Orientierung tut offensichtlich Not. Eine nahezu unüberschaubare Fülle an Initiativen und Konzepten für das Singen mit Kindern lässt sehnsüchtig nach der einen übergreifenden Plattform schielen, wie sie im Bereich der Leseförderung etwa die „Stiftung Lesen“ bietet. Umgekehrt sollte man sich freuen, dass das Thema wieder im Gespräch ist. Denn das war wahrlich nicht immer so. Hätte man vor ein paar Jahren noch versucht, die Aktiven für das Thema zu interessieren, wäre die Runde wohl noch sehr überschaubar ausgefallen.
Heute aber wird wieder lebendig diskutiert über die Wichtigkeit des Singens. Um die Kriterien und den kindgerechten Weg dorthin und nicht zuletzt um wirksame Maßnahmen und Fördergelder allerdings wird heftig gerungen. Da stehen sich mitunter auch konkurrierende Modelle und Ansätze gegenüber. Vor diesem Hintergrund bot die Tagung der Landesmusikakademie Berlin vom 27. Juni 2008 einen willkommenen Überblick und Orientierungshilfe durch den Dschungel der Konzepte. Mit Vorträgen, Präsentationen, Workshops, Mitsingaktionen, Ausstellungen und Abschlusskonzert hatte sie zahlreiche Multiplikatoren angelockt.
Kinderlieder im Wandel der Zeit
Nach den langen Jahren, in denen Familien wie Musikpädagogen weitestgehend ohne das Lied auskamen, half ein Blick zurück. Mit ihrem Impulsreferat zum „Kinderlied im Wandel der Zeit“ lieferte Birgit Jank, Professorin für Musikdidaktik an der Universität Potsdam, den historischen wie theoretischen Einstieg ins Thema. Dabei bot sie bewusst keine Definitionen, sondern sensibilisierte für die vielfältigen Aspekte, Formen und Gefährdungen des Gegenstands. Denn Kinderlieder sind ebenso eine literarische wie eine musikalische Gattung, sie werden sowohl von Kindern selbst erfunden wie von Erwachsenen für Kinder gemacht, sie werden (volks-)mündlich überliefert oder kunstvoll komponiert, sie unterliegen erzieherischen Absichten oder sind Ausdruck selbständiger Lebensvorstellungen von Kindern, in ihnen singt abwechselnd ein vereinnahmendes „Wir“ oder ein sich behauptendes „Ich“, sie sind mal moralisch, mal frech oder gesellschaftskritisch. Die fließenden Übergänge zwischen allen Spielarten und die grundsätzlich offene Form, welche Varianten, Neutextierungen und Umformungen geradezu herausfordert, machen die Kinderlieder besonders anfällig für Instrumentalisierung und Missbrauch – sei es militärisch, vaterländisch, chauvinistisch, geschlechterspezifisch oder für den blanken Kommerz. Als Kontrollinstanz für die Qualität von Kinderliedern empfahl Birgit Jank schließlich nach dem Vorbild des Kinderliedermachers Gerd Schöne, die Kinder selbst zu befragen. In Ihrem abschließenden Plädoyer forderte sie: Kinder wünschten keine Belehrung, bedürften aber der Anregung, und zwar kontinuierlich und nachhaltig, in der Verbindung von Hören und Singen sowie im Wechsel von Neuem, Altem und selbst Erfundenem. Immer wieder eingeflochten in den Vortrag wurden Selbstversuche im Singen von Kinderliedern unter Beteiligung des Publikums. Schade nur, dass die Liedbeispiele zur Gitarre meist viel zu tief angestimmt waren.
