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„Barcode“ von Cornel Franz mit dem Musiksampling von Alexandra Holtsch. Foto: Regine Körner
„Barcode“ von Cornel Franz mit dem Musiksampling von Alexandra Holtsch. Foto: Regine Körner
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Die Feigheit vor dem Freund und das Andere

Untertitel
Zur zehnten Münchener Biennale, Festival für neues Musiktheater ·
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Die Musiktheaterbiennale in München bietet Platz für den experimentellen Ansatz, für Formen, wie Oper jenseits von hergebrachten Mustern zu denken ist. So war sie 1988 angetreten. Man wollte jungen Talenten die Chance geben, neue Modelle zu probieren und die eigenen Kräfte zu messen. Und wirklich erwies es sich, so kann man im Rückblick auf nunmehr zehn Biennalen sagen, dass in der Regel die dramatischen Vorschläge am triftigsten wirkten, die sich am radikalsten dem Apparat der Oper entgegenstemmten. Der Begriff Apparat freilich wäre hier weit zu fassen, er betrifft nicht nur die materiellen Bedingungen zur Realisation einer Oper, er betrifft auch die ideellen Momente, also das, wie eine Oper als stimmiges Gebilde beschaffen sein müsste.

Hier hatte der Biennale-Gründer Hans Werner Henze vielleicht schon die Weichen etwas unglücklich gestellt, indem er den Dreierschritt Libretto-Musik-Regie zu unbedingt setzte und vor allem das Libretto, also die dramatisch strukturierte Story, als unabdingbar voraussetzte. Sprich: Der spannende, mög-lichst heutige Probleme aufwerfende Handlungszusammenhang setzt die Phantasie des Komponisten und letzt-lich auch des Regisseurs in Gang. Mehr und mehr erweist sich heute, dass diese die Oper im 18. und 19. Jahrhundert (und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) bestimmende Abfolge mehr und mehr brüchig geworden ist. Das Nacherzählen von Handlung ist mit den musiksprachlichen Mitteln der Gegenwart kaum mehr vereinbar, was vor allem mit Zeitgesetzen der gegenwärtigen Musik zusammenhängt. Aber dies ist ja kei-neswegs die einzige Möglichkeit, auf der Text, Bild, Aktion und Musik zusammenkommen können. Und so nimmt es nicht Wunder, dass ein Gutteil der spannenden und innovativen Musiktheaterprojekte der letzten 30 Jahre auf das tradierte Opernkorsett verzichteten und statt dessen neue Begegnungen, neue Sinnzusammenhänge schufen. Erinnert sei nur an Kagel, Nono, Cage, Lachenmann, Feldman, Zender, Hölszky, Hespos, Reich, Rolf Riehm, oder an spätere Entwürfe Wolfgang Rihms und an viele andere, oder mit Blick auf die letzte Biennale 2004 auf André, Ferneyhough oder auch Baltakas. Die Frische solch neuer dramatischer Herausforderungen, die meist nicht logischen Erzählstrukturen gehorchen, hält das Musiktheater am Leben, dem man im Hinblick auf die tradierten Bezugssysteme (und hiermit wohl zu Recht) längst das Ende prophezeite. Gleichwohl scheint es so, als würden sich manch vor allem jüngere Komponisten immer noch an den tradierten Opernbetrieb anzupassen versuchen: Musiktheater als Anpassung an Erwartungshaltungen, die Feigheit vor dem Freund. Allzu häufig muss man hier Scheitern konstatieren. Diese Zeichen setzte bei der diesjährigen Biennale mit dem etwas kursorischen Titel „Labyrinth/Widerstand/Wir“ schon recht drastisch die Eröffnungsoper „WIR“ von Christoph Staude nach Jewgenij Samjatin. Man hatte hier den Eindruck, als würde Oper nach Rezeptur verfertigt. Und es funktionierte über-haupt nicht. Staude ist in seinen letzten Arbeiten immer wieder als genau in bizarre Landschaften horchender Musiker aufgefallen, so zum Beispiel mit seinem Klavierkonzert „Areal“ im Begleitprogramm der Biennale 2002. Hier ließ er eine genuin eigene, unverwechselbare und sinnlich aufregende Klanglichkeit vernehmen. Jetzt aber ließ er, vielleicht eingeschüchtert von musikdramatischen Anforderungen, die ihn zudem immer mehr unter Zeitdruck setzten, eine Zurücknahme seiner musiksprachlichen Mittel durch Abrufen von Espressivogesten vernehmen. Der Kardinalfehler, dem auch der Librettist Hans-Georg Wegner verfiel, war das Nichtbegreifen der unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten eines Romans und eines musikdramatischen Ansatzes. Dass sich dem dann auch die biedere, mit Klischees nicht sparende Regie Helen Malkowskys nahtlos anschloss, indem sie Standards psychologisierender Personenführung abrief, verwunderte kaum. Der die geistige Massenuniformierung des Menschen utopisch vorwegnehmende Text von Samjatin aus dem Jahr 1920 hätte durchaus Sprengkraft geboten: aber nicht, wenn er auf eine stupide Liebesgeschichte in traditionell anmutender Theatralisierung zurückgefahren wird. Das aber geschah und jegliche potentielle Energie des Stoffes verpuffte. Die Oper blieb gnadenlos und mit peinlich rührseligen Momenten hinter der möglichen Brisanz zurück. Leeres Pathos, bemühte Bühnenwirksamkeiten, die in ihrer Kenntlichkeit kollabierten, beließen das Publikum in letztlich anteilnahmsloser Agonie. Musiktheater kann nicht als klanglich-visuelle Bebilderung eines auch noch so interessanten gedanklichen Vorwurfs gedeihen.

