektor ist. Der Fokus soll aber eher elektronische Komposition und musikethnographische Forschung der indigenen Chor- und Gesangskultur als Reflexionebene für die eigene Vokalkunst sein.
Gäste aus Thailand
Aktuell in diesem Kontext ist der Aufenthalt von vier Studierenden des Princess Galyani Vadhana Institute Bangkok (Thailand), das vor vier Jahren mit Beratung führender Vertreter des Präsidiums der Association Européenne des Conservatoires (AEC) gegründet wurde. Mit der Vizepräsidentin dieser Hochschule hatte Dieter Mack schon zuvor übers Südostasien-Netzwerk des Goethe-Instituts bei Kompositionswettbewerben zusammen gearbeitet und sich nachfolgend persönlich vom hohen Qualitätsanspruch der Musikausbildung in Bangkok überzeugt. Nach einer von Prof. Jörg Linowitzki im Auftrag der MHL durchgeführten Audition wurden vier Studierende ausgewählt und für vier Wochen nach Lübeck eingeladen, im Wintersemester 2016/2017 an Proben und symphonischen Aufführungen des MHL-Orchesters teilzunehmen. Über ihre Erwartungen sagen sie unisono, dass sie neue Freunde finden und ihre Spieltechniken verbessern wollten. Yanini Pongpakatien (Violine) und Phattarapoi Sawangchaeng (Viola) stellen fest, dass die Kommilitonen hier zwar ein höheres Niveau, ihnen aber auch geholfen haben. „Auch sind die Studierenden hier konzentrierter und können schwierigere Werke und längere Konzerte spielen, als bei uns in Thailand, wo wir maximal eine Symphonie pro Abend aufführen“, vergleicht Kiratikorn Promdewet (Violine) die Praxis beider Länder. Nun sind alle motiviert, mehr, insbesondere rhythmische Parameter, zu üben und die Instrumente genauer zu stimmen. Dann, hoffen sie, haben sie eher reale Aussicht auf einen Arbeitsplatz. „Diese Erfahrungen wollen wir“, so Wathusiri Karawapong (Kontrabass), „in unserer Hochschule gerne weiter geben.“
Elementare Musikpädagogik (EMP) in Indonesien
Wie sich die Wahrnehmung einer fremden Kulturregion radikal verändert, wenn man länger vor Ort ist, konnte Prof. Marno Schulze im Selbstversuch erleben, nachdem er im Herbst 2016 die Universitas Pendidikan Indonesia (UPI: für Erziehungswissenschaften und Lehrerausbildung) in Bandung besucht hatte, um Planungen für einen EMP-Studiengang vorzubereiten und zu leiten. So ist etwa ein Kindergarten in Indonesien nicht wie in Deutschland eine Betreuungs-, sondern eine Bildungseinrichtung. Die Kinder sitzen zeitweise auf Schulbänken und ihre Mütter sind anwesend. Irritiert hat ihn eine Ambivalenz zwischen Disziplin und Spontanität, als ein Junge plötzlich einen metrischen Rhythmus auf einer Trommel begann und dann andere Kinder das dazu passende Lied sangen. Andererseits erstaunte ihn die generelle Offenheit der Menschen beim Thema EMP, bezogen auf frühkindlichen Unterricht besonders die Eigenaktivität der Kinder zu fördern, etwa mit Methoden, die Improvisation als legitimes musikalisches Gestaltungsmittel erlauben. Darüber hinaus gibt es deutliche Dispositionen, einheimische und europäische Musik zu mischen, wie bei einem Auftritt eines Gamelan-Ensembles, der einem Rockkonzert ähnlich war. In diesen Beschreibungen spiegelt sich für Marno Schulze das Leben in einer kulturell heterogenen Gesellschaft, deren Dynamik sich drastisch von vergleichsweise homogenen Strukturen in Deutschland unterscheidet.
Solche transeuropäischen Perspektiven als feste Konstituenten internationaler Beziehungen in die Ausbildung an der MHL aufzunehmen kann das Bewusstsein der Studierenden für Differenz und Vielfalt der Weltkulturen sensibilisieren und den Weg zu Dialogen auf gleicher Augenhöhe ebnen.