Deutschland ist derzeit das Ziel von Asylsuchenden aus vielen Nationen der Erde, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen, ethischen, vielfach aus individuellen Gründen ihre Heimat verlassen haben. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist erkennbar, dass die Aufnahme der neuen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund unser Bildungssystem und damit auch die Schullandschaft einschneidend verändern wird.
Eine ausgesprochen dringende Förder-Notwendigkeit liegt bereits in Kindergärten sowie in Grund- und Mittelschulen vor, die von den Kindern besucht werden, nachdem sie in den Erstaufnahme-Einrichtungen registriert worden sind. Dort finden sich zum Teil Kinder ohne Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Dimension, mit der mittlerweile viele Grundschullehrkräfte in Form von neuen Klassenkonstellationen konfrontiert sind, und die Brisanz, die eine Integration dieser Kinder in den schulischen Kontext nach sich zieht, werden durch die lapidare Einschätzung einer betroffenen Grundschulkollegin mehr als deutlich: „Ich habe in diesem Schuljahr zum ersten Mal gemerkt, dass mein Beruf politisch ist.“1
Sprache als Schlüssel zur Integration
Über den Sprachcharakter der Musik wurde an vielen Stellen gesprochen, geschrieben, philosophiert. An dieser Stelle soll dieser Diskurs nicht fortgesetzt werden. Gleichwohl ist im Umgang mit neu angekommenen Kindern aus Syrien, aus den Balkanstaaten und anderen Nationen unmittelbar zu spüren, welch existenzielle Bedeutung das Fach Musik im schulischen Fächerkanon besitzt. Die Tendenz in der Schulpolitik, nur auf kognitiven Input zu setzen, wird in einer derart prekären Praxissituation ad absurdum geführt. Denn die Kinder, die zum Teil traumatische Erlebnisse zu verarbeiten haben, sind zunächst einmal angewiesen auf emotionale Wärme, auf ein „Angenommen-Werden“. Die Sprache ist bei dieser Schülerklientel der Schlüssel zur Integration.2 So liegt es nahe, das Erarbeiten musikalischer Strukturen und Kommunikationsformen als sprachnahe Kompetenzen mit dem Erlernen der deutschen Sprache in den sogenannten „Übergangs-“, „Vorbereitungs-“ oder „Willkommensklassen“ zu verbinden.3 Musik bleibt – ähnlich den vielfältig bekannten Einsatzmöglichkeiten im Bereich der (Musik-)Sonderpädagogik4 – in der derzeitigen Situation das Mittel, um Kinder in einer für sie ungewohnten Schulatmosphäre zu empfangen, dort eine emotionale Balance herzustellen und gleichzeitig Spracherwerbsprozesse anzubahnen.
Aus der Praxis – für die Praxis
Von dem verordneten Anspruch, allen Grundschulkindern, also auch den zugewanderten, eine schulische Bildung zukommen zu lassen, sind in erster Linie die Grund- und Mittelschulen betroffen. Die in Deutschland übliche Form der Selektion nach der vierten Klasse führt dazu, dass junge Migrantinnen und Migranten ohne ausreichende Sprachkenntnisse zunächst in Grund- und Mittelschulen integriert werden. Um einen aktiven Beitrag zur Anbahnung einer Integration zu leisten, wurde daher in den ersten Monaten des Jahres 2015 das Deutsch-Lern-Projekt SPRING (SPRache lernen durch sINGen, Bewegung und Tanz) ins Leben gerufen. SPRING ist ein an der Universität Regensburg in Kooperation mit der Von-der-Tann-Schule sowie weiteren Kontaktschulen und den Kolleginnen und Kollegen der Fachrichtung „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) entwickeltes Konzept zum Erlernen der deutschen Sprache.5 Die ergänzende Maßnahme SPRING folgt den Prinzipien eines kommunikationsgeleiteten Ansatzes und bindet grammatikalische Strukturen in den musikbezogenen Sprachbildungsprozess ein. Die enge Verzahnung sprachlicher und musikdidaktischer Modelle ist mit der Entstehung der ersten Übergangsklassen in Regensburg entstanden. Als in den Sommermonaten 2015 die Flüchtlingszahlen derart zunahmen, dass sich kein Landkreis mehr vor dem Thema verschließen konnte, ist bundesweit eine Notwendigkeit gewachsen, die unmittelbar den erzieherischen Alltag in Grundschulen und Kindergärten betraf. Denn ein Großteil der Kinder, die Deutschland über die Balkanroute erreichten, blieb – zumindest vorübergehend – in deutschen Landen. Die osteuropäischen Herkunftsländer zierten als Treppenhausgestaltung längst viele Schulhäuser, weit bevor die Politik den Terminus „Balkanroute“ ins Gespräch brachte. Die Reaktionen, die uns aktuell aus dem gesamten deutschsprachigen Raum erreichen, machen schnell deutlich, dass Lehrkräfte und Erzieherinnen händeringend nach Konzepten suchen, um den Weg zur deutschen Sprache zu begleiten und einen Beitrag zu gelingender Integration zu leisten.