Lebenselixier Singen
Die Neurobiologie ist derzeit der Wissenschaftsbereich, von dem wir uns am meisten Aufklärung über die Wirkung von Musik erhoffen, aber auch dringend benötigte Argumente für ihre Legitimation. Mit unseren Hoffnungen vertrauen wir nur allzu gern den zu Tage geförderten Erkenntnissen und werden dabei selten enttäuscht – zumal wenn diese so anschaulich und pointiert dargeboten werden wie vom Ulmer Neurobiologen Manfred Spitzer. Er zeigte auf, dass Musik wie nichts Vergleichbares alle Bereiche im Gehirn anspricht und fordert. Er verwies auf den nachweislichen Zusammenhang zwischen Lese-Rechtschreib-Schwächen und Störungen in der akustischen Wahrnehmung und beschrieb, wie Musik einerseits Angstgefühle deaktiviert und zugleich Glück und Freude aktiviert. Musik wirkt folglich besser als jedes Medikament. Ihre nachweislichen Nebenwirkungen machen sie gleichsam zum verschreibungspflichtigen „Lebenselixier“: Jeder Arzt wäre also gut beraten, ihre Anwendung zu empfehlen – mindestens dreimal täglich? Das klingt schön, dürfte im Angesicht einer musikalischen Dauerberieselung im Alltag jedoch noch einige Fragen nach der genauen Art und Dosierung aufwerfen. Hier bleiben vorerst wohl doch wir Musiker und Musikpädagogen selbst gefordert, mit unserer Arbeit für Qualität einzustehen. An diesem Punkt zeigen sich auch die Grenzen der Naturwissenschaft: Sie liefert Argumente für die bildungs- und kulturpolitische Diskussion, keine pragmatischen Lösungsansätze für den musikpädagogischen Alltag. Vielleicht muss man aber nachschieben: noch keine. Denn die Versprechungen der Neurobiologie sind groß. Zu guter Letzt hatte Spitzer aber doch noch einen ganz handfesten Ratschlag parat. Er galt den Männern und ihrer Rolle bei der Singförderung der Kinder: Der erste Sinn, den ein Embryo ausprägt, ist der Hörsinn. Kinder nehmen also schon im Mutterleib und bereits sehr früh ihre akustische Umwelt wahr. Da aber durch die Bauchdecke der Mutter nur tiefe Frequenz dringen, sollte das pränatale Singen vor allem auch von den Großvätern und Vätern übernommen werden.
Singen ist zukunftsweisend
Karl Adamek knüpfte in seinem Vortrag an die Ausführungen Spitzers an. Jedoch blieben seine Bilder, Analysen und Erklärungsmodelle vergleichsweise blass. Zu oft verlor sich der Begründer der Initiative „canto del mondo“ in Beschreibungen seines langen und einsamen Kampfes um eine Rehabilitierung des Singens in unserer Gesellschaft oder nebulösen Beschwörungen der heilenden Kräfte des Gesangs. Dass das Singen noch lange nicht den Weg zurück in die Familien, Kindergärten und Grundschulen gefunden hat, ist sicherlich richtig. Zuviel davon ist über ganze Generationen, die ohne Lieder aufwuchsen, verschüttet. Zugleich aber steht das Singen heute wieder in der öffentlichen Diskussion – und zwar in einem Maße, wie es vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Genau darin aber besteht die bildungspolitische Chance, auf die es positiv und konstruktiv zu reagieren gilt. Mit solchen Aussagen wie: „Wir hätten keine Probleme in der PISA-Studie, wenn Kinder täglich eine Dreiviertelstunde Singen würden“ oder „der Quantensprung, den wir als Menschheit tun müssen, um wieder empathiefähig zu werden, ist nur über das Singen zu erreichen“, verkürzte Adamek jedoch die Zusammenhänge in wenig hilfreicher Weise. Man hätte stattdessen gern mehr erfahren von der sicherlich verdienstvollen Initiative und der konkreten Arbeitsweise der Singpaten in Hamburg.
Welche Lieder lehren wir unsere Kinder?
