Elektronische Lernumgebungen machen selbst vor dem Instrumentalspiel nicht Halt. Nachdem computergestützte Verfahren in Medizin, Neurowissenschaften, Psychologie, Marktforschung, Informatik, ja selbst bei Unterhaltungsmedien zur Selbstverständlichkeit geworden sind, eröffnen sich auch in der Musik immer öfter nützliche Anwendungsfelder.
War zum Beispiel bei der computergestützten Analyse des Blickverhaltens im Prima-vista-Spiel vor geraumer Zeit noch eine aufwendige technische Ausstattung vonnöten, so zeigen sich auch hier mittlerweile neue Wege. Die Instrumentalausbildung an Hochschulen und Universitäten kann davon in hohem Maße profitieren, denn für viele Institute sind die technischen Hilfsmittel – auch in interdisziplinärer Ausrichtung – erschwinglich geworden, um das Verhalten von Instrumentalistinnen und Instrumentalisten genauer zu analysieren, das heißt den Weg des forschenden Lernens auch in der Instrumentalpädagogik zu begleiten. Die Verbindung von individuellen und auf die persönliche Ausbildung zugeschnittenen Daten mit computerbasierter Technologie macht den besonderen Reiz aus und ist in der Lage, nicht nur Einzeldaten exakt zu lesen, sondern das Blattspiel als Spezialform des Lesens zu untersuchen und als Informationsverarbeitungsprozess in Gruppen zu messen, zu clustern und grafisch zu veranschaulichen.
Eye Tracking-Studien
Die Untersuchung des Blattspiels mit Hilfe computerbasierter Ressourcen hat eine Tradition von etwa fünfzig Jahren. Die technischen Ressourcen sind mittlerweile so gereift, dass in jüngster Vergangenheit gerade musikspezifische Analysen an Interesse gewinnen, wobei hier in einigen Studien der Schwerpunkt im Anfängerstadium des Musiklesens liegt. Expertenstudien sind dagegen weit seltener und liegen u. a. für professionelle Dirigenten vor (Bigand et al., 2010). Der besondere Reiz an musikbezogenen Eye Tracking-Studien liegt jedoch darin, die Vielfalt im Zugang zum Notentext auf allen Niveaustufen zu untersuchen. Als Tool steht eine Software zur Verfügung, die die Augenfixationen, die Haltepunkte beim Betrachten eines (Noten-) Textes auswertet. Fixationen zählen zu den bevorzugten Messgrößen der Blickbewegungsanalyse. Darüber hinaus werden neben zahlreichen anderen Messgrößen in der Regel Sakkaden (schnelle Blickbewegungen beider Augen) und Regressionen („Rückwärtssprünge“) untersucht, die Aufschluss über die Sicherheit im Umgang mit einem neuen Notentext geben.
Das Eye Tracking-Verfahren bietet exzellente Möglichkeiten, die Fähigkeiten einer Instrumentalistin bzw. eines Instrumentalisten im Labor isoliert, d. h. ohne Störfaktoren und unabhängig von einer Vorspiel- oder Unterrichtssituation, zu überprüfen. Das experimentelle Setting gewährleistet vergleichende Studien, in denen Fertigkeiten der Studierenden, die Vorbildung, stilistische Präferenzen oder unterschiedliche experimentelle Manipulationen für die Analyse von Lernfortschritten berücksichtigt werden können.
Studien als Beispiele
Im Folgenden sollen drei Beispiele aufgezeigt werden, die belegen, dass die Eye Tracking-Forschung als innovatives Instrument vielfältige Möglichkeiten auch für die Ausbildung an Hochschulen und Universitäten bietet. Denn die technischen Verfahren sind in der Lage, Stereotypen und ungünstige Strategien im Leseverhalten aufzuzeigen, die oft der künstlerischen Praxis entgegenstehen. Die Ergebnisse können damit auch in die instrumentalpädagogische Praxis einbezogen werden.
