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Je mehr Probleme, desto intensiver das Erleben von Musik

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Eine Längsschnittstudie untersuchte den Umgang Jugendlicher mit Musik
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Wer sich heute mit dem Musikleben in unserer Gesellschaft beschäftigt, den interessiert vielleicht die Anzahl der Berufsorchester, der verkauften Klassik-CDs oder der Konzertbesucher. Er wird aber nicht unbedingt an die komplexen Strukturen des Musikerlebens und des Musikgeschmacks denken. Genau darüber sollte er sich aber zu informieren suchen, denn die harte Währung der Orchesterplanstellen und der Umsatzzahlen der Musikindustrie ist untrennbar mit den weichen Faktoren des individuellen Erlebens und der entsprechenden Entwicklung der musikalischen Wertesysteme verbunden.

Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich auf die emotionalen Qualitäten der Musik einzulassen, Musik überhaupt als etwas Ganzheitliches zu erleben, eine möglichst große Neugier auf verschiedenartige Musikstile zu entwickeln. Musikerleben steht dabei für das WIE, Musikgeschmack für das WAS. Zwischen beiden gibt es Wechselwirkungen, weshalb es notwendig erschien, diese Bereiche in einem Projekt gemeinsam zu untersuchen.

1989 begann die Planung für eine Längsschnittstudie zu dieser Thematik, das heißt mit einer Datenerhebung, die mehrfach an der gleichen Stichprobe durchgeführt wird. Nur eine solche Längsschnittstudie erlaubt streng genommen Aussagen über die tatsächliche Entwicklung der erfragten Verhaltensbereiche, nur so lässt sich prüfen, welche Faktoren Einfluss auf die Entwicklung ausgeübt haben. Im Jahre 1991 wurden dann erstmals 157 Jugendliche nach ihrem WIE und WAS gefragt. Bis 1997 gab es – überwiegend im jährlichen Turnus – acht Befragungen, deren Ergebnisse eine detaillierte Beschreibung der individuellen Entwicklung von 150 Jugendlichen ermöglichte. Es lässt sich unschwer vorstellen, mit welch erheblichem Aufwand eine solche Datensammlung wie auch Datenauswertung verbunden ist. Am Ende waren 2.500 Variablen auszuwerten, eine nicht alltägliche Herausforderung.Auch der methodische Aufwand bei der Gestaltung des Fragebogens war erheblich.

So waren durch Aufsummierung einzelner Variablen verschiedene „Skalen“ zu konstruieren, beispielsweise für die verschiedenen Hörweisen. Jugendlichen, die nach eigenem Bekunden dazu neigten, beim Musikhören gelegentlich zu weinen, häufiger als andere ihren Träumen nachzuhängen, in Gedanken weit weg zu schweifen, erhielten das Attribut „Sentimentales Hören“. Analog wurden sieben weitere Skalen, unter anderem für „Kompensatorisches“ und „Stimulatives Hören“ gebildet. Entsprechende Skalen wurden für verbale und klingende Präferenzen gebildet.

Was hat sich in den Köpfen (aber auch Herzen!) dieser 150 Jugendlichen zwischen 1991 und 1997 in Bezug auf Musikerleben und Musikgeschmack ereignet? Ist das zweite Lebensjahrzehnt wie oft vermutet, eine in dieser Hinsicht stürmisch bewegte Zeit? Werden hier die Weichen gestellt für eine lebenslange Haltung, mit Musik umzugehen, Musik zu lieben – oder zu hassen? Daten aus den 1980er-Jahren ließen sich dahingehend interpretieren, dass sich das Musikerleben tatsächlich vor allem auf Lernprozesse im zweiten Lebensjahrzehnt zurückführen lässt.

Zur nicht geringen Überraschung ließ sich nun für unseren Befragungszeitraum feststellen, dass sich der Musikgeschmack bereits mit dem zwölften Lebensjahr im Wesentlichen stabilisiert hat, die Rangfolge der verbalen Musikpräferenzen sich nicht mehr gravierend verändert. Die Hitparaden der Popmusik produzieren einen Rhythmus der Aufmerksamkeit, der bestimmt, welche Interpreten/Titel jeweils gehört werden, aber grundsätzlich sind die Weichen mit zwölf Jahren für die meisten Jugendlichen gestellt! Ob man sich im Mainstream wohler fühlt als bei sogenannten Independents, Zugang zur Klassik-Hochkultur findet, ist vor der Pubertät entschieden!

Auch bei den acht Hörweisen („kompensatorisch“ etc.) zeigte sich, dass die Entwicklung nach dem zwölften Lebensjahr eher als Stabilität zu interpretieren ist. Eine Entwicklung ergab sich nur für das „diffuse Hören“, eine Hörhaltung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Musik ohne konzentrative Zuwendung lediglich als Hintergrund gehört wird. Für die meisten unserer Jugendlichen ließ sich feststellen, dass sie zunehmend lernen, wegzuhören, wenn Musik erklingt.

