Auf der Landkarte der deutschen Musikschulen, an denen Komposition für Kinder und Jugendliche unterrichtet wird, nimmt Düsseldorf einen wichtigen Platz ein. Seit 1986, also seit 25 Jahren, besteht dort die Kompositionsklasse von David Graham, die von Anfang an große Projekte erarbeitete und zur Aufführung brachte. Im Jahr 2008 kam noch eine Klasse für Computermusik dazu, betreut von Christian Banasik, die sich nicht minder erfolgreich in der Öffentlichkeit präsentiert.
Kooperation wurde von Anfang an groß geschrieben. Nicht nur, dass die jeweiligen Schülergenerationen gemeinsam an Projekten arbeiteten, diese wurden vielmehr auch in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen aus Düsseldorf verwirklicht. So ging es von Anfang an um große Oper. Das Libretto zu Monas Hochzeit (1989) stammte von Schülerinnen und Schülern eines Moerser Gymnasiums, für die Aufführungen tat sich die Clara-Schumann-Musikschule mit der Robert-Schumann-Hochschule, der Kunstakademie und der Rheinoper zusammen. Dirigent war Markus Stenz, dessen Karriere danach steil bergauf ging, Regie führte Stefan Hakenberg. 1991 dann Lisetta und ZweiVIEReins, eine Kooperation mit dem Düsseldorfer Humboldt-Gymnasium. 1996 folgt Ein falsches Märchen, wiederum Ko-operation mit Gymnasien und der Musikhochschule. Regie führte Jürgen Henze, der jüngste Bruder von Hans-Werner Henze. Diese Verbindung ist nicht ganz zufällig, hat doch David Graham bei Hans-Werner Henze studiert. Geboren 1951 in der Shakespeare-Stadt Stratford-upon-Avon, studierte er zunächst in Düsseldorfs Partnerstadt Reading Klavier, Komposition und Dirigieren. Danach kam Graham nach Köln zu Henze, der ihn wiederum in seine Wahlheimat Italien mitnahm. An der Musikschule von Montepulciano sorgte Graham für Beiträge zum weithin bekannten Musikfestival Cantiere Internazionale d’Arte, das 1976 wiederum von Henze gegründet worden war. Im Zusammenhang mit Henze ist das
Genre Oper nie weit und so lag es nahe, dass Graham dies auch in Düsseldorf aufgriff. Allerdings blieb es nicht dabei. Es folgten Filmmusik-Projekte, das Oratorium Selma, Notenausgaben für vernachlässigte Instrumente und Besetzungen (Zweiunddreißig tierische Akkordeonstücke, Augemus-Verlag), Musik für ein Hörbuch (Martin Baltscheid: Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte), und, und, und.
Kritikfähigkeit
„Keine Angst vor großen Aufgaben“ ist hier das Motto. Und Grahams Schüler, zumeist im Teenager-Alter, sind stets mit Begeisterung bei der Sache, nicht zuletzt weil sie wissen, dass ihre Arbeit zum Klingen gebracht werden wird. Es gehört schließlich zu seinem Konzept, dass die Kompositionsschüler ganz konkret erkennen können, wozu sie ihre Arbeit machen. Das schult das innere Ohr, die Kritikfähigkeit, die Einschätzung, welche kompositorischen Mittel zu welchen Klangergebnissen führen und welcher technische Aufwand in keinem Verhältnis zum klingenden Ergebnis steht. Somit werden die sonst womöglich oft nur im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein oder gar Wolkenkuckucksheim agierenden Komponisten zu Praktikern.
Die Resultate sind häufig ganz und gar nicht „modern“, sondern an der Erfahrungswelt der Heranwachsenden orientiert. Spielen sie auf ihrem Instrument gerade Bach, mag eine Invention entstehen, spielen sie den Mikrokosmos, sind Mixturklänge Bartókscher Prägung möglich. Aber immer fließt ihre eigene Persönlichkeit, ihre individuelle Handschrift mit ein. Graham lässt dafür freie Hand. Er ist kein Lehrer, der seine Schüler auf einen oder gar auf seinen Stil einschwören möchte. Er hält es aus, nein, es ist sogar Programm, dass die Teamarbeit weniger einheitlich ist, als man es etwa bei einer Oper erwartet.