Die Brücke zur praktischen Musikpädagogik schlug schließlich der Potsdamer Professor für Elementare Musikpädagogik, Werner Beidinger. Nach allen Bekundungen für die Wichtigkeit des Singens bestand er darauf, dass es dabei nicht allein darum gehen könne, irgendein x-beliebiges Lied mit Kindern einfach nur zu singen. Als Musikpädagoge forderte er mehr und tiefere Antworten als die, dass ein Lied „Spaß mache“ oder „emotional berühre“. Ihm ging es deshalb um weiterführende Kriterien für die Liedauswahl, und die machte er an der Musik selbst fest: an ihrer rhythmisch-metrischen Gestalt, ihrer melodisch-harmonischen Anlage, ihren Bewegungs- und Tanzanreizen, den Anregungen zur Liedbegleitung sowie den Anreizen zur Improvisation und weiteren Ausgestaltung. Und hier besteht dringender Handlungsbedarf, wie eine Sichtung der zehn meistbenutzten Liederbücher und Lehrwerke offenbarte. Denn diese beschränken sich nahezu ausschließlich auf Dur-Lieder in geraden Taktarten mit wenigen Akkorden („Wenn eine Subdominante vorkommt, können Sie schon eine Flasche Sekt aufmachen!“). Davon abweichende Lieder erscheinen darunter nahezu als Ausrutscher oder Druckfehler. Musikalisierung durch das Lied aber habe gerade diese Vielfalt zu bieten und die Erfahrung zu vermitteln, dass es auch schwingende (ternäre) Taktarten gibt oder andere Tonarten wie beispielsweise dorisch und mixolydisch. Dafür hatte er eigene, sehr gelungene Beispiele zur Hand, die sich unter seiner souveränen Anleitung auch problemlos auswendig einstudieren ließen. Mit seinem Beitrag leistete er so, allen Diskussionen um Schlüsselqualifikationen und Nebeneffekte des Singens zum Trotz, auf wohltuende Weise eine Konzentration auf den eigentlichen Fachgegenstand.
Markt der Möglichkeiten
Die Impulsreferate wurden ergänzt durch zahlreiche Präsentationen und Ausstellungen weiterer Initiativen. Dazu gehörten das vom Deutschen Chorverband vergebene Gütesiegel FELIX, mit dem „singende Kindergärten“ ausgezeichnet werden, Kooperationen zwischen Kindertagesstätte und Musikschule, die Aktivitäten des Gordon-Instituts aus Freiburg oder die niedersächsischen Chorklassen, von denen Silke Zieske berichtete. Sie leitete auch einen der folgenden Workshops. Spätestens hier hatte man die Qual der Wahl. Im engen Zeitraster der Tagung musste man sich entscheiden zwischen Aspekten der Liederarbeitung, den Rhythmussilben Dudadi, einem improvisatorischen Gesangsworkshop oder Stimmbildungsgeschichten. Dies offenbarte einmal mehr, wie vielfältig die Angebote und Konzepte für das Singen mit Kindern heute wieder sind. Auffällig war dabei allerdings, dass in der methodischen Arbeit am Lied wieder vermehrt auf die relative Solmisation zurückgegriffen wird.
Insgesamt bot die Veranstaltung einen breiten Überblick über eine erfreulich rege Szene. Die Landesmusikakademie Berlin als Veranstalter konnte damit ihre bisherigen Aktivitäten und Initiativen auf dem Gebiet – zu nennen wären hier vor allem die berufsbegleitenden Fortbildungen zum Singen mit Kindern, das Kinderlieder-Archiv, das Festival „Kinderliedersommer“ und die Mitsingkonzerte und Workshops für Schulen – sinnvoll ergänzen. Zum Abschluss der Tagung, die nun im Abstand von zwei Jahren regelmäßig stattfinden soll, gab es noch ein Konzert des Rundfunk-Kinderchors Berlin unter Leitung von Carsten Schultze. Hier ließ sich begeisternd erleben, wohin tägliches Singen führen kann. Nicht auszudenken, wenn dergleichen Schule macht!