Schulmusiker klagen über ausfallenden Musikunterricht, Musikschulen müssen Jahr für Jahr um ihre lebensnotwendigen Gelder von Seiten der öffentlichen Hand bangen, die Schallplattenindustrie hat kein Geld mehr für teure Orchesteraufnahmen, Orchester fürchten die Überalterung ihrer Zuhörer, die Laienmusikverbände sehen das Ehrenamt gefährdet und fürchten die Abgaben an die Künstlersozialkasse. Scheinbar unberührt von allen diesen Sorgen ist der Wettbewerb “Jugend musiziert“ – eine fast 40-jährige Erfolgsstory im deutschen Musikleben. Den 38. Bundeswettbewerb “Jugend musiziert“ richtet die Stadt Hamburg aus – und die Veranstalter jubeln über einen neuen Teilnehmerrekord: 1.500 junge Musiker werden zwischen 31. Mai und 7. Juni in Hamburg erwartet. “Jugend musiziert“ wird wieder einmal seinem Image als Vorzeigeprojekt des Deutschen Musikrates gerecht. Trotzdem oder gerade deshalb gehört es zu den Aufgaben der „Wettbewerbsmacher“, sich ständig Gedanken über die Verbesserung des Erreichten oder die Anpassung an neue Forderungen zu machen.
Den aktuellen Wettbewerb mit seiner ungebrochenen Attraktivität auf den musikalischen Nachwuchs nahm die neue musikzeitung zum Anlass, um sich ausführlich mit dem Vorsitzenden des “Jugend musiziert“-Hauptausschusses, Reinhart von Gutzeit, über Psychologie der Wettbewerbs-Jury (siehe auch Artikel von Gerhard Mantel auf Seite 9) und einiges mehr zu unterhalten.
: Im Herbst 1997 veränderte “Jugend musiziert“ entscheidende Wettbewerbsvorgaben und setzte neue Schwerpunkte auf Kammermusik, Alte Musik und Zeitgenössische Musik. Was bewährte sich, was nicht?von Gutzeit: Dieses Jahr gibt es eine ganz wichtige Veränderung: die so genannte „Komma-null-Regelung“. Der Teilnehmer findet auf seiner Urkunde nicht mehr wie früher 24,2 oder 18,6 Punkte, sondern eine runde Punktzahl. Und das hat eine ziemlich große Auswirkung auf die Psychologie dieses Wettbewerbs. Ich halte es für unkünstlerisch, einem Spieler mitzuteilen, dein Spiel war 22,4 Punkte wert. 22,4, das klingt so ähnlich wie 100 Meter in 10,8 Sekunden und suggeriert von daher eine Objektivität, eine Nachweisbarkeit im Detail, die wir nicht ernsthaft vertreten können. Ich möchte auch nicht dahin kommen, dass der eine Teilnehmer zum anderen sagt: „Ich habe zwei Zehntel mehr und bin also der Bessere. Deshalb muss ich jetzt an deiner Stelle am Pult im Landesjugendorchester nach außen.“
: Damit stellt sich die Frage nach der beruflichen Karriere der Teilnehmer. Wen will “Jugend musiziert“ ansprechen, die Breite oder die Spitze?von Gutzeit: Wir wollten bestimmte Formen des Musizierens, die am Musikmarkt heute wesentlich geworden sind, integrieren: experimentelle Musik mit elektronischen Bestandteilen, alte Musik auf historischen Instrumenten oder in historisch geprägter Spielweise, größere Kammermusikwerke in ungewöhnlichen Besetzungen. Wir haben hochinteressante Leistungen von jungen Leuten in diesen Feldern erlebt. Ich bin mir sehr sicher, dass die Zentralkonferenz im Herbst empfehlen wird, diese Kategorien weiter zu führen.
Die entscheidende Veränderung aber war der Dreijahresrhythmus. Mancher junge Musiker konnte sich nun in der Solowertung nicht mehr so oft bei “Jugend musiziert“ bewerben: Damit verbanden wir die Hoffnung, dass auch die besten Spieler sich mehr der Kammermusik zuwenden. Die Zeiten, wo die Kammermusikwertung der Tummelplatz derer war, die sich keine Chance auf den ersten Preis ausgerechnet haben, sind vorbei. Wir haben 2001 über 300 Pianisten beim Wettbewerb als jugendliche Klavierpartner, hauptsächlich in der Kammermusikwertung. Das ist ein riesiger musikpädagogischer Fortschritt.
