Im Grunde war er immer schon etwas weg von uns. Zumindest seit den 70er- Jahren, als er Kontakt ins All aufnahm und den Sirius mit seinen geheimnisvollen musikalischen Energieströmen als seine zweite Heimat entdeckte. Auf dem Pfade von dort zu unserer Erde tun sich wundersame Dinge. Die Sicht auf Welt und Menschen ist eine andere. Spirituelle Kraft legt sich über sie. Es ist eine Kraft, die immer schon das Wirken von Karlheinz Stockhausen prägte. Und er gab sie weiter an alle, die sich dafür, die sich für seine Musik interessierten. Der Rest des Planeten, so Stockhausen selbst, war ihm egal.
Und es waren viele, die sich von ihm anregen ließen. Das ging hin bis zur Popmusik. Die Beatles nahmen ihn als einzigen Musiker der Moderne in ihre Ahnengalerie der großen Menschen, der „einsamen Herzen“ auf, Stockhausen fand Eingang in Kreise von New Age wie in alle Bereiche, die Klang elektronisch modifizierten. Das lag vor allem daran, dass Stockhausen eine geradezu visionäre Sicht auf alle Möglichkeiten klanglicher Erweiterung besaß. Und mit Besessenheit stürzte er sich auf sie, lotete sie aus. Darin ging er wohl allen voran, nicht unbedingt mit differenzierter Sensibilität dem Klang gegenüber, nicht mit der Intensität einer politischen Botschaft, nicht im fundamentalen Eindringen in die philosophischen Grundlagen der Musik, die er seinen Weggefährten wie Boulez, Nono oder Cage überließ. Aber bei der Witterung der utopischen Potenzen alles Klingens stand er fast immer an erster Stelle. Alle neuen Erkenntnisse und Erfahrungen regten ihn an, und unter seinen Händen entstanden immer wieder Arbeiten, die als Schlüsselwerke der Moderne gelten. Der Begriff der Befruchtung, für Stockhausen zentraler schöpferischer Impuls, begleitete sein ganzes Komponieren: Der Künstler als Samenspender, als Übermittler des göttlichen Odems, der neues Leben gebiert. Seine Werke sind nicht nur mehr oder weniger in sich geschlossene Stücke, sie sind immer auch Ausrufezeichen und Fragezeichen zugleich: Das sind die neuen, perspektivöffnenden Mittel, wo sind ihre Möglichkeiten, wo sind Grenzen.
Das begann schon in den aufbruchs-intensiven 50er-Jahren. Die seriellen Techniken wurden diskutiert, der Ton wurde aufgespalten in seine Parameter, und Stockhausens Kompositionen, etwa die Klavierstücke oder der Zyklus für einen Schlagzeuger, prüften sogleich jedes neue Theorem – unter anderem auch die von Schönberg am Ende seine Harmonielehre geäußerte Utopie der Klangfarbenmelodie. Die Elektronik kam auf und Stockhausen prüfte in seinen Studien sogleich die Grundmaterialien wie das weiße Rauschen und den Sinuston. Und in seinem ersten vollgültigen elektronischen Werk, im „Gesang der Jünglinge“, stellte er zugleich sofort die Frage nach inhaltästhetischen, nach spirituellen Möglichkeiten der neuen Techniken. Denn der „Gesang der Jünglinge“, das wurde in der Aufbruchseuphorie häufig völlig übersehen, hat fraglos Züge eines geistlichen Werks. Man debattierte das offene Werk, das „Klavierstück XI“ (auch der Zyklus) lieferte ein Grundmodell, um das sich Boulez in seiner „3. Klaviersonate“ ringend und kaum Schluss findend bemühte. Schon früh erkannte Stockhausen die Kälte des rein elektronischen Klangs, selbst wenn er Naturklänge in sein Material integrierte. Seine „Kontakte“ für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug wiesen auf, wie lebendiges Musizieren mit Elektronik zu verbinden sei. Zugleich findet sich in ihm eine kurze Passage, die fast als Wiedererkennungs-Trailer für die seriellen und elektronischen Debatten über neue musikalische Zeitauffassungen zu verstehen wäre: Ein Ton wird kurvenartig in die Tiefe geführt, schließlich bilden sich aus den Schwingungsfrequenzen einzeln wahrnehmbare Schläge, die Tonhöhe also kippt qualitativ um zur Impulsfolge. Der in neuer Wesenhaftigkeit entdeckte Parameter des Klangraums wurde in keinem Werk dieser Zeit so gründlich und akribisch dargestellt wie in Stockhausens Orchesterwerk „Gruppen“ für drei Orchester aus den Jahren 1955/57. Alles also, was in dieser aufbruchsintensiven Zeit von den jungen und durchbruchshungrigen Komponisten über die Natur des Klingens, über serielle Struktur oder über musikalische Werkästhetik theoretisch zur Debatte gestellt wurde, fand sogleich Widerhall in einer exemplarischen Komposition Stockhausens. Seine Arbeiten hatten immer auch den Charakter einer Versuchsanordnung und konsequent forderte er denn auch neue Aufführungsräume für die zeitgenössische Musik, da die herkömmlichen Konzertsäle den akustischen Anforderungen immer weniger genügen konnten.
