Bern, Anfang Mai – Unvergessen, das sagt sich so leicht. In diesem Fall ist es sicher so. Da ist dieser Name, den jeder kennt, der, vor allem in Bern über allem schwebt, hinter allem steht. Und der an diesem kalten, verregneten Mai-Abend die Bänke des großen Münsters, so hat man den Eindruck – fast mit Leichtigkeit füllt.
Als erwarte das kunstinteressierte Bern, das aufgeklärt-liberale Publikum dieser unverschämt schönen wie unverschämt teu-ren Stadt, dass er noch einmal einen Auftritt hätte, auf dass man noch einmal teilhaben könnte an seinem Charisma, seiner Musik und Humanität verbindenden Vision, die Yehudi Menu-
hin selber war. Unübersehbar lächelt sein schöner Charakterkopf von den Ankündigungsplakaten zum „Gedenkkonzert“ „20 Jahre MUS-E“, dem in seiner Einfachheit faszinierenden, eigentlich immer noch zu wenig bekannten „Arts at School“-Projekt, das so ganz seine Handschrift trägt.
Der Rahmen
Dann betritt statt Menuhin doch Daniel Zisman das Podium. Kein schlechter Ersatz, wie sich bald herausstellt. Als langjähriger Konzertmeister des Berner Symphonieorchesters hat er beim hiesigen Publikum ebenso einen Stein im Brett wie als Sachwalter des Tango Nuevo, dem er zusammen mit seinem Filius, dem Bandoneonisten Michael Zisman, auch an diesem Abend die Reverenz erweist. Eine unschlagbare Mischung, die dem versammelten Musik-Bern die Überzeugung vermittelt, hier und jetzt genau richtig zu sein. Schwelgen nämlich lässt sich ja ohnehin in beidem. In der süffigen Bandoneon-Musik von Piazzolla, de Caro und den Zisman-Eigenkompositionen wie in einem von Vater Zisman nicht weniger als bravourös gespielten Mendelssohn-Konzert. Undirigiert im Übrigen. Was „Klangforum Schweiz“ (die im Entstehen begriffene Orchester-Akademie für junge Berufsmusiker) in diesem Fall noch besser abfedern konnte als in der abschließenden Mendelssohn-Kantate op. 42, in der Rudolf Rychard als Leiter des Berner Orpheus Chors mit der Gesamtaufgabe Klangbalance doch ein wenig überfordert wirkte.
Was schlussendlich wiederum weniger ins Gewicht fiel, als dass so immerhin das Gesamtbild „Gedenkkonzert“ klingend ausgefüllt war und am Rahmen „20 Jahre MUS-E“ aufgehängt werden konnte. Geschickt der Schachzug der Organisation, vor den Augen der Stadtöffentlichkeit ein Berner Urgestein wie die feurige Sopranistin Ursula Füri-Bernhard zur „MUS-E-Botschafterin“ zu krönen, um anschließend Enrique Baron Crespo bewegende Worte zum Thema sprechen zu lassen. Für die International Yehudi Menuhin Foundation erinnerte der vormalige Präsident des EU-Parlaments dabei an die Aufgabe, Humanität und Kunst auf einen Nenner zu bringen – am besten, so der Spanier, mit Hilfe von MUS-E, einem der vielen Kinder, die Menuhin zeitlebens in die Welt gesetzt hatte.
Die Effekte
Wer nach dem Programm fragt, dem dieses Projekt mit seinem eigentümlichen Bindestrich-Kürzel verpflichtet ist, wird es kaum zu hoch hängen können. Unterhalb der Schwelle „Welt- und Menschenrettung“ wird man Menuhin nämlich kaum gerecht. Was im Fall von „Musik in der Erziehung“ zunächst soviel heißt, den Kindern dabei zu helfen, ihr „innate creative potential“ zu entdecken. „Mittels Kunst“, sagt Menuhin. Daran, so lässt sich Me-nuhins Überzeugung zusammenfassen, hängt alles und damit alle „Hoffnung“. Ein Lieblingswort von ihm und eine Erkenntnis, die das Jubiläums-Symposium allerdings eher en passant lieferte, eingestreut, mal hier, mal dort in die Referate der MUS-E-„Koordinatoren“ aus aller Welt. Was vermisst wurde, war das Grundsatzreferat zu dieser solitären Persönlichkeit, zu dessen Intention und Vision, natürlich vor allem MUS-E betreffend, entwickelt aus den Voraussetzungen dieses Musikdenkens und zugespitzt auf die Frage, inwieweit die alte schöne Idee des sich selbst aufklärenden, sich selbst entdeckenden und befreienden Menschen heute überhaupt noch eine Chance hat, wo bekanntlich weniger das Suchen nach „meinem Potential“ zählt, als vielmehr das nach dem „meines Smartphones“.