: Hier treten die zukünftigen Solisten auf den Plan?von Gutzeit: “Jugend musiziert“ ist in dieser Hinsicht ein Zwitter. Der Wettbewerb soll der musikalischen Breitenarbeit dienen. Auf diesen Aspekt legt zum Beispiel das Jugendministerium als Preisstifter zu Recht großen Wert. Dieser Anspruch wird vor allem auf Regionalebene erfüllt Die Stichworte lauten hier: Festivalcharakter und Begegnung. Auf der Landes- und der Bundesebene wird “Jugend musiziert“ dann mehr und mehr zu einem Spitzenwettbewerb mit hohen Leistungsansprüchen.
: Das ist wohl eine Frage der Jurykultur?von Gutzeit: Wir müssen auf allen Ebenen der Musikausbildung dieses große Ziel „Ich will ein Solist werden“ relativieren. Auch diejenigen, die mit 25 Punkten aus der Solowertung von “Jugend musiziert“ herausgehen, sind deswegen noch nicht als zukünftige Solisten prädestiniert. Sie sind vielleicht künftige Konzertmeister, Solobläser, Hochschullehrer, sicherlich führende Kräfte im Musikleben – aber man braucht so wenig Solisten und generell sind Prognosen im künstlerischen Leben gewagt und unprofessionell. Man kann nicht genug davor warnen, immer nur diesen Fetisch „Solist“ im Kopf zu haben. Egal, ob bei “Jugend musiziert“ oder in der Hochschulausbildung. Denn damit wird letztlich vorprogrammiert, dass junge, leidenschaftliche Musiker nach dem zweiten Berufsjahr Frustrierte sind, weil ein Ideal sich nicht erfüllt hat. Es ist fatal, immer wieder diesen Traum zu nähren. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch fatal, wenn junge Leute keine Träume mehr träumen. Zur rechten Zeit das richtige Maß von Realismus zu finden, ist ein wichtiges Ziel.
: Sein Image hat der Wettbewerb daher, dass beinahe alle heute an exponierter Stelle wirkenden Musiker einen Preis bei ”Jugend musiziert“ in ihrem Lebenslauf stehen haben. Wird das in Zukunft auch noch so sein?von Gutzeit: Wir wollen möglichst vielen jungen Leuten eine Bestätigung ihrer großartigen Leistungen geben. So hat sich in den letzten Jahren eine Praxis herausgebildet, Preise großzügig zu bemessen. Auf der anderen Seite steht das Problem, dass durch Preise oft bei den jungen Menschen – nicht zu vergessen die Eltern und Lehrer – falsche Erwartungen geweckt werden. Auch führt die große Zahl der Preise leicht dazu, dass diejenigen, die keinen Preis erlangen, dies beinahe schon als Desaster empfinden. Eine schwierige Diskussion, die auf der zentralen Konferenz im Herbst zu führen sein wird.
: An der Musikschule nimmt Jazz und Pop immer mehr Raum ein. Gibt es Überlegungen, zum Beispiel mit „Jugend jazzt“ zu kooperieren?von Gutzeit: Ich glaube schon. Es gibt einige Höchstbegabungen für die die Anforderungen des Wettbewerbs („nur“ drei Sätze aus „nur“ drei Epochen – 15 bis 20 Minuten Spielzeit) beinahe zu wenig sind. Deshalb wurde auch bereits überlegt, ob man an ”Jugend musiziert“ einen Wettbewerb für diese überragenden jungen Musiker anschließt. Diese Überlegungen sind bisher negativ entschieden worden, auch mit der Begründung, dass ja für die Teilnahme am Deutschen Musikwettbewerb kein Mindestalter festgelegt ist.
: Und der Pop?von Gutzeit: Im Jazz-Bereich sehe ich keinen Grund, warum wir dem Wettbewerb „Jugend jazzt“ in irgendeiner Weise Konkurrenz machen sollten. Allerdings gibt es heute sehr viel zeitgenössische Musik, die starke Jazz-Elemente aufgreift. Das hat natürlich bei ”Jugend musiziert“ absolut seinen Platz.
: Jahr für Jahr warten Teilnehmer, Eltern und Lehrer gespannt auf die Entscheidungen der „Juroren“. Nicht immer findet sich da jeder im Urteil wieder. Ist die „Jurorenphilosophie“ ein Thema auf der Zentralkonferenz?von Gutzeit: Das wage ich nicht zu prognostizieren. Im Augenblick stehe ich, gemeinsam mit vielen anderen Kollegen, auf dem Standpunkt, dass diese Stilistiken sich mit vielen Prinzipien von ”Jugend musiziert“ schwer vertragen und dass es dann tatsächlich einen vollkommenen Charakterwandel geben würde.
