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Das Wunder von Caracas und seine Folgen

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nmz-Gespräch mit Musikratspräsident Martin Maria Krüger über auswärtige Musikpolitik
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Es war die Jeunesses Musicales Deutschland, die „das Wunder von Caracas“ hierzulande bekannt gemacht hat. Heute ist das „Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela“ ein Begriff und ein gefragter Gast vom Beethovenfest Bonn bis zum Lucerne Festival. Das Orchester ist entstanden aus dem weltweit einzigartigen Musikerziehungssystem der staatlichen Stiftung FESNOJIV (Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela). Vater des „Sistema“ ist der Musiker, Ökonom und Kulturpolitiker José Abreu, er entwickelte und perfektionierte es in den vergangenen 20 Jahren. Ein bereits von der JMD und zahlreichen Orchestermusikern in den zurückliegenden Jahren immer wieder punktuell erfülltes Anliegen der FESNOJIV will nun der Deutsche Musikrat systematisch ausbauen und deutsche Musiker als Dozenten nach Venezuela entsenden. Zunächst sind es 16 Instrumentallehrerinnen und -lehrer, die im Jugendorchesterapparat des „Sistema“ Erfahrungen einbringen, aber auch sammeln sollen. Wie funktioniert dieser Austausch, und wie hat sich das überhaupt ergeben? Andreas Kolb traf Musikratspräsident Martin Maria Krüger und fragte nach.

neue musikzeitung: Wie kam dieses neueste Projekt des DMR zustande?
Martin Maria Krüger: Wir sind der Jeunesses Musicales dankbar für diesen Brückenschlag. 2006 sind in Caracas das Bundesjugendorchester und das nationale Jugendorchester Venezuelas zusammengetroffen und haben auch gemeinsam musiziert. Am Rande dieser Begegnung bin ich José Antonio Abreu begegnet. Bei diesen sehr intensiven mehrtägigen Begegnungen wurde auch das Anliegen einer Zusammenarbeit in der Weise besprochen, dass wir in Deutschland Lehrkräfte akquirieren, die befristet im „Sistema“ tätig werden. Damit verbunden ist auch die Idee, von diesem inzwischen weltweit bestaunten Projekt der Musikerziehung und Sozialarbeit zu lernen.

: Welche Partner haben Sie gefunden?
Krüger: Partner des Projekts sind die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, die Deutsche Orchestervereinigung, die sehr nachhaltig finanziell fördert, das Auswärtige Amt, das eine Instrumentenspende in erheblichem Umfang leisten wird, das Goethe-Institut, der Verband deutscher Musikschulen und FESNOJIV verbundene Freunde. Am 1. April werden für vier Monate 16 Lehrerinnen und Lehrer nach Venezuela gehen, die in einem anspruchsvollen Auswahlverfahren ermittelt und in der Akademie Schloss Eichholz der Konrad-Adenauer-Stiftung, einem weiteren Partner, intensiv vorbereitet wurden.

: Die Musiker arbeiten dezentral?
Krüger: Sie werden im Land verteilt an ganz bestimmte Musikausbildungszentren. Es geht darum, fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler, die häufig bereits gleichzeitig Ausbilder sind, fortzubilden. Dieses System rekrutiert ja seine Lehrkräfte aus sich selbst heraus. Die Fortgeschrittenen fangen an, die Nachrückenden selbst zu unterrichten. Wir wissen, dass 2.500 hauptberufliche Kräfte, davon die meisten Ausbilder, in diesem System von 260.000 Kindern tätig sind. Man muss sich diese Zahlen einmal vergegenwärtigen in einem Land von 14 Millionen Einwohnern.

: Diese Zusammenarbeit des Deutschen Musikrates mit einer venezolanischen Institution ist derzeit der einzige bilaterale Kontakt zwischen diesen Ländern?
Krüger: Auf der allgemein-politischen Ebene ist der Dialog mit der Regierung Chàvez sehr zurückgefahren. Auch wird Venezuela politisch nicht mehr als Entwicklungsland angesehen, da aufgrund der dortigen Ölvorkommen erhebliche Geldquellen vorhanden sind. Anders ist es nicht zu erklären, dass zum Beispiel das „Sistema“ im Jahr 2007 100 Millionen Dollar allein für die Beschaffung von Instrumenten für die musikalische Arbeit an Grundschulen zur Verfügung hatte. In Deutschland kann man davon im Augenblick trotz „Jedem Kind ein Instrument“ in Nord­rhein-Westfalen nur träumen.