Auch die zweite Biennale-Oper, Cattaneos Minotaurus-Adaption „La philosophie dans le labyrinthe“ nach Texten von Edoardo Sanguineti hatte davon. Aber hier stimmten zumindest die Zutaten. Cattaneo hatte den grossen, zwei Generationen älteren italienischen Lyriker und Erzähler Edoardo Sanguineti im Jahr 2000 bei einer Dichterlesung in Madrid kennen gelernt. Die Musik des damals 26-Jährigen sprach den Dichter unmittelbar an, man entdeckte labyrinthische beziehungsweise minotaurische Berührungspunkte. Der Plan zu einer Oper entstand und diese Chance konnte sich der junge Komponist nicht entgehen lassen. Zunächst entstand 2002, gleichsam als Probeballon, eine Gesangsszene mit dem Titel „Minotaurus, dreaming“, daraufhin wurde die Oper konzipiert. Es wurde eine, die die Handlung hintan stellt und statt dessen eine Folge von assoziativen, stets auch philosophisch grundierten szenischen Bildern entwirft. Musiktheater wirkte hier als Komplex unabhängig wirkender Kräfte, die alle für sich probate Mittel einsetzten. Die Kälte des Polierten stellte sich ein, wurde aber aufgefangen durch plastische Bilder, durch tiefsinnige Texte und durch eine Musik, die eine fein gehörte Folie für den Gang der Ereignisse oder besser der Bilder abgaben: die Oper als Folge assoziativer Bilder, schön und mit reichen Brückenschlägen, gefunden vom Regisseur Michael Scheidl. Für die musikalische Gestaltung war insbesondere die Doppelnatur des Minotaurus interessant. Cattaneo konzipierte zwei Ensembles, ein gewissermaßen normales und ein dazu von gesellschaftlichen Zugriffen verbogenes aus Akkordeon, Barockflöte oder Salonpiano. Dessen Klänge sind fremd in ihrem Timbre, sie spiegeln die „reine“ Musik und werfen eine Art Zerrbild aus. Von dieser Basisidee ausgehend ließ sich profund komponieren und immer wieder spielte Cattaneo mit der Flüchtigkeit der klanglichen Erscheinungen, mit ihren Querverweisen auf Spiegelnaturen. Hier ist sein kompositorisches Terrain, hier kann er die Fähigkeiten zu plastischer Klanggestaltung ausspielen. So entstand eine subtile, luftig durchhörbare, immer wie-der auf geschmeidig geführte Linien fokussierte Musik von subtilem Glanz (das Klangforum Wien unter Emilio Pomárico demonstrierte auf höchstem Niveau, wie genau es mit Feinheiten dieser Art umzugehen weiß). Die Singstimmen verleugneten in Arien nicht, dass die Idee des Belcanto immer noch lebendig ist, sie loteten extreme Lagen aus, hin zur gutturalen Tiefe eines tibetanischen Mönchsgesangs (besonders herausragend die Farbintensivität der sonoren Stimme von Michael Leibundgut als Minotaurus) und zur schrillen Höhe, nie aber wurde das ästhetische Gerüst von klangsensibler Durchgestaltung verlassen. Dennoch blieb der Eindruck eines unverbindlichen Miteinanders der Schichten Musik, Text und Bild. Ein in sich stimmiger, musikdramatischer Entwurf verlangt eine stärkere Verzahnung oder eine plastischere Konfrontation.