Grahams Arbeit zielt nicht von vorneherein darauf ab, die Schüler auf ein Kompositionsstudium vorzubereiten. Es gilt zunächst, sie zu sensibilisieren für innere Vorgänge, die nach außen drängen. Auch zu erkennen, dass es entscheidend ist, genau zu notieren, was ihre Absicht ist. Das hat allerdings im Laufe der 25 Jahre bei einzelnen tatsächlich dazu geführt, dass sie Komposition studierten: Birke J. Bertelsmeier studierte im Anschluss bei Manfred Trojahn und Wolfgang Rihm, Hauke Berheide bei Manfred Trojahn, José Maria Sanchez Verdú und Albert Orechov am Institut für Computermusik und Elektronische Medien der Folkwang-Hochschule Essen. Keine schlechten Adressen.
Zuletzt entstanden in Grahams Klasse kurze Kammermusikstücke für Mandoline und Gitarre, bei denen schon der Titel der Notenausgabe aufhorchen lässt: Maus und Heizung (Augemus), Kammermusik, bei der die kleine Form mit vielfältigem Leben gefüllt wird; sowie in Kooperation mit dem Düsseldorfer tanzhaus nrw Characters, Musik für das Tanztheater, das in diesem Jahr nicht nur die Uraufführung, sondern etliche erfolgreiche Aufführungen erlebte. Zwischenzeitlich sind bereits wieder neue Stücke entstanden.
Italienische Kontakte
Über David Grahams Schwester, die Geigerin und Lehrerin Elizabeth Ann Graham, besteht wiederum Kontakt zu einer Musikschule in Italien. Vor nunmehr 26 Jahren gründete sie in der 10.000-Seelen-Stadt Castiglione del Lago am Lago Trasimeno in Umbrien eine Musikschule. Die auch von städtischen Geldern lebende Institution hat mittlerweile knapp 300 Schüler und 21 Lehrer für alle Instrumentalfächer. Damit ist sie zu einem bedeutenden kulturellen Faktor in der Region mit einem Einzugsgebiet von etwa 30.000 Einwohnern geworden. Das Angebot ist streng auf Klassik ausgerichtet, legt dabei besonderen Wert auf das Zusammenspiel.
Jeden Sommer wird auf einer malerischen Insel im See das so genannte Campus Musicale abgehalten. Ein ganzes System von aufeinander aufbauenden Ensembles gipfelt in einem Streicher-Kammerorchester, bei dem die fortgeschrittensten Schüler neben Ehemaligen, Hochschulabsolventen und Lehrern spielen. Man hat in den etwa zehn Jahres des Bestehens die Literatur vom Barockzeitalter über die Klassik (Mozart-Divertimenti) bis zur Romantik (Streicherserenaden von Tschaikowski und Dvorák) erarbeitet und ist bis zu Strawinskys Concerto en ré vorgedrungen. 2005 gewann das Orchester sogar beim internationalen Wettbewerb Pro Archi in Ungarn. Neu war für das Orchestra da Camera del Trasimeno, ein ganzes Uraufführungsprogramm zu spielen. Der Dirigent Silvio Bruni, die Lehrerschaft und die Schüler sagten unbesehen zu, neu geschriebene Musikstücke aus der Kompositionsklasse aus dem fernen Düsseldorf zur Uraufführung zu bringen. Ein Wagnis für die Instrumentalisten – ein wunderbares Betätigungsfeld für die Komponisten.
Etwa vier Monate lang arbeiteten die Schüler von David Graham an den Partituren, bei denen sie sich nach Herzenslust entfalten konnten. Maximalbesetzung: Streichquartett plus volles Streichorchester. Mit Garantie zur Uraufführung! Welcher Komponist könnte da nein sagen? Nur das Quartetto Ascanio, ebenfalls aus der Musikschule hervorgegangen, hatte nennenswerte Erfahrung mit zeitgenössischer Musik. Man erwartete mit Spannung die Partituren, die schließlich alle im modernen Computersatz vorlagen. Das setzte zunächst einmal große Offenheit seitens des Dirigenten und der Ensemblemitglieder voraus. So spricht Silvio Bruni, der das Orchester von Anfang an leitet, schlicht davon, dass es ihm um Schönheit in der Musik gehe, und er die vorliegenden Stücke für schön halte. Bei einer mitwirkenden Musikerin klingt sogar Stolz mit, wenn sie davon spricht, dass es etwas ganz Besonderes ist, Musik zu spielen, die niemals zuvor erklungen ist. Man war erstaunt und erfreut über deren Qualität, sagte Elizabeth Graham.