Primarstufe im Fokus
Das pädagogische Handeln bedarf der Planung und Vorbereitung, denn Musikunterricht und Sprachförderung sind zielgerichtet. Gerade in der Primarstufe zeigt sich, dass Musik zwar nicht das einzige, aber ein vorzüglich geeignetes Hilfsmittel ist, Sprachlernprozesse zu unterstützen. Sonderpädagogen, die in Sprachförderklassen eingesetzt sind, wissen längst die Vorteile musikdidaktischer Zugänge zum Kind unterrichtlich zu verwerten.
Nun zeigt sich in der Arbeit in DaZ-Lernklassen sehr schnell, dass nur die strukturierte Beschäftigung und das Involviertsein in das „Sprache-Lernen“ Erfolge garantieren. In der Grundschule sind der weitgehend regelmäßige Ablauf des Schultages und die stete Präsenz der Klassenlehrerin (als stabile Bezugsperson) Garant dafür, dass die Schülerinnen und Schüler die für sie neue Sprache viel schneller lernen als ältere Kinder oder gar ihre Eltern. Zudem finden sich ohnehin vielerorts Lehrkräfte, die das Fach Deutsch im Rahmen der Fachdidaktik studiert haben oder als einen ihrer Schwerpunkte ausweisen. Vieles spricht daher dafür, die „kommunikative Angemessenheit des Sprachhandelns“6 zumindest in der Primarstufe mit musikdidaktischen Prinzipien zu verbinden.
Neben Forschungsansätzen, die mehr und mehr auf die Bedeutung der Schnittmenge zwischen den Fachdisziplinen Deutsch und Musik hinweisen7, und Erkenntnissen aus dem sonderpädagogischen „Förderschwerpunkt Sprache“ finden sich auch in der Musikdidaktik integrative Ansätze, die sich auf Sprachförderung konzentrieren. So zeigten Mechtild Fuchs und Christa Röber mit ihrem an der PH Freiburg entwickelten Material „Quasselliese“ ein Gespür für den Spracherwerb und das Rechtschreiben im Rhythmus der Musik.8 Anja Bossen lieferte in der rhythmisch-musikalischen Unterstützung des Schriftspracherwerbs (2009) sowie in ihrem musikalischen Themenkatalog zur Sprachförderung (2012) einige interessante Ansätze.9 Bereits 2007 hatten die Projektwoche Zukunftsmusik und eine KITA-Studie an Einrichtungen der Stadt Frankfurt/Main das reiche Potenzial im Themenfeld „Musik und Sprache“ gezeigt.10 In den exemplarisch genannten Arbeiten wird sehr deutlich, dass Sprache-Lernen beim Einstudieren eines geeigneten Liedguts bei weitem nicht Halt macht. Zum einen sind es die humanitären persönlichkeits- und identitätsbildenden Potenziale, die bei Kindern von Anfang an gestärkt werden müssen, insbesondere wenn sie nach einer Odyssee durch viele Länder – und Behörden – plötzlich festen Boden unter den Füßen spüren. Zum anderen sind es die der Musik innewohnenden Strukturen, Wiederholungstechniken, die einen Spracherwerbsprozess in Gang halten und helfen, diesen lebendig zu gestalten.
Aufgaben in Forschung und Lehre
Konsequenterweise ergeben sich aus dem kommunikationsgeleiteten Ansatz Aufgaben in Forschung und Lehre. Eine Sprachtheorie als Referenzmodell ist als erster Zugang in die Unterrichtspraxis nur bedingt geeignet11, da der pädagogische Alltag von strukturellen und inhaltlichen Unwägbarkeiten permanent eingeholt wird. Viele Institute, die in der Musiklehrerausbildung tätig sind, haben mittlerweile angefangen, ihre Studienmodule zu überarbeiten und sich auf die neuen Herausforderungen in Aus-, Fort- und Weiterbildung einzustellen. Anknüpfungspunkte, die innerhalb der Studienbereiche „Deutsch als Zweitsprache“ sowie (Elementarer) Musikpädagogik und -didaktik, ebenso in der Tanzpädagogik und Bewegungserziehung vorhanden sind, können mühelos ausgebaut werden. Lernwerkstätten sind an Schulen und Universitäten überdies wichtige Anlaufstellen, um Forschungszugänge in der Schnittmenge von Musik und Sprache auszuloten. Diese Aufgabenfelder werden auch in Weiterbildungsmaßnahmen einen festen Platz beanspruchen müssen, um Hilfen für die pädagogische Praxis anzubieten. Letzten Endes werden sie in der Lage sein, die breit gefächerte Schülerklientel bestmöglich zu integrieren. Dreh- und Angelpunkt bleiben die deutsche Sprache und der kreative Umgang mit Sprachmodellen.