: Wie messen Juroren?von Gutzeit: Auch ich habe dem Wettbewerbsdenken gegenüber manche grundsätzlichen Bedenken. Dass ich mich dennoch leidenschaftlich für ”Jugend musiziert“ einsetze, hat damit zu tun, dass ich per Saldo hier immer wieder auf Juroren stoße, die sich begeistern lassen von den jungen Menschen und die nicht in erster Linie Fehler suchen, sondern die Qualitäten. Hier hat sich schon unter den Juroren eine Kultur von Verantwortung und Zuneigung zu den jungen Menschen entwickelt. Ein wichtiger Aspekt, damit eine Jury zu einem guten Urteil kommt, ist auch, dass sie gut gemischt ist. Dass zum Beispiel neben den Hochschullehrern Musikschullehrer beteiligt sind. Es müssen erfahrene Juroren drinnen sein, die ”Jugend musiziert“ kennen, aber es müssen auch immer wieder neue hinzukommen. Das heißt also: Die Komposition einer Jury ist auch eine sehr wichtige Aufgabe, mit der sich die zuständigen Ebenen sehr intensiv beschäftigen müssen.
: Das gilt auf allen Ebenen des Wettbewerbs?von Gutzeit: Es gibt bei der Beurteilung von Kunst letztlich keine Objektivität. Es gibt eine Annäherung an Objektivität und die erreicht man dadurch, dass man einen Konsens aus den subjektiven Urteilen möglichst kompetenter Menschen bildet. Insofern kommt es darauf an, dass Jurys nicht zu klein sind. In der Vergangenheit war es oft so, dass die Jurys angefangen haben zu diskutieren, bevor noch gepunktet wurde. Dadurch passiert es dann schnell, dass ein Meinungsmacher andere Kollegen in eine bestimmte Richtung beeinflusst. Deshalb haben wir vor einiger Zeit ein ganz anderes Verfahren eingeführt und für die Jurys verbindlich gemacht: Jeder Juror gibt zunächst einmal eine Punktzahl ab, ohne dass irgendein Gespräch vorher stattgefunden hat. Natürlich kann dieses vorläufige Ergebnis noch diskutiert und verändert werden.
: Oft stehen auch die Beratungsgespräche im Kreuzfeuer der Kritik.von Gutzeit: Ja. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist, dass man möglichst Juroren hat, die die Teilnehmer nicht kennen. Viele Landeswettbewerbe ziehen daraus die Konsequenz und holen ihre Juroren möglichst aus anderen Bundesländern. Das ist auf der Regionalebene allein aus finanziellen Gründen oft sehr schwierig.
: Beratungsgespräche gibt es bei Regional-, Landes- und Bundeswettbewerben?von Gutzeit: Die Beratungsgespräche müssen teilnehmerzentriert sein: Der Teilnehmer will ja wissen, soll das mein Beruf werden? Er will wissen, ist das angekommen bei der Jury, was ich abschicken wollte? Es kommt vor im Beratungsgespräch, dass die Juroren glauben, dieser Teilnehmer müsste den Lehrer wechseln, weil ganz bestimmte selbstverständliche Dinge offenbar diesem Schüler nicht vermittelt worden sind. Aber sie wissen vielleicht nicht, dass der Lehrer genau diese Dinge auch jahrelang gesagt hat. Keine Jury hat das Recht, einen neuen Lehrer vorzuschlagen. Es sei denn, dass der Lehrer selbst in dieses Gespräch mit einbezogen ist. Aber dazu haben wir bei ”Jugend musiziert“ eigentlich keine Gelegenheit.
: Geben Sie den Juroren einen Kriterienkatalog vor?von Gutzeit: Auf der Bundesebene gibt man sich mit den Beratungsgesprächen außerordentlich viel Mühe. Das kostet auch sehr viel Geld. Auf der Landesebene ist das nicht immer möglich, weil die Teilnehmer zum Teil gar nicht übernachten und man das einfach gar nicht organisieren kann. Die Beratungsgespräche haben nicht in allen Fällen die Qualität, die wir uns wünschen, deshalb wird dieses Thema bei der Zentralkonferenz einen ganz großen Stellenwert haben.
von Gutzeit: Je mehr wir bestimmte Kriterien vorgeben, desto stärker werden die Teilnehmer versucht sein, sich ausschließlich auf diese Kriterien zu konzentrieren. Umso mehr droht dann der künstlerische Gesamtaspekt auf der Strecke zu bleiben. Wir treten schließlich als Künstler an, wir wollen eine Botschaft bringen, wir wollen uns ausdrücken. Und im Laufe des Studiums werden wir immer mehr zu Knechten bestimmter Normen. Ich kenne junge Musiker, die sagen, ich habe drei Versionen meiner Sonate. Die eine ist die, die mein Professor von mir verlangt, die nächste ist die, wie ich in der Prüfung spielen muss, damit ich eine Eins bekomme, und die dritte ist die, wie ich eigentlich selber spielen möchte. Ich möchte unbedingt, dass die jungen Leute den Mut haben, bei ”Jugend musiziert“ ihre ganz persönliche Version darzubieten.
Das Gespräch führte Andreas Kolb