Immerhin ließen die MUS-E-Mitgründer Marianne Poncelet von der International Yehudi Menuhin Foundation in Brüssel und Werner Schmitt als vormaliger Leiter des Berner Konservatoriums keinen Zweifel daran, wie Menuhin sein Projekt „Arts at School“ verstanden wissen wollte: „Wir wollen die Werte der Künste in der Gesellschaft verbessern!“, zitierte Schmitt den 1999 verstorbenen spiritus rector, der 1993 im Berner Muesmatt-Schulhaus die erste MUS-E Stunde noch höchstpersönlich in Augenschein genommen hatte. Von diesem bescheidenen Anfang betrachtet, sind die Erfolge in 20 Jahren MUS-E tatsächlich ganz erstaunliche. Nicht nur in der Schweiz, wo jüngst sogar das Kantonsparlament zu Bern sich MUS-E annimmt, mittlerweile ist diese atypische Schul-Innovation europaweit, einschließlich in so problematischen Staatengebilden wie dem Kosovo präsent, wo das Programm, wie vom MUS-E-Koordinator aus Pristina zu erfahren war, gleichwohl „astonishing effects“ zu Wege gebracht habe (siehe nmz 7/2012). Und selbst in Israel und in Brasilien, war zu lernen, sind MUS-E-Klassen installiert und höchst aktiv. Nur, was schließlich die hiesige Lage angeht, wo die seit 1996 bestehenden bundesdeutschen MUS-E-Sektionen mittlerweile mehrheitlich auf Tauchstation gegangen sind (woran eine Bezirksregierung Düsseldorf nicht ganz unbeteiligt ist), so war dies eher ein Thema für die Symposiums-Pausen im Berner Yehudi Menuhin Forum. Flüsterbotschaft: Still ruht der See.
Die Theorie
Wer MUS-E macht, ist nicht notwendigerweise derjenige, der über MUS-E spricht. Der Künstler bildet, er redet ja nicht. Eine Arbeitsteilung, die es gar nicht so einfach macht, den eigentümlichen Spirit, das künstlerische Credo dieses Projekts festzuhalten, in Worte zu fassen, was am Berner MUS-E-Symposium dann auch recht gut spürbar war, insofern man sich dort insgesamt daran hielt, was schon da ist, was schon durchgesetzt ist, was sich bewährt hat. In Zeiten etwa, wo ein Superstring wie „Vermittlung“ wichtiger geworden ist als die Sache selbst, wird auch ein unter ganz anderen Voraussetzungen entstandenes MUS-E-Programm wie selbstverständlich über den Ellen der „Kulturvermittlung“ geschlagen. Zu recht, zu Unrecht, scheint kaum die Frage – eher schon, ob das Projekt darin aufgeht? Und ist es wirklich so, dass MUS-E schon deshalb förderungswürdig ist, weil Kinder dadurch „leistungsfähiger“ werden und „den Herausforderungen der Gesellschaft besser gewachsen“ sind? Man möchte es nicht in Abrede stellen, nur dürfte der instrumentalisierende Zungenschlag wohl kaum Menuhins erstes Anliegen gewesen sein. Eher umgekehrt wird hier ein Schuh daraus: der Mensch nicht als Mittel, sondern konsequent als Zweck genommen. Und somit ist „Arts at School“ nicht dazu da, um „Leistungsfähigkeit“ zu steigern, sondern um Kreativität hervorzulocken, um eben so, wie Menuhin sagt, dem Fanatismus, den Abgrenzungsstrategien der Zeit das Wasser abzugraben. Nicht zuletzt deshalb hat Menuhin wohl immer auch konsequent auf „Versöhnung“ gesetzt, was so heute niemand mehr sagt. Und er hat unbeirrt weiter von „Schönheit“ geredet, womit er nicht nur die Kunst meinte, sondern tatsächlich die von den Musen geküssten Schüler selbst, für die er und seine Mitstreiter eben MUS-E erfunden hatten.
Die Praxis
So war man denn auch um so gespannter, als es galt, von der MUS-E-Theorie zur MUS-E-Praxis zu wechseln. Was würde sich auftun, wenn Rhavina de Mello die 4. und 5. Klasse der Primarschule Meinisberg, weit draußen im Kanton Bern, zum Tanz bitten würde? Das Ergebnis war zunächst dieses, dass die Zeit – eine ganze Doppelstunde (die etwas untypisch auch eine Musikstunde ersetzt) – wie im Fluge verging und die Begeisterung auf Seiten von Aline, Celine, Francine, Yanick, Simon und Joel kaum nachlassen wollte. Dabei war das Ganze ja doch mit keiner geringen körperlichen Anstrengung verbunden. In immer neuen Formationen und Wellen ließ die wegen der Liebe Schweizerin gewordene Brasilianerin Choreographien zu HipHop- und brasilianischen Rhythmen durch die Turnhalle rollen. Wodurch dann aber doch keine gewöhnliche HipHop-Stunde herauskam, sondern der Versuch, Tanz als Kunstform mit Schulkindern zu inszenieren, auf Haltung und Ausdruck zu achten. Und Letztere? – Waren dabei. Auf den Gesichtern klare Mitteilung: mehr davon! Vielleicht, dass sie gerade die Abwesenheit dessen spürten, was Schule sonst so ausmacht: Lehrer, Lehrplan, Lernen und – Noten.
So war die Folie eine ziemlich klare. Alles, was die „eingeschweizerte“ Tanzpädagogin aus Salvador-Bahia im Nordosten Brasiliens auftischte, hat sie aus sich geschöpft und nicht aus irgendwie gearteten „Curricula“, was den Schülern dann auch nicht verborgen blieb. Autorität – keine Frage – des Status, vielmehr der Persönlichkeit, die alles, was sie in sich findet, weitergibt. Hier war man denn auch nahe dran an dem, was Werner Schmitt, der Siegfried-Palm-Schüler, der rastlos-unbeirrbare MUS-E-Werber aus der Eiffel, immer wieder gern betont, dass nämlich das „Geheimnis“ von MUS-E in seinem Bindestrich liege. Was man im MUS-E-Symposium, im MUS-E-Gedenkkonzert kaum versteht. Eher schon, wenn man sich hierhin verirrt, in Muse Rhavinas kurzweilige Doppelstunde mit den tanzenden MUS-E-Kindern vom Meinisberg.