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«Archiv der verstummten Stimmen» +++ Zentrum für verfemte Musik widmet sich von Nazis verfolgten und in Vergessenheit geratenen Komponisten +++ Gründungsveranstaltung am Wochenende
Schwerin/Rostock (ddp-nrd). Volker Ahmels steht vor den mannshohen Regalen in seinem Arbeitszimmer im Schweriner Konservatorium und greift scheinbar wahllos nach einem der zahlreichen Ordner mit Notenblättern, Handschriften und Partituren. Sie stammen von Komponisten, die von den Nazis verfolgt wurden und später in Vergessenheit gerieten. Ahmels breitet vor sich drei Blätter mit einem Stück von Aldo Finzi aus. Auf die Komposition hatte ihn vor einigen Jahren ein Nachfahre des 1945 verstorbenen jüdischen Künstlers hingewiesen. 300 Stücke von mehr als 50 Komponisten stehen bislang im Schweriner «Archiv der verstummten Stimmen». Zu jedem könnte Ahmels eine Geschichte erzählen.
Seit 2001 werden in Schwerin bei jährlichen Wettbewerben Stücke der ständig wachsenden Notensammlung aufgeführt. Einen Großteil der Komponisten kannte auch Pianist Ahmels zuvor nicht. Er würde nach und nach gern alle Werke des Archivs zur Aufführung bringen. Mitunter ließen kleine Plattenfirmen einzelne Kompositionen einspielen. Die Musik sei zum Teil hochanspruchsvoll, erläutert Ahmels. Neben avantgardistischen Stücken gebe es auch Jazz- und Chor-Kompositionen. Das Archiv will neben dem Werk aber auch den Künstler würdigen. Oft würden mit zusätzlichen Ausstellungen deren Lebensläufe und Wirkungsgeschichte vor dem Vergessen bewahrt.
Die Notensammlung ist Bestandteil des Zentrums für verfemte Musik, das am Wochenende an der Rostocker Hochschule für Musik und Theater gegründet wird. Ziel des Zentrums sei es, das Werk von durch die Nazis verfolgten und ermordeten Künstlern wieder in das musikalische Gedächtnis zu rufen, sagt Birger Petersen. Er wird die Einrichtung gemeinsam mit Ahmels und dem französischen Musikwissenschaftler Philippe Olivier leiten. «Die Musik verfemter Komponisten wird oft nur an Gedenktagen aufgeführt», sagt Petersen. Das wolle man ändern, indem die Noten einem breiten Publikum zugängig gemacht werden.
«Die Musik ist oftmals so virtuos und fröhlich», schwärmt Ahmels. Über diese Brücke könne vor allem die Jugend einen Zugang zur Geschichte finden. Es gebe immer weniger Zeitzeugen, die von der Unterdrückung während der Nazidiktatur berichten können. Wenn sich Schüler aber mit den Schicksalen hinter der Musik befassten, werde diese Zeit erlebbarer. Deshalb wollen sich die Leiter des Zentrums für verfemte Musik vor allem für pädagogische Projekte stark machen. »Wir wollen in Schulen gehen und junge Musiker für Komponisten interessieren, deren Schicksal in Vergessenheit geraten ist«, sagt Petersen. Geplant seien spezielle Seminare für Studenten, Angebote für Musiklehrer sowie Konzertreihen.
Erste Erfolge verzeichnet das Zentrum bereits, obgleich es noch in den Kinderschuhen steckt. Es gab Anfragen und Kooperationswünsche aus mehreren Bundesländern. Ein jüdisches Orchester sowie jüdische Zentren meldeten sich schon bei den Mecklenburgern. Es gebe allein im Nordosten viele Initiativen, die sich dem Andenken verfolgter Künstler widmeten, sagt Ahmels. Mit einem Zentrum könnten diese Angebote verknüpft werden. Auch eine internationale Zusammenarbeit mit Einrichtungen, die sich mit der Aufarbeitung verfemter Musik befassten, sei angedacht. Kontakte gebe es bereits nach Frankreich, darunter zu den Organisatoren des Internationalen Musikfestivals »Verstummte Stimmen".
Darüber hinaus will das Zentrum auch den Kontakt zu Hinterbliebenen von Musikern und Komponisten knüpfen, deren Lebenswerk durch die Nazis zerstört wurde. So manche Komposition sei gewiss noch unentdeckt, einige lägen bis heute nur als Handschriften vor, sagt Ahmels, der selbst Verbindungen zu Familien von während der NS-Zeit verfemten Musikern pflegt. Einer davon ist der 75-jährige Petr Pokorny, dessen jüdische Familie von den Nazis umgebracht wurde. Der Komponist wird in den kommenden Tagen zu Gesprächsrunden und Konzerten in Rostock und in der Synagoge Hagenow erwartet.
Jürgen Wutschke und Katrin Schüler