Das setzte sich dann auch in den 60ern fort, als die Heftigkeit der Auseinandersetzungen abnahm und jeder Komponist, so auch Stockhausen, einen individuellen Weg suchte. Wieder war es seine Hellhörigkeit, die Entwicklungen vorausahnte, auch Entwicklungen, die nur wenig mit dem seriellen Fortschrittsgeist zu tun hatten. Man mag seine Komposition „Hymnen“ von 1967 als Vorwegnahme einer später als Weltmusik bezeichneten Richtung sehen, das Vokalwerk „Stimmung“ von 1969 als Ahnung künftiger Spektralmusik und anderer mikrotonaler Obertontechniken. Das Stück „Mantra“ für zwei Klaviere und Elektronik verlangte direkte Klangumwandlung und wurde zum Auslöser der Gründung des Experimentalstudios in Freiburg. Und Arbeiten wie „Aus den sieben Tagen“ (1968) und andere exponierte Modelle freier, spiritueller Improvisation. Die Komposition „Inori, Anbetungen“ von 1974 bildete einen Abschlusspunkt dieser meditativen Annäherung an den Klang. Mit dieser Wendung kappte Stockhausen die Kontakte zu seinen vormaligen seriellen Weggenossen, es war ein Bruch, der ihn mehr und mehr isolierte und der auch den kritischen Stimmen gegenüber seinem Werk fortlaufend Nahrung gab. Stockhausen war, so wurde immer wieder geäußert, dem Lager der materialen Fortschrittsästhetik verloren gegangen. Man nahm scheinbar reaktionäre Tendenzen in der Mystik seiner Entwürfe (die unter anderem eine Verschmelzung der Weltreligionen intendierte) wahr und Stockhausens Äußerungen, seine inhaltlichen Vorwürfe, aber auch sein Habitus des mit höheren Mächten verbundenen Individualgenies trieben seine Person ins Abseits. Freilich nahm man sein Wirken auch forthin mit einer Mischung aus Be- und Verwunderung zur Kenntnis. Nicht gesehen wurde, dass die Selbst-Mystifikation für Stockhausen gerade der Hebel war, Musik auf stets neue, herausfordernde Art zu denken.
In dieser Situation reifte denn der Entschluss zu einem Großwerk, das dann seine schöpferischen Kräfte mehr als ein Vierteljahrhundert in Beschlag nehmen sollte und sie letztlich auch vollends verzehrte. Es war der Opernzyklus „Licht“. „Licht“ sollte der Ring des 20. Jahrhunderts werden: Ein kosmisches Spiel, Vereinigung der Glaubensgrundsätze der Weltreligionen, ein Spiel über den Kreislauf des Daseins, das sich in der Runde der sieben Tage, der Woche spiegelt, ein Widerstreit von Prinzipien, der sich in den drei Protagonisten des ganzen Zyklus’, nämlich Eva, Michael und Luzifer niederschlägt. Es ist ein universales Kräfteparallelogramm dreier existenzieller Seins- oder Energieformen, die sich keineswegs in positive oder negative Aspekte trennen lassen (Luzifer etwa steht für reine Vergeistigung, Michael hingegen verkörpert das Prinzip des materiellen Schaffens, den Gehorsam gegenüber dem Prozess, er ist es, der letztlich Eva für sich gewinnt). Aus den sämtlichen Möglichkeiten der Gruppierung (drei Mal eine Person, drei Konfrontationen zweier Personen, ein Mal drei Personen) ergibt sich die Zahl sieben, damit die Tage der Woche (Eva = Montag, Michael = Donnerstag, Luzifer = Samstag, Eva + Luzifer = Freitag, Luzifer + Michael = Dienstag, Eva + Michael = Sonntag, Eva + Michael + Luzifer = Mittwoch).
