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Taugt die Populäre Musik zur Leitkultur?

Untertitel
Musikpädagogik im Spannungsfeld von Hochkultur und musikkultureller RealitätHeinrich Klingmann
Publikationsdatum
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Im Mai 2007 meldete die Pressestelle der Volkswagenstiftung, dass man 380.000 Euro für ein Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin bewilligt habe. Das Projekt ist auf drei Jahre ausgelegt und steht unter der Überschrift „Jazz im ‚Ostblock‘ – Widerständigkeit durch Kulturtransfer“. In der Projektbeschreibung liest man die Feststellung: „Jazz gilt als die Musik der Freiheit und Demokratie und als Symbol des American Way of Life“.

Was hier für den ehemaligen „Ostblock“ im Kontext einer Erforschung der „Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas“ untersucht wird, spielte auch im „Westblock“ und hier insbesondere im westlich-US-amerikanisch geprägten Nachkriegsdeutschland und der jungen Bundesrepublik eine Rolle. Die gesellschaftlich-politische Kraft und Wirkung des Jazz ergab sich dabei nicht aus seinem politischen Anspruch, sondern daraus, dass er als Medium sozialer Interaktion insbesondere jungen Menschen ein kulturelles Experimentierfeld eröffnete – jenseits des normativen Kulturbegriffs traditionsbewusster Eliten. Auch die vehementen Forderungen nach einer Umsetzung der „unabgegoltenen“ Versprechen der Demokratie sowie deren Umsetzung in „alternative“ Lebensentwürfe, die in den jugendlichen Gegenkulturen seit den 1960er-Jahren artikuliert und erprobt wurden, korrespondieren mit einem „Sound“, der heute in Musikpädagogik und Musikwissenschaft unter dem unscharfen Begriff der „Populären Musik“ verhandelt und damit als „Unterhaltungsmusik“ von der „ernsten Kunstmusik“ abgegrenzt wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich pointiert formulieren: Der Soundtrack der Demokratie ist „U“.

Sollte nun diese holzschnittartige Skizzierung des Verhältnisses von Demokratieentfaltung und Populärer Musik zumindest in Ansätzen zutreffen, ergibt sich für die Musikpädagogik die Frage, ob im Sinne einer Ermöglichung und Förderung demokratietauglicher Bildung im Medium des Musikalischen nicht die Notwendigkeit und Pflicht dazu besteht, einen kulturellen Führungsanspruch der Populären Musik zu formulieren und einzuklagen.

„Leitkultur“ ist ein
politischer Begriff

Es sind nicht zuletzt Assoziationen, die auf die deutsche Geschichte und hierbei insbesondere auf kulturpolitische Maßnahmen der „Führungseliten“ der nationalsozialistischen Diktatur verweisen, die den Begriff „Leitkultur“ zu einer höchst problematischen Zumutung werden lassen. Und dennoch oder vielleicht gerade aufgrund seiner „Anstößigkeit“ scheint der Begriff führenden Vertretern der CDU dazu geeignet, den gesellschaftlichen Diskurs über den Geltungsanspruch kulturell geprägter Weltsichten in einer zunehmend multikulturell verfassten Gesellschaft anzufachen. Er steht damit auch für den Versuch einer Volkspartei der rechten Mitte, gesellschaftliche Veränderungen und Fortschritte anzuerkennen und aufzunehmen, ohne die eigenen Grundfesten zu verleugnen. Äußerliches Merkmal für die Bedeutsamkeit, die dieser Begriff hierbei für die Schärfung des christlich-konservativen Profils der CDU erlangt hat, ist seine Verwendung in ihrem Grundsatzprogramm (2007) und im aktuellen Wahlprogramm.

Nun verbleiben die hiermit verbundenen politisch motivierten Klärungsprozesse konsequenterweise nicht auf der Ebene unverbindlicher Diskussionen. Die zu vernehmenden Parolen wie: „Wissen, was gilt“ oder: „Ohne kanonisches Wissen (mit einem Wissen ‚unter aller Kanone‘) sind kulturelle Identität und Kommunikation kaum möglich“, machen die Zielrichtung deutlich. Der erhoffte Ertrag ist die politisch-weltanschaulich grundierte Setzung von Ansprüchen der „Mehrheitsgesellschaft“, wie sie von der Konrad-Adenauer-Stiftung beispielsweise mit der Formulierung eines verbindlichen musikalischen Werkkanons im Rahmen der „Bildungsoffensive Musikunterricht“ im Jahr 2004 vorgelegt wurde. Diese zielt nicht zuletzt darauf, einen Anspruch auf Anpassung zu begründen und einer Bildung von „Parallelgesellschaften“ entgegenzutreten.