: Kann man sich vorstellen, dass dieses „Sistema“ in irgendeiner Form auch in Deutschland praktiziert werden könnte? Im Moment sind nur School Tour und SchoolJam unterwegs in sozial „problematischen“ Gegenden. Die Klassische Musik hat da weniger Zugang.
Krüger: Wir befinden uns in der Pilotphase für ein Projekt, das auf Jahre hinaus angelegt sein wird. Die Idee José Antonio Abreus, der vor 30 Jahren der Schöpfer dieses Projektes gewesen ist, ist nicht nur allgemein Sozialarbeit durch Musik, sondern ganz gezielt Sozialarbeit durch Spielen im Orchester. Diese spezifische Pädagogik des Projektes basiert ja darauf, dass Kinder unter Umständen schon mit drei oder vier Jahren von Anfang an tagtäglich in Orchestern spielen. Ihm geht es, wie er selber immer wieder betont, ganz unmittelbar um Ausprägung der sozialen Fähigkeiten und hierdurch die Ausprägung der individuellen Würde, was in diesem Land von großer Bedeutung ist. Wenn wir ehrlich sind: Das kann auch bei uns eine große Rolle spielen und sollte es auch. Als Deutscher Musikrat müssen wir das Projekt dazu nutzen, einen Fokus auf die besonderen Werte des Musizierens im Orchester zu richten. Wir wollen verstärkt in die Richtung gehen, die ja auch mit „Jedem Kind ein Instrument“ in Nordrhein-Westfalen begangen wird.

: Das Konzept eines Austauschbüros, das Sie auch vorliegen hatten, wurde von Venezuela nicht anerkannt. Warum hat das nicht funktioniert?
Krüger: Die Jeunesses Musicales hatte die sehr gute Idee, man solle ein fest installiertes Büro haben. Denken wir nur an Nachhaltigkeit, an Wiederholung des Projektes und so weiter. Es entwickelte sich dann ein kleiner Dissens darüber, wie man dieses Projekt angehen sollte. Ich sehe das inzwischen so: Hätten wir darauf bestanden, feste Strukturen im Vorfeld zu bilden, dann wären wir heute noch nicht sehr weit gekommen. Dem Deutschen Musikrat war daran gelegen, dieses Ziel gemeinsam mit Partnern auf weitgehend ehrenamtlicher Basis so zügig wie möglich zu erreichen. Wenn man das Resultat jetzt sieht, war das richtig so. Aber wir haben nicht vergessen, welch wichtige Impulse die Jeunesses uns in diesem Zusammenhang gegeben hat. Wir sind auch weiterhin im ständigen Austausch.

: Venezuela ist nur ein Teil der auswärtigen Musikpolitik des Musikrats. Zusammen mit der Rektorenkonferenz haben Sie auch in China ein Hochschulprojekt angestoßen?
Krüger: Wir sind seit etwa vier Jahren mit China in laufend sich vertiefendem Kontakt. 2009 wird voraussichtlich in Dalian an der nordostchinesischen Küste in einer Zusammenarbeit zwischen der Folkwang-Hochschule Essen federführend für die Rektorenkonferenz und der Hochschule für Musik in Shenyang eine hinsichtlich der Inhalte und Abschlüsse deutsche Hochschule installiert werden. Das muss ein Dock für vielfältige Aktivitäten im musikalischen Nachwuchs- und Fortbildungsbereich zwischen Deutschland und China werden.

: Welche außenpolitischen Aktivitäten unternehmen Sie gerade?
Krüger: Im April werde ich einer Einladung zu einem Internationalen Kongress nach Rom folgen, der sich vorwiegend mit den philosophischen und ästhetischen Grundlagen von Musikunterricht befassen wird. Dort werde ich über die Wechselwirkung von Musik in Bildungssystem und Gesellschaft in Deutschland referieren. Im selben Monat werden wir versuchen, in China den Grundstein zu einem neuen Netzwerk mit chinesischen Universitäten zu legen.