Ein wesentlicher konzeptioneller Aspekt dieser Studie war die Absicht, auch den lebensgeschichtlichen Hintergrund bei der Entwicklung von Musikerleben und Geschmack zu berücksichtigen. Dazu zählen unter anderem Sozialstatus des Elternhauses, Schultypus, musikalische Aktivitäten, Mediennutzung, Szene-Sympathien, Freizeit-Orientierung und persönliche Probleme der Jugendlichen. Unser besonderes Interesse galt der Frage, wie sich die individuelle Belastung durch Probleme auf Erleben und Geschmack auswirkt. Zu diesem Zweck wurden zehn Probleme (Schule, Niedergeschlagenheit …) vorgegeben, die jeweils hinsichtlich der individuellen Relevanz einzustufen waren. Anhand dieser Daten ergab sich die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen den musikalischen und den Problem-Skalen zu spezifizieren. Dabei zeigt sich eine ungewöhnlich hohe Korrelation zwischen Problembelastung und der Intensität des Musikerlebens. Die Größe dieses Zusammenhangs rechtfertigt die Feststellung: „je mehr Probleme, desto intensiver das Musikerleben!“

Als wir das Zusammenhangsnetz der zehn Problemskalen mit den Skalen des Musikerlebens näher in Augenschein nahmen, entdeckten wir einige bemerkenswerte Details. Zunächst zeigte sich, dass jede der acht Hörweisen durch ein eigenes Problem-Profil gekennzeichnet war, dabei wurden Angst und Einsamkeit am häufigsten angegeben. Am stärksten wird „Sentimentales Hören“ durch Probleme beeinflusst. Diese Zusammenhänge zeichnen sich bereits bei den 14-Jährigen ab, sind aber erst bei den 17-Jährigen deutlich ausgeprägt. Man gewinnt anhand dieser Daten den Eindruck, dass die Jugendlichen in diesen Jahren ein zunehmend differenziertes System der selbsttherapeutischen Benutzung von Musik entwickeln, ein Phänomen, das bei Mädchen erheblich ausgeprägter zu beobachten ist als bei Jungen.

Besonders hervorzuheben ist die Bedeutung der Szene-Sympathien. Anhand einer Liste von zehn Szenen (Disco-Fans, Fitness, Punks …), wurden die Jugendlichen gebeten, ihr Verhältnis zu diesen anzugeben. Bei einigen der Szenen stand die Musik im Vordergrund, andere definieren sich durch vorherrschende Freizeitaktivitäten (Fitness, Motorräder und andere). Besonders hervorzuheben war dabei, dass mehr als die Hälfte der Befragten im Verlauf der Studie auf vier oder mehr Szenen positiv reagierte, die Szenen damit zu den wichtigsten Sozialisationsinstanzen zählen.

Wer klingende und verbale Musikpräferenzen erfassen will, merkt sehr schnell, welche Schwierigkeiten beide Verfahren mit sich bringen. Das beginnt mit dem Problem der Auswahl der zu untersuchenden Musikstile und endet bei der Prüfung, ob die ausgesuchten Beispiele diese auch tatsächlich repräsentieren. Hinzu kommt die (testtheoretische) Notwendigkeit, möglichst viele Beispiele für die einzelnen Musikbereiche auszuwählen, gleichzeitig aber die Anzahl der Beispiele zu begrenzen, weil der Zeitaufwand für die Durchführung einer klingenden Befragung ganz erheblich ist.

Dadurch, dass klingende UND verbale Präferenzen an einer Stichprobe erhoben wurden, ergab sich die Möglichkeit, die klingenden und verbalen Vorlieben im Nachhinein zu „validieren“: Soll eine Person als Klassik-Freund gelten, muss sie die betreffende Musik auf beiden Ebenen positiv bewertet haben, klingende und verbale Daten können sich gewissermaßen gegenseitig kontrollieren. Die Problematik der Geschmacks-„Messung“ soll hier nicht weiter Thema sein, es sollte lediglich angedeutet werden, welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man klingende und verbale Musikpräferenzen erheben will und die Ergebnisse über den Tag hinaus eine gewisse Gültigkeit haben sollen.
Wenn die jahrelange Beschäftigung mit einem Projekt zum Ende gekommen ist, fragt man sich natürlich, welche Relevanz die Ergebnisse aktuell haben, speziell im Hinblick auf musikpädagogische Fragestellungen. Zunächst ist klarzustellen, dass die Ergebnisse nicht 1:1 auf unser Jahrzehnt übertragen werden können, aber zeigen, wie Entwicklungen verlaufen können.

Die Untersuchung belegt ebenso genug Phänomene, deren Wirksamkeit durchaus auch heute vermutet werden kann, so die „Frühreife“ der Zwölfjährigen. Dazu gehört auch, dass die Jugendlichen differenzierte Strategien entwickelt haben, ihre Probleme musikalisch zu bewältigen, dass die verschiedenen Hörweisen mit je spezifischen Problem-Profilen korrespondieren. Die Daten belegen darüber hinaus, dass das Musikangebot der Gegenwart am besten durch ein dynamisches Wechselspiel von Majoritäten und Minoritäten interpretiert werden kann. Hier könnten die Ergebnisse der Studie zur weiteren Theoriebildung auf den zentralen Themenfeldern der Musikpsychologie beitragen sowie allgemein zu mehr längsschnittlichen Untersuchungen ermutigen. Die Unterschiede zwischen Quer- und Längsschnitt-Studien kann man nicht genug hervorheben: Querschnitte sind auf den Zustand zu einem Zeitpunkt x beschränkt, Längsschnitte eröffnen hingegen einen Blick auf die tatsächliche individuelle Entwicklung.

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