Eine Erzählung, die nicht mehr erzählt wird

Leitkultur versteht sich häufig als Ausfluss altehrwürdiger Bürgerlichkeit und gefällt sich in der Rolle, den Führungsanspruch des „Unzeitgemäßen“ zu vertreten. Tatsächlich ist dieses „Unzeitgemäße“ im Aussterben begriffen und entspricht eben nicht den Ansprüchen der Mehrheitsgesellschaft. Symptomatisch sind hier Buchtitel wie „Der letzte Mohikaner“ – eine Autobiographie, die der „Kritikerpapst“ Joachim Kaiser gemeinsam mit seiner Tochter verfasst hat. Und es verwundert nicht, wenn im Deutschlandfunk zur Bewerbung des Buches berichtet wird, dass Henriette Kaiser ihren Vater auch gerne mal als „Dinosaurier der Hochkultur“ bezeichnet.

Spätestens seit den nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden Emanzipationsbewegungen steht die so gerne beschworene Bürgerlichkeit, die sich auf Aufklärung und Humanismus beruft, auch für den unzeitgemäßen Führungsanspruch von schöngeistigen Patriarchen und ewigen Helden der Hochkultur. Deren historische Ablehnung einer Gleichwertigkeit von Frauen oder „wilden“ und „unzivilisierten“ beziehungsweise „unkultivierten Völkern“ mit dem „weißen Mann“ offenbart beispielhaft einen autoritären Geist. Dieser wurde in Deutschland im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts schrittweise zurückgedrängt, untermalt vom Sound der Populären Musik, die nicht zuletzt auch für eine lustbetonte, körperliche Befreiung steht. Die hierbei „verloren“ gegangenen autoritaristisch geprägten Anteile der Aufklärung als „großer Erzählung“, die als institutionalisierte Bürgerlichkeit die Legitimität universal gültiger Normen vorgibt und durchsetzt, möchte heute niemand zurück haben, der sich auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung beruft.

Der bürgerliche
Kulturbegriff als Norm

Natürlich maßt sich kein ernst zu nehmender Vertreter der aktuellen Leitkulturdebatte an, Kulturen unterschiedliche Wertigkeiten zuzumessen. Was man versucht, ist, innerhalb der „eigenen“ Kultur einen verbindlichen Kernbestand an positiv bewerteten kulturellen Gemeinsamkeiten festzuschreiben und zu verordnen. Hierzu verwendet man einen normativen Kulturbegriff. Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz stellt im „Handbuch der Kulturwissenschaften“ (2004) als Kennzeichen dieses Kulturbegriffs fest, dass ein „universaler Maßstab des ‚Kultivierten‘ angenommen wird“. Obwohl man also nicht (mehr) versucht, die „klassische Hochkultur“ zum weltweit gültigen Maßstab zu erklären, so besteht man doch darauf, dass Auseinandersetzungen über die Bewertung kultureller Äußerungen, Handlungen oder Artefakte im abendländisch geprägten Deutschland und Europa ausschließlich auf der Grundlage der leitenden Normen des bürgerlichen Kulturbegriffs geführt werden können. Dies hat auch musikpädagogische Konsequenzen. Denn eine zentrale pädagogische Idee der deutschen Aufklärung, wie sie uns bei Schiller begegnet, war die Charakterbildung des Menschen durch die Beschäftigung mit ästhetischen Objekten, die als schöne Kunst qualifiziert werden. In der aktuellen Leitkulturdebatte wird nun der Ernsthaftigkeit der legitimen Hochkultur eine populäre Spaßkultur gegenübergestellt, was aus der Perspektive eines normativen Kulturbegriffs eine prinzipielle Absage an den charakterbildenden Wert und an einen ethisch vertretbaren Führungsanspruch der Populären Musik nach sich zieht.

Dorothee Barth hat in ihrer im Jahr 2008 erschienenen Dissertation überzeugend dargelegt, dass ein normativer Kulturbegriff nicht dazu geeignet ist, eine interkulturell orientierte Musikpädagogik in einer multikulturell geprägten Gesellschaft zu begründen. Für die Vertreter einer Leitkultur ist diese Feststellung unproblematisch, denn man möchte ja gerade nicht die „Multikultur“ thematisieren. Vielmehr geht es darum, den Blick und das Empfinden für Unterschiedlichkeiten und, damit verbunden, unterschiedliche Wertigkeiten innerhalb einer pluralistisch verfassten und multikulturell geprägten Gesellschaft zu schärfen. Norbert Lammert fasst dieses Ansinnen in einem Youtube-Video in der Diagnose: „Wo alles gleich gültig wird, wird alles gleichgültig.“ Wenn die Verblüffung über die Geschmeidigkeit, mit der einen diese Formulierung umarmt, nachlässt, so lässt sich feststellen, dass sie zwar griffig, aber hohl ist. Etwas wird gültig, wenn ihm ein Wert verliehen beziehungsweise zugeschrieben wird und es ist der Person, die diese Zuschreibung vollzieht oder vollzogen hat, damit eben gerade nicht mehr gleichgültig.