So weist eine Studie von Rosemann/Altenmüller/Fahle (2016) ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren nach. Im Zentrum dieser Studie steht die Auge-Hand-Spanne (AHS) bei Pianistinnen und Pianisten, also die Zeit zwischen Abstand der Handposition beim Blattspiel und Augenposition. Denn die Augen fixieren beim Blattspiel nicht allein die Note, die gerade gespielt wird, sondern sie blicken einen gewissen Zeitabschnitt voraus. Während viele Studien die Blattspielfähigkeit an sich untersuchen, wird die Auge-Hand-Spanne relativ wenig erforscht. Als Einflussvariablen wurden der Einfluss von Erfahrungen im Blattspiel, das geforderte Tempo, Komplexität des Klaviersatzes und die kognitiven Fähigkeiten analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Auge-Hand-Spanne von verschiedenen Parametern abhängt, zwischen denen ein komplexes Zusammenspiel stattfindet. Während in den Messergebnissen ein „Übe-Effekt” nicht nachgewiesen werden konnte, zeigte sich die Wahl eines günstigeren Tempos als vorteilhaftes Kriterium, ebenso eine überschaubarere Komplexität des Satzes.
In einem aktuellen finnischen Eye Tracking-Projekt der Forschergruppe um Gruber/Puurtinen/Huovinen (2014-18) werden Augenbewegungen in Beziehung zur musikalischen Expertiseentwicklung gesetzt. Die Datenerhebung hat dabei das Ziel, ein Verständnis darüber zu erlangen, wie verschiedene Musikerinnen und Musiker die in einer Stimme oder Partitur fixierte Notation vom Blatt lesen. Eine große Zielgruppe sind dabei erstmalig auch Organis-tinnen und Organisten, bei denen der Leseprozess aufgrund der Notation in drei Notensystemen und die spieltechnische Umsetzung für die Forschung von besonderem Interesse sind. Untersuchungen, in denen das Lesen und Spielen gemeinsam betrachtet werden, sind zudem vergleichsweise selten. Daher werden die Ergebnisse für die tägliche Arbeit von professionellen Musikerinnen und Musikern höchst informativ und nützlich sein.
In einer Studie der Universität Regensburg wurde untersucht, inwieweit sich das Blickverhalten von Kirchenmusikerinnen bzw. Kirchenmusikern und Streicherinnen bzw. Streichern im Umgang mit dem Notentext unterscheidet, um auf Ihre Expertise im Prima-vista-Spiel zu schließen und zu ermitteln, wie die Gewohnheiten im Spiel einer Einzelstimme im Vergleich zu einem vierstimmigen Satz zu verorten sind (Gaul/Hammwöhner/Ströhl, 2016). Die Augenbewegungen von fünfundzwanzig Musikerinnen und Musikern wurden beim Spiel unterschiedlich schwieriger Literatur analysiert. Weiterführende Untersuchungen sind derzeit im Gange. Erste Ergebnisse zeigen starke Unterschiede in der Herangehensweise an die Stimmen, die vermutlich darauf zurückzuführen sind, welches Hauptinstrument die Probandinnen und Probanden spielen. Qualitative Interviews helfen, die Kategorisierung der Instrumentalistinnen und Instrumentalisten zu erhärten und Rückschlüsse auf die instrumentalpädagogische Praxis zu ziehen. Diese computergestützte Laboruntersuchung ermöglicht also, Strategien im Vom-Blatt-Spiel zu identifizieren und individuelle Vorgehensweisen näher zu beleuchten. Bei allen Untersuchungen steht als Ziel im Raum, das Blattspiel an Hochschulen, im Unterricht und in Aufführungssituationen zu verbessern und hilfreiche Vorgehensweisen zu ermitteln.
Visualisierung des Blickverhaltens
Die Untersuchung der Datensätze geschieht in der Regel in einem vielschichtigen Analyseverfahren, um die Fixationspunkte im Datensatz, Sakkaden und individuelle Blickmuster zu erfassen. Dies ist zum Beispiel möglich in einer Visualisierung der Partitur mit Fixationspunkten (Einzelanalyse). Eine Stärke des Verfahrens ist die Auswertung in einem Clustering von Blickdaten unterschiedlicher Personen, die in sogenannten „Gazeplots“ (Erfassung der Reihenfolge und Dauer von Fixationen), aber auch in „Heatmaps“ sichtbar gemacht werden können. Heatmap-Verfahren visualisieren farblich die Kulminationspunkte in der Auswertung der Datensätze mehrerer Probanden. Sie signalisieren anschaulich, wie eine Gruppenbildung aus dem Blickverhalten abgeleitet werden kann und damit Kategorien gebildet werden können, die zum Beispiel Personen unterschiedlicher Expertisegrade kennzeichnen.
