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Den bildungsbürgerlichen Silbersee aufmischen

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Die Elbphilharmonie Hamburg rüstet sich mit einem Sechs-Säulen-Konzept zur Publikumsentwicklung für die Zukunft
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Da Hamburg mit der Elbphilharmonie sein Platzangebot in der Klassik mehr als verdoppeln wird und schon jetzt die neobarocke Musikhalle mit ihren zweitausend Plätzen bestenfalls in Konzerten eines chinesischen Pop-­Pianisten voll gefüllt ist, rauchen hinter der imaginären Bühne des neuen Konzerthauses, das nach einer jüngst verkündeten Verschiebung nun im Sommer 2011 seine Pforten öffnen soll, die Köpfe.

Die zentrale Frage, der sich Christoph Becher, persönlicher Referent des Intendanten von Hamburgs neuem Wahrzeichen, Christoph Lieben-Seutter, derzeit widmet, lautet also: Mit welchen Konzepten lässt sich der bildungsbürgerliche Silbersee des Klassikpublikums alsbald zu einem bunten Meer aus Jung und Alt aufmischen? „Konzertpädagogik“ und „Musikvermittlung“ wurden die Strategien bislang genannt, „education“ oder „audience development“ klingen da schon neudeutsch angesagter. Becher, zuvor leitender Dramaturg der Hamburgischen Staatsoper und seit vergangenem Jahr hauptamtlich für die Elbphilharmonie tätig, hat zwar noch keinen griffigen Namen für seine Ideen gefunden, dafür die Hintergründe des Themas im Lichte internationaler Education-Projekte beleuchtet, einen Sechs-Punkte-Plan erarbeitet und vor wenigen Tagen nun einen ersten Probelauf gestartet.

Während er sein Konzept entwickelte, konnte der Dramaturg drei Beobachtungen machen, die durchweg optimistisch stimmen: Auf den Ebenen von Politik, Bildung und Kultur existiert ein echtes Interesse am Thema. Das Angebot der Musikvermittlung ist bereits groß. Und: Das nötige Geld für Education-Projekte ist da: „Die große Bereitschaft von Förderern hat mich überrascht“, so Becher. Ziel der Vorhaben sei es, „eine Plattform zu bereiten, auf der Kinder, Jugendliche und Erwachsene einen Zugang zur Musik finden und sich mit ihr beschäftigen: emotional, sinnlich, intellektuell. Auf der sie sich über diesen Zugang unmittelbar austauschen können.“

Bechers Sechs-Säulen-Konzept beginnt mit einer einfachen Grundlage: „Zuallererst müssen die Eintrittspreise für Kinder, Jugendliche und Familien niedrigschwellig sein.“ Er arbeite an einem Preismodell, das möglichst viele Veranstalter gemeinsam vertreten könnten. Zweitens plant er Kinder- und Familienkonzerte, die nach Altersklassen gestaffelt sind. Zum dritten setzt er auf Musikvermittlung im Klassenverbund, die das Treffen der jungen Leute untereinander und den Dialog mit den Künstlern vorsieht. Hierzu zählt ein Jugendclub als eine Kommunikationsplattform, die es ermögliche, dass „Jugendliche dorthin gehen, wo ihre Freunde sind, denn genau das ist in dieser Altersgruppe das Problem: dass jemand isoliert ist, der gerne ins Konzert geht, und wer möchte das schon sein?“ Viertens nennt Becher das Zusammenspiel von Laien und Profis. In einer „Woche der Vorgruppen“ sollen Laienorchester 90 Minuten vor dem Konzert eines etablierten Symphonieorchesters im großen Saal der Elbphilharmonie auftreten.