Bildungsbedeutsamkeit des Faches Musik
Die musikdidaktischen Elemente zu SPRING verstehen sich als Beitrag zur – leider oft zu „trockenen“, da lexikalisch ausgerichteten – Sprachförderung. Sie zielen auf eine emotionale Identifikation ab, um vor allem auch bildungsferne Elternhäuser zu erreichen und den Kindern musikbezogen grammatikalische/phonetische Grundlagen näherzubringen. Die Aufnahme von Flüchtlingskindern in den Unterricht der Grundschulen kann bereichernd sein, jedoch muss auch eingeräumt werden, dass sie auf den Unterricht individuell Einfluss nehmen wird.
Wenn der musikalische Beitrag zur Sprachdidaktik ernst genommen wird und zum Unterrichtsprinzip in DaZ-Gruppen und -Klassen reifen kann, so ist er in der derzeitigen Unterrichtssituation an Grundschulen in der Lage, wichtige Impulse zu setzen. Er zielt auf eine wertvolle Hilfestellung ab, um neu angekommene Kinder aus der Isolation zu lösen, sie in die sozialen Strukturen der Schule einzugliedern, Sprachbarrieren abzubauen und Sprechanlässe spielerisch zu vermitteln, um damit authentische Wege der Integration anzubahnen. Der Beitrag des Faches Musik erreicht in diesen Lernsituationen eine Bildungsbedeutsamkeit, die die Vermittlung der deutschen Sprache als Kernkompetenz von Lehrkräften mit dem Ziel der Integration aller Kinder ausweist.
Anmerkungen
1 Anna L., 37 Jahre. Lehrerin an einer deutschen Grundschule.
2 N. Thoma/M. Knappik (Hg.) (2015). Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften. Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis. Bielefeld: transcipt.
3 In Bayern werden Übergangsklassen z.B. für Schülerinnen und Schüler angeboten, die als Quereinsteiger die Schule besuchen und bei denen nur geringe oder keine Kenntnisse der deutschen Sprache vorhanden sind.
4 Genannt sei an dieser Stelle exemplarisch S. Salmon (Hg.) (2006). Hören – Spüren – Spielen. Musik und Bewegung mit gehörlosen und schwerhörigen Kindern. Wiesbaden: zeitpunkt musik.
5 Vgl. M. Balins/H. Gutmann (2015). Sprachförderung für alle! Deutsch als Zweitsprache […]. In: Grundschulmagazin 5/2015, S. 27–33. – S. Jeuk (2015, 3. Aufl.). Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen, Diagnostik, Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. – Der LehrplanPLUS „Deutsch als Zweitsprache“ stellt in Bayern die Grundlage für den Unterricht in den Übergangsklassen dar.
6 S. Jeuk (2015). Sprachförderung. In: Z. Kalkavan-Aydin (Hg.). Deutsch als Zweitsprache. Didaktik für die Grundschule. Berlin: Cornelsen, S. 146.
7 Vgl. dazu z.B. die Arbeit von S. Morgret (2014). Die Förderung phonetischer Kompetenzen durch den aktiven Einsatz von Musik im Unterricht DaF. Eine empirische Studie am Beispiel von arabischen Studierenden […]. Diss. Univ. Kassel.
8 M. Fuchs/C. Röber (2006, 2. Aufl.). Quasselliese. Lieder für den Schrifterwerb. Freiburg: Pädagogische Hochschule.
9 A. Bossen (2009). Das BeLesen-Training. Ein Förderkonzept zur rhythmisch-musikalischen Unterstützung des Schriftspracherwerbs […]. Essen: Die blaue Eule. – Dies. (2012). Sprachförderung mit Musik. Ein Themenkatalog praxiserprobter Lieder […]. Essen: Die blaue Eule.
10 M. Gaul (2009). Musikalische Frühförderung in Kindergärten der Stadt Frankfurt. In: M. Gaul (Hg.). Zukunftsmusik. Förderung musikalischer Potenziale in Kindergarten und Grundschule. Schott [u.a.], S. 27–59.
11 R. Großmann (1991). Musik als „Kommunikation“. Zur Theorie musikalischer Kommunikationshandlungen. Braunschweig: Vieweg.