Das verlangte zunächst eine groß angelegte Disposition des musikalischen Materials. Dazu entwickelte Stockhausen die Komposition mit so genannten Formeln, die hier in einer Superformel zusammengefasst sind. In der Formel ist das Reihendenken von Schönberg sowie das serielle Denken (das auch Rhythmen, Dynamik und weitere Parameter in Zahlenreihen darzustellen versucht) zusammengedacht. Auch die Idee des Wagner’schen Leitmotivs und andere musikgeschichtliche Ansätze zur Strukturierung des musikalischen Materials (etwa das Akkorddenken von Skrjabin, aber auch schon die rhythmisch-melodischen Denkformen in der isorhythmischen Motette des 14. Jahrhunderts) sind im Ansatz der Formel aufgehoben. Die Superformel ist zu verstehen als Integral aller motivischen, melodischen, rhythmischen oder auch klangfarblichen Elemente des ganzen Opernzyklus, der insgesamt eine Länge von etwa 25 bis 30 Stunden hat. Die kleine Zelle generiert in Wachstumsprozessen, Abspaltungen, Überlagerungen, Wucherungen, Ausweitungen und Vertiefungen einzelner Parzellen den ganzen musikalischen Verlauf.
Dieser Entwurf ist fraglos der gewaltigste des ganzen 20. Jahrhunderts, ja einer der gewaltigsten der ganzen Musikgeschichte. Ihn zu verwirklichen verlangte eine Energie, eine spirituelle Kraft, die wohl nur Stockhausen aufzubringen in der Lage war. Über diesen Entwurf, über Stockhausens Frauenbild, über seinen Kriegsbegriff (Dienstag), über sein Verständnis von Humor, über Bastarde und Wesen der Vollkommenheit – über all dies lässt sich im Grunde nicht diskutieren. Denn Stockhausen setzt, bietet keine Debatte an. Er verlangt rigoros einen einverstandenen Hörer. Vielleicht aber war es gerade dieser vom schöpferischen Ego so ausschließlich dominierte Vorwurf, der es erlaubte, musikalisch unerhörte Räume zu betreten. Stockhausen ist hier im besten Sinne rücksichtslos radikal.
Stockhausen hat es nicht erleben dürfen, dass der gigantische Zyklus einmal in toto zur Aufführung gelangt (selbst einzelne Opern, besonders der Sonntag, vermochten nur in Teilaufführungen realisiert werden). Die Anforderungen sprengten fraglos die materialen (oder materiellen) Voraussetzungen des hiesigen Opernbetriebs. Die Zukunft wird erweisen, ob die klanglichen Aufrisse eine ähnliche vorwegnehmende, visionäre Kraft besitzen, wie das in seinen früheren Arbeiten der Fall ist. Zu ahnen ist dies jedenfalls an solch exorbitanten Herausforderungen, wie sie etwa das Hubschrauberquartett im Mittwoch oder auch die „Hoch-Zeiten“ im Sonntag darstellen. Hier in diesem Chor-Orchesterstück verwirklichte Stockhausen auf bestechende Art das Mysterium der Vereinigung und gegenseitigen Befruchtung zweier im Grunde konträrer Prinzipien (zwei Orchester spielen in zwei Sälen Stücke, die im Grunde zusammen gehören, allerdings nie vollends zusammen kommen; nur wie durch eine Membran werden kurze Ausschnitte in den jeweils anderen Saal übertragen und eine „Samenzelle“, ein Trompeter, wechselt für kurze Zeit den Raum, dringt in ihn ein).
Ein ganzes Konvolut solcher Anregungen ist in „Licht“ hinterlassen. Stockhausen hat seine Aufgabe erledigt, mögen die zurückgebliebenen Menschen damit machen, was sie wollen. Er ist am 5. Dezember 2007 zurückgekehrt in das Reich, das ihm immer schon die transzendentale Inspiration lieferte. Sei es der Sirius, sei es anderswo.