Ausblick: Vielschichtige technische Möglichkeiten
Für Musikerinnen und Musiker ist es äußerst interessant, die eigenen Augenbewegungen während des Blattspiels nachträglich in einem Videoausschnitt ansehen und analysieren zu können. Das betrifft Musizierende aller Leistungsstufen, auch Sängerinnen und Sänger im Umgang mit ihren Stimmen. Die Blickerfassung wird seit geraumer Zeit im Sinne der Informationsverarbeitung und der Leseforschung international untersucht. Die vielschichtigen technischen Neuerungen sowie die zahlreichen verschiedenen Zugänge lassen neue Fragestellungen in der Instrumentalpädagogik entstehen und empfehlen auch eine Anwendung in künstlerischen/pädagogischen Bereichen, die in hohem Maße von den Visualisierungsprozessen profitieren. Nicht zuletzt kann das Verfahren zur Steigerung der Attraktivität vieler Studiengänge beitragen, indem die Expertise der Studierenden mit Hilfe dieser Forschungsverfahren erfahrbar gemacht und ihr Potenzial weiter gesteigert wird.
Eye Tracking-Studien sind – auch international – wieder im Kommen und zeigen bereits zum jetzigen Zeitpunkt, wie Technologien in der Lage sind, buchstäblich einen neuen Blick auf das Instrumentalspiel zu eröffnen, der die Künstlerin/den Künstler in ihren/seinen individuellen Qualitäten ernst nimmt und in die Lage versetzt, spieltechnische Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Mit den Eye Tracking-Verfahren scheint methodologisch eine neue Diskussionsgrundlage eröffnet zu sein, um Hilfen resp. ein Korrektiv für das individuelle Blickverhalten anzubieten und auch computerbasiert Ressourcen zur Weiterentwicklung künstlerischer Fähig- und Fertigkeiten zu nutzen. Instrumentales Üben wird auch in dieser Hinsicht weiterhin attraktiv bleiben, um individuelle Herausforderungen in die künstlerische Praxis umzusetzen.
Literatur
- Arthur, P., Blom, D., & Khuu, S. (2016). Music sight-reading expertise, visually disrupted score and eye movements. Journal of Eye Movement Research, 9 (7), 1–12.
- Gaul, M., Hammwöhner, R. & Ströhl, B. (2016). Eye movements during sight-reading. SWAET. Scandinavian Workshop on Applied Eye Tracking, Turku, Finland.
- Gruber, H. (2010). Expertise. In D. H. Rost, Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz, 183–189.
- Holmquist, K./Nyström, M. et al. (2011). Eye Tracking. A Comprehensive Guide to Methods an Measures. Oxford: University Press.
- Horsley, M. Eliot, M., Knight, B. A., Reilly, R. (2014). Current Trends in Eye Tracking Research, Heidelberg: Springer.
- Kopiez, R., & In Lee, J. (2006). Towards a dynamic model of skills involved in sight reading music. London: Taylor & Francis.
- Lehmann, A. C., & McArthur, V. H. (2002). Sight-Reading. In R. Parncutt & G. E. McPherson (eds.), The Science and Psychology of Music Performance: Creative Strategies for Teaching and Learning, New York , 135–150.
- Lehmann, A. C., & Kopiez, R. (2009). Sight-reading. In S. Hallam, I. Cross, & M. Thaut, The Oxford handbook of music psychology. Oxford: University Press, 344–351.
- Penttinen, M., Huovinen, E., & Ylitalo, A.-K. (2013). Silent music reading: Amateur musicians‘ visual processing and descriptive skill. Musicae Scientiae, 17(2), 198–216.
- Rosemann, S., Altenmüller, E., & Fahle, M. (2016). The art of sight-reading: influence of practice, playing tempo, complexity and cognitive skills on the eye-hand span in pianists. Psychology of Music, 44(4), 658–673.
- Waters, A. J., Townsend, E. & Underwood, G.: Expertise in musical sight reading: A study of pianists. In: British Journal of Psychology, 89/1998, pp. 123–149.
- Wooding, D. S.: Eye movements of large populations. In: Behavior Research Methods, Instruments & Computers, 34(4)/2002.