An fünfter Stelle bezieht das Konzept einen weiteren Adressatenkreis ein, nämlich Musiker, Moderatoren, Dramaturgen und Lehrer, mithin all jene, die die Vermittlungsarbeit zwischen Kunst und Publikum letztlich leisten müssen. Sie benötigen schließlich Fachwissen zur Musik und zu den Formen der Vermittlung, sollen sich dabei mit erfahrenen Konzertpädagogen austauschen können. Sechstens und letztens ist die Förderung des aktiven Musizierens vorgesehen, das gemeinsam mit dem Klingenden Museum, das in die Elbphilharmonie umziehen wird, und dem Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ verwirklicht werden soll. Das kreative Potenzial von jungen Ohrenmenschen soll gezielt entwickelt werden, etwa in Workshops, in denen Jugendliche eigene Kompositionen erarbeiten und diese in der Musikhalle oder der zukünftigen Elbphilharmonie dann auch zum Klingen bringen. Damit das umfassende Konzept jedoch nicht nur Einmaleffekte erziele, sondern nachhaltig wirken könne, müssten, so Becher, folgende drei Zahnräder ineinandergreifen: die Veranstalter von Kultur, die Schulen und die Familien. An deren Vernetzung arbeite er mit Nachdruck.

Zum einhundertsten Geburtstag von Hamburgs Musikhalle hat Becher gemeinsam mit dem Komponisten Hans-Joachim Hespos und Projektleiterin Cornelia Lüttgau nun einen Education-Probelauf gestartet. Da enterten am 15. Juni rund 170 Schülerinnen und Schüler die ehrwürdige Musikhalle und machten sie sich untertan, um nahezu alle Winkel des wunderbaren Konzerthauses in Kleingruppen zum Klingen zu bringen: Junge Streicherinnen widmeten sich huldvoll Opa Brahms im gleichnamigen Foyer, eine Gitarrenband klampfte im ersten Rang, im Parterre wurde gesteppt und auf dem Treppenaufgang Saxophon geblasen. Krach und Stille wechselten sich ab in dieser postmodern vielstimmigen Symphonie der Jugend.

contraPUNKT!“ heißt das Projekt, das den jungen Ohrenmenschen die Schönheit der alten Halle nahebringen und sie zu eigener schöpferischer Entfaltung anspornen sollte. Es ist Auftragswerk zum 100-jährigen Jubiläum der Musikhalle. Hans-Joachim Hespos hat der heterogenen Ideenflut der Jugend durch wenige einfache Leitmotive Kontur verliehen, dazu gehörte das langsame wie planmäßige Zerreißen einer Hamburger Wochenzeitung. Denn ist Musik nichts anderes als Teilung der „Zeit“? Ganze vierzehn parallele Klangaktionen konnten die eintausend durchs Haus wandelnden Hörer erleben. Becher hat sich hier bei dieser Idee des Wandelkonzerts bei John Cage und dessen „Haus voll Musik“ bedient.

Trotzdem hinterließ das Education-Event den Eindruck von Beliebigkeit und konzeptarmer Konzeptkunst; jedenfalls machten sich angesichts der inhaltlichen und formalen Dürftigkeit alsbald Langeweile auf seiten der Macher wie der Hörer breit.

Was bleibt? Wohl gar die Erkenntnis der Gefahr, dass nach der Popularisierung der Klassik nun deren nicht minder anspruchsfreie Pädagogisierung droht? Musizieren ist schön, macht aber, frei nach Karl Valentin, auch viel Arbeit, ist also ohne Disziplin und Durchhaltevermögen, ohne Rückschläge und Misserfolge nicht zu machen. Ohne Fleiß kein Preis. Die öffentlichkeitswirksam „einmalige“ Projektorientierung eines gut gemeinten Jugend-Musik-Events mit ihren vielen sehr kleinen Erfolgserlebnissen steht der notwendigen und zweifellos von den Hamburger Zukunftsmusikern auch als notwendig erkannten Nachhaltigkeit der Musikerziehung mit ihrem Schweiß des Übens, ihrer echten Anstrengung und ihrer Herausbildung von Exzellenz dann womöglich mehr entgegen, als die Macher von „contraPUNKT!“ es sich eigentlich wünschen mögen. Der Weg zurück in die Zukunft der musikalischen Bildung bleibt so steinig wie die Musikerziehung selbst. Die imagebildenden Marketing-Etiketten der Education-Programme mögen zur Begleitmusik taugen, sie können, um im Bild zu bleiben, das kontinuierliche Singen des klassischen Kanons, ja die eher unspektakuläre Grundmusikalisierung junger Menschen, die aufgrund der prägenden ersten Lebensjahre bereits in den Kindertagesstätten beginnen muss, nicht ersetzen.

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