: Stichwort Deutscher Musikrat in Europa. Gibt es weitere solche Initiativen?
Krüger: Gemeinsam mit dem Europäischen Musikrat werden wir unsere Deutsch-Polnische Musikbörse zu einer Europäischen Musikbörse ausbauen.

: In unserem Gespräch streiften wir verschiedene außenpolitische Projekte. Die erfordern ja Kontinuität. Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle in diesem Zusammenhang?
Krüger: Meine Rolle wird immer sein, zu versuchen, bestehende Kontakte intensiv weiter zu pflegen und auszubauen. Wenn Ihre Frage beinhaltet, ob ich mich nächstes Jahr erneut zur Wahl stellen werde: Dazu habe ich angesichts der Erfolge und Wirkungsmöglichkeiten des Deutschen Musikrates große Lust, werde von vielen ermutigt und gehe derzeit fest davon aus.

Junge Philharmonie Venezuela
Eine Chronologie

1999 Der Kulturpolitiker José Antonio Abreu lädt Detlef Hahlweg, Vorstandmitglied der Jeunesses Musicales Deutschland, nach Caracas ein, um eine Kooperation mit dem Fachverband deutscher Jugendorchester zu beginnen.

2000 Nach einer Reise nach Venezuela schreibt Daniela Stork, Hospitantin im Vorstand der JMD, ihre Magisterarbeit über die FESNOJIV unter dem Aspekt „Lernen von Venezuela“. Die JMD organisiert eine Deutschlandtournee für das Kinderorchester Venezuela, das in Berlin mit dem Würth Preis der JMD ausgezeichnet wird. Gustavo Dudamel hat seine ersten Dirigate mit dem Jugendorchester in Deutschland.

2001 Auf Betreiben der JMD wird die FESNOJIV nationales Mitglied der Jeunesses Musicales International. Auf Ini-tiative der JMD erhält Jose Antonio Abreu denalternativen Nobelpreis. Unter Claudio Abbado begründen die Philharmoniker eine Patenschaft. Erste Meisterkurse in Caracas. Das Studentenorchester Münster mit Detlef Hahlweg ist auf Tournee in Venezuela.

2002 Bei der zweiten von der JMD veranstalteten Deutschlandtournee gastiert die „Junge Philharmonie Venezuela“ auch in Wien und Salzburg. Die JMD setzt mit Hilfe deutscher Unternehmensrepräsentanzen in Venezuela ein erstes Dozentenprogramm in Gang.

2003 Politische Turbulenzen in Caracas erschweren die Aktivitäten.

2004 Simon Rattle äußert bei seinem Besuch in Caracas, er habe „die Zukunft der Klassischen Musik in Venezuela“ gesehen. Gustavo Dudamel beginnt mit seinem Erfolg beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb in Bamberg eine internationale Karriere.

2005 Ausverkaufte Säle und ein großes Presseecho kennzeichnen die dritte Deutschlandtournee des Orchesters, präsentiert von der JMD und der Bertelsmann Stiftung. Erster Auftritt des Venezuelan Brass Ensemble unter dem Berliner Philharmoniker Thomas Clamor beim Kongress „Kinder zum Olymp“ in Hamburg.

2006 Das Bundesjugendorchester absolviert eine Venezuela-Tournee, der Präsident des Deutschen Musikrats unterzeichnet in Caracas eine Kooperationserklärung. EMI (Köln) produziert die erste CD des Brass Ensembles, Deutsche Grammophon die erste CD des Orchesters.

2007 Gustavo Dudamel und das „Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela“ sind zum vierten Mal auf Einladung der JMD in Deutschland. Die Doppeltournee des Orchesters und des Brass Ensembles steht im Zeichen der Initiative „ZukunftsMusiker“ (dm Drogeriemarkt).

2008 Konzerte in Berlin, Frankfurt, Ludwigshafen und Baden-Baden im Spätsommer

2008 sollen die Erfolgsstory in Deutschland fortsetzen.

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