Es war beinahe wie im Märchen: Das berühmte dritte Mal führt zum Erfolg. 2020 hätte Europa InTakt stattfinden sollen – als Weiterführung oder auch „Spätfolge“ der internationalen und inklusiven Veranstaltung Europa InTakt 2010, die Teil der Großveranstaltung Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 an der TU Dortmund gewesen war.
Für Herbst 2020 war Europa InTakt längst fertig geplant, da kam Corona. Im Herbst 2021 war es ebenso. Nun, im Herbst 2022 hat es also geklappt – weil die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ebenso wie die Bernd Jochheim Stiftung ihre Zusagen Jahr um Jahr erneuert hatten. Und: Die Mitarbeiterinnen des Zentrums für Hochschulbildung der TU Dortmund kannten das ganze Procedere aus den vergangenen Jahren und blieben auch in diesem Jahr dabei.
Begonnen hat die Veranstaltungsreihe Europa InTakt mit dem europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 an der TU Dortmund. Engagierte Sponsoren haben zusammen mit der TU Dortmund die internationalen Treffen von inklusiv orientierten Musikensembles ermöglicht (https://www.musik-inklusiv.de/europa-intakt). Gehörlose Studierende aus der Türkei trafen sich mit Sängerinnen aus Litauen, das Orchester esagramma aus Mailand mit dem Ensemble „Les Percussions de Treffort“ aus Frankreich. Langjährige Beziehungen sind so entstanden, viel künstlerischer Austausch, viel gegenseitige Unterstützung.
Zu jedem Europa InTakt gehörte und gehört ein Motto. „Classic goes digital“ war es diesmal. Digitales auch in der Inklusion? So ein Modethema? Von wegen. Vielen Menschen mit Komplexen Behinderungen ist es nicht möglich, klassische Musikinstrumente auf klassische Weise zu spielen. Im Übrigen ist hier die klassische Tonerzeugung gemeint, nicht die gleichnamige Epoche der Musikgeschichte. Ein Instrument zur Hand nehmen und die Handlungen ausführen, die es braucht, um ihm Töne zu entlocken – dies können nicht unbedingt alle, die dennoch gern Musik machen wollen. Erfindungsreiche Menschen haben sich deshalb in den vergangenen Jahren zahlreiche elektronische Hilfsmittel überlegt, die Menschen mit bestimmten Behinderungen das Musikmachen ermöglichen. Neue Medien und alte Instrumente – das schließt sich also keineswegs aus. Und wer weiß denn, was alles so geht? Der Dachverband EUCREA – das “Portal zu Kunst/Behinderung/Inklusion“ – hat 2019 ein Europäische Symposium mit dem Titel Soundform veranstaltet, in dessen Verlauf zahlreiche der neu entwickelten Instrumente präsentiert wurden (https://www.eucrea.de/aktivitaeten/tagungen/soundform). Soundform in Hamburg war dann der Impulsgeber zu Classic goes digital – im Ruhrgebiet.
Am 21. September 2022 eröffnete schließlich Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen die insgesamt viertägige Veranstaltung Europa InTakt 2022 in der St. Marienkirche in Dortmund. Auch in seiner zweiten Amtszeit – die erste Berufung zum Bundesbehindertenbeauftragten erfolgte 2018, die zweite nun in der gegenwärtigen 19. Legislaturperiode – setzt Dusel sein Engagement für eine inklusive Kultur- und Musikpolitik fort. „Inklusion ist nichts Nettes, nichts Karitatives, sie ist Menschenrecht“ betont er immer wieder. Das Motto seiner Amtszeiten: „Demokratie braucht Inklusion“. „Sie machen hier Demokratiearbeit“ lobt er die Anwesenden.
Das Eröffnungskonzert bringt zunächst das dortmunder Ensemble piano plus mit Claudia Schmidt auf die Bühne, entstanden ab 2010 im Rahmen des Dortmunder Modell: Musik (https://www.musik-inklusiv.de/dortmunder-bochumer-modell). KeKeCa aus Istanbul zaubert mit der Uraufführung seiner Bodypercussion zum Rondo Alla Turca ein Lächeln auf alle Gesichter, das gelingt auch dem Ensemble Hands Off Music der Anna-Freud-Schule Köln, deren junge Mitglieder – alle sind Schülerinnen und Schüler – das dort erfundene Globophon zum Klingen bringen (https://uebenundmusizieren.de/artikel/globophone-und-blob/). Höhepunkt des ersten Abends wird ohne Zweifel das Yanna-Pelser-Trio aus Rotterdam, das mit Karin van Dijk („Magic Flute“) und Florine Joosse („Gesang“) einfach nur begeistert.
Dieses und zwei weitere Konzerte wurden von den „Bildmischern“ dokumentiert; in Kürze finden sich unter Europa InTakt 2022 alle konzertanten Auftritte dieses inklusiv ausgerichteten Festivals auf der Homepage von nmzMedia.
Tagsüber wurde Europa InTakt zum echten Arbeitsfeld. „Nur“ fotografisch – von Oskar Neubauer – dokumentiert wurden die Workshops, die den technischen, musikalischen und menschlichen Austausch in gleicher Weise verfolgten. Rotterdam und Novi Sad, Novi Sad und Istanbul, das Saarland und Köln, Hamburg und das Ruhrgebiet kamen multikulturell zusammen. Exemplarisch: Ruud van der Wel aus Rotterdam, Gründer der Organisation My Breath My Music und mit anderen zusammen Entwickler zahlreicher Instrumente für Menschen mit komplexen Behinderungen, hat für Europa InTakt die Idee des „Sling Orchestra“ entwickelt: Alle Beteiligten legen den Arm in eine Schlinge, um ihn zu „schonen“ und zu erfahren, wie es ist, wenn eine Hand nicht zur Verfügung steht. So lernen alle Teilnehmenden die elektronischen Instrumente kennen und spielen – um beim Abschlusskonzert schließlich gemeinsam „The days go by“ von Max Richter aufzuführen.
Vierhändig spielen – das wird im Workshop Musik Apps auf dem iPad geübt. Ja, manche wissen es schon. Manche machen es das erste Mal bei Europa InTakt. Aus Boomwhackern elektronisch funktionierende Soundwhacker zu machen – das passiert im Workshop des Tüftlers Patrick Schäfer. Konzentration und Musik also allerorten.
Wenn jemand immer noch die Frage stellt: Warum Musik und Inklusion? Dann kann die Antwort nach Europa InTakt 2022 nur lauten: Weil es gerecht ist und weil außerdem gute Pädagogik und gute Kunst dabei herauskommen.