Hier ist der Kern der Auseinandersetzung erreicht. Bildung kann in Zeiten der entwickelten Moderne nicht mehr auf der Grundlage einer Einführung in eine gültige Weltsicht erfolgen. Die gemeinsame Gestaltung der demokratischen Verhältnisse in einer multikulturellen Gesellschaft setzt die Anerkennung „fremder“ Perspektiven und deren Gültigkeit im Rahmen einer rechtsstaatlichen Verfassung voraus. Unterschiedliche kulturell geprägte Sichtweisen ergeben sich allerdings nicht nur zwischen unterschiedlichen kulturellen „Blöcken“, sondern auch innerhalb vermeintlich homogener kultureller Kontexte. Populäre Musik hat wesentlich zur Erosion des Alleinvertretungsanspruchs eines normativen Kulturbegriffs in den westlich-abendländischen Demokratien beigetragen.

„Populäre Musik“: kein Gegenstand, sondern ein Medium
Im allgemein bildenden Musikunterricht spiegelt sich die gesellschaftlich-kulturelle Anerkennung Populärer Musik in einem bunten Methodenpluralismus. Dieser hat sich unter dem Druck der Verhältnisse längst davon verabschiedet, auf musikwissenschaftliche und didaktische Begründungen zu warten. Bis heute steckt die akademisch-theoretische Reflexion Populärer Musik trotz gewichtiger Anstrengungen in den Kinderschuhen, und die Anwendung der traditionellen „Werkzeuge“ des legitimen Wissenschaftsbetriebs führt immer wieder zu ihrer Verunstaltung.

Der menschliche Genius ist bei Populärer Musik nicht in der strukturellen Komplexität einer Transkription nachweisbar. Er erweist sich vielmehr in der gekonnten, inspirierten und inspirierenden Auslegung von Gestaltungsregeln im Moment des musikalischen Produktionsprozesses. Musik erscheint als Medium sozialer Interaktion, als Anlass, Bedeutungszuschreibungen auszustellen, anzubieten, umzudeuten und auszuhandeln. Vor diesem Hintergrund kann der Begriff „Unterhaltungsmusik“ verstanden werden als Bezeichnung für eine musikkulturelle Praktik, die sich eignet, Bildungsprozesse im Medium des Musikalischen in Gang zu setzen. Im Umgang mit Populärer Musik bilden sich musikbezogene Standpunkte aus, die auf ihren praktischen Wert für die Gestaltung sozialer Handlungssituationen hin überprüft und überarbeitet werden.

Führungsanspruch von „U-Musik“?

Populäre Musik entsteht auf der Grundlage eigenständiger musikalisch-ästhetischer Ausdrucks- und Gestaltungsweisen. Sie ist nicht „gültiger“ oder weniger wert als Ernste Musik. Sie ist anders. Aus ihrer gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung ergibt sich die Notwendigkeit, sie musikpädagogisch zu thematisieren und das ihr eigene Bildungspotential zu erschließen. Aus ihrer Eigenständigkeit ergibt sich die Notwendigkeit, sie im tertiären Bildungssektor verstärkt zu verankern. Reaktionen von Vertretern der „Hochkultur“, die hierin bereits heute eine Bedrohung der eigenen Position sehen, sind völlig unrealistisch. Bisher ist es jedenfalls nach wie vor die Regel, dass popmusikalisch sozialisierte junge Musikerinnen und Musiker in den Aufnahmeprüfungen zu Lehramtsstudiengängen „rausgeprüft“ werden und Absolventen eben dieser Studiengänge ohne jegliche „Popkompetenz“ examiniert werden.

Populäre Musik ist eine Aufforderung zur Interaktion und zur Kommunikation – zur Unterhaltung im besten Sinne – die man ablehnen kann. Verordnen lässt sie sich nicht. Die Idee einer „Leitkultur Populäre Musik“ entspringt einem mit der Wertschätzung Populärer Musik unvereinbaren Kulturbegriff und ist ein Schreckgespenst, mit dem allenfalls versucht werden kann, ihre akademische Etablierung zu verzögern.

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