Ende September 2011 reiste David Graham mit seiner Kompositionsklasse nach Italien. Die jungen Komponistinnen und Komponisten waren bei den letzten Orchesterproben vor der Uraufführung ihrer Werke zugegen. Graham berichtet von ganz unterschiedlichen Reaktionen: von offenen Mündern, die Erstaunen über die konkrete Klangwerdung ihrer im Kopf und am Klavier entstandenen Stücke ausdrückten, bis zu ganz detailliert arbeitenden Jugendlichen, die quasi professionell an der Umsetzung der Partiturinhalte feilten. Die Textnachrichten nach Hause (früher schrieb man Postkarten) berichteten begeistert von Proben und Freizeitaktivitäten. Alle erlebten schließlich die Uraufführung ihrer Arbeit am 2. Oktober im Palazzo della Corgna in Castiglione del Lago.
Keine Spur von Provinz
Besuchte man eine reguläre Probe des Orchesters, kam dem Hörer sofort ein runder, voller Streicherklang des 15-köpfigen Ensembles entgegen. Impulsiv wird Barockmusik angepackt, mit vollem Elan Bartóks Rumänische Volkstänze. Keine Spur von Provinz. Dafür ganz viel jugendlicher Elan, gepaart mit Enthusiasmus und technischer Sicherheit. Diese Fähigkeiten des italienischen Orchesters kamen den Stücken der Düsseldorfer Kompositionsschüler zugute, wie man am 16. Oktober im Udo-van-Meeteren-Saal der Städtischen Clara-Schumann-Musikschule erleben konnte. Dies war der zweite Teil des Austausches, der vom Landesmusikrat NRW unterstützt wurde. Rainer Templin vom Leitungsteam der Musikschule begrüßte zweisprachig die zahlreichen Zuhörer und das Ensemble, eine Geste, die von den Gästen sehr geschätzt wurde. Das daran anschließende Programm zeigte ein Kaleidoskop von Möglichkeiten, mit der gestellten Aufgabe und dem Apparat umzugehen. Sicher, einige Stücke endeten recht plötzlich, doch wer will dies bekritteln bei künstlerischen Äußerungen von Menschen, deren Jugendzeit gerade erst begonnen hat?
Die Werke der jüngsten Komponisten – wo hat man schon einmal „2000“ als Geburtsjahr auf einem Programm gelesen? – bewegten sich in konventionellen Formen – Quasi una marcia für Streichorchester in Rondoform von Ben Roa Canales und Variationen in a-moll für Solovioline und Streichorchester von Lukas Döhler –, füllten die-se aber mit ansprechendem Themenmaterial und überraschten den Hörer hier und da mit kleinen Ausbrüchen aus dem Schema, die vom Bewusstsein der Wirkung musikalischer Mittel zeugten. Ostinato-Bewegungen hörte man bei Jet-Trail von Gabriel Baumgarten und Okamba von Birk Vogel (beide Jahrgang 1997). Die Invention von Tom Brüggemenn (geb. 1992) war in ihrer Klangwelt teilweise an Tschaikowskis Streicherserenade angelehnt. Laura Käppele (geb. 1992) spielte mit interessanten Pizzicatoeffekten und minimalistischen Bewegungsformen, deren Fahrt plötzlich abgebrochen wurde. Paul Weinhold schrieb seine Zwei Stücke als einziger nur für das Streichquartett, bewies Mut zur Dissonanz und ein Faible für jazzige Rhythmen, die durchaus „drive“ hatten, der durch das Ascanio-Quartett auch wirkungsvoll zur Geltung kam.
Kompositionstechnisch am weitesten entwickelt zeigten sich die drei Stücke (Mobile I, II, III) der 17-jährigen Eleonora Radig. Der erste Satz ist rein grafisch notiert und wurde ohne Dirigent gespielt. Das Soloquintett reagierte gut aufeinander und gab den Grafiken Leben. Die beiden anderen „Mobiles“ horchten Klangfeldern und Einzeltönen nach, die zum musikalischen Ereignis wurden. Die differenzierteste Partitur, nämlich für Quartett und Orchester, kam von Valentin Ruckebier (Jahrgang 1997). Wuchtige Schläge und fahle Klänge unter Einbeziehung von modernen Spieltechniken wurden in der dreiteiligen Komposition Flamme, Asche, Sand als Material schlüssig verarbeitet und formten sich zu einem dramaturgisch durchdachten Ganzen. Welch eine Ausbeute einer produktiven Zusammenarbeit über mehr als 1000 Kilometer hinweg.
Das nächste Düsseldorfer Konzert mit Kammermusik aus der Graham-Klasse ist für das Frühjahr 2012 bereits in Vorbereitung. Über anschließende Großprojekte hüllt man sich noch in geheimnisvolles Schweigen.