Dann „Gramma“ von José M. Sanchez-Verdú: Hier fand sich nun endlich das wohltuend Andere im Hinblick auf theatrale Konzeption. Musiktheater, das ist der bewusst abgelegene Ort, wo alle Sinne geschärft sind. Sanchez-Verdú ging es um das Geheimnis der Schrift, um die Änderung des Bewusstseins durch das Mittel der Aufzeichnung, um Verschiebeprozesse des Erinnerns und Vergessens. Dazu hatte er eine Folge von sechs philosophisch grundierten Szenen kompiliert (Ulysses, Augustinus, Venus und Adonis et cetera), die jeweils eine Form des erinnerten Vergessens thematisieren. Es ging ihm freilich nicht um die diskursive Debatte, sondern – und dafür steht Theater – um das sinnliche Wahrnehmen dieser Prozesse. Dafür erfand er eine konturenreiche, immer wieder in Grenzbereiche gehende Musiksprache von tiefer Eindringlichkeit. Klang lebt immer in der Spanne zwischen Fortdauern und Verschwinden, somit ist er unmittelbarer Genosse der leitenden Idee. Das Bewahren des Verschwindenden im Buche schlug denn auch die Brücke zur Inszenierung (Sabrina Hölzer). Denn sie wurde als Buch verwirklicht, das dann auch jeder Besucher mit nach Hause nehmen konnte. Das Publikum wurde umfunktioniert zur Versammlungsgesellschaft in einem Skriptorium, das theatrale Gegenüber von Klang und Bild verwandelte sich in eines von Klang und Buch, in dem jeder blätterte. Die hier versammelten Zeichnungen von Mirella Weingarten hatten dabei ein wenig den Chic des Kunstgewerblichen, das Buch war aber auch bestückt mit Partiturausschnitten (Skizzen) oder mit Sätzen über das Wesen von Schrift oder über das Vergessen. Und plötzlich entstanden, animiert von den suggestiven, oft in Andeutungen und Schattenwirkungen verharrenden Klängen von Sanchez-Verdú, Weite und tiefes Eindringen in unsere Prozesse geistigen Bewahrens. Das Theater war aufgebrochen, nicht eine Bühne lenkte den Blick, sondern das vor einem liegende Buch. Es war ein Fokus, der bewies, in welchen Dimensionen Bild, Aktion und Musik zu denken sind. Solche Wege zu erspüren aber ist die wohl interessanteste, in die Zukunft weisende Aufgabe der Biennale.

Ein netter, freilich auch etwas harmloser Side-Step gelang der Biennale in der Scratch-Oper „Barcode“. Die Idee des mit Strichcode und Chip gleichgeschalteten Menschen stand dahinter und wurde durch musikalische Aktionen auf Turntables (erstaunlich souverän die für den musikalischen Verlauf verantwortliche Alexandra Holtsch und ihr Partner DJ Illvibe). Hier stimmte vor allem eines: das Timing. Und das ist eine Grundvoraussetzung für in sich rundes Theater. Die szenischen Ideen (Nilufar K. Münzing) waren in Tanz, Schauspiel und Gesang ein wenig schulaufführungsartig von der lockeren Folge des Musicals inspiriert, Loop-Strukturen mit Zitaten repetitiver Musik korrespondierten mit den Räderwerkhandlungen der Gleichgeschalteten, aus denen nur die „Person B“, dem der Identitätschip abhanden gekommen war, und dessen „Betreuerin R“ (Thomas E. Bauer und Salome Kammer) ausbrachen. Es mag dahin gestellt sein, ob das mit Strichcodes gescannte Individuum durch Verfahren ästhetisch zu spiegeln ist, die mit ähnlichen Mitteln arbeiten. Es hat etwas von Teufel und Beelzebub. Und leider ließ es sich der Autor und Mentor Cornel Franz nicht nehmen, am Schluss des Stückes ins Erklärende und Belehrende abzugleiten, wozu die Protagonisten Brotzeit machten. Das gab dem Stück trotz Sahnegebäck eine falsche, dem Theater nicht gemäße Schwere bis hin zur Ermahnung, sich der Erfassung zu entziehen, also „unlesbar“ zu werden. Ein einstündiges Hörbild steuerte mit „City Scan: München“ der Münchner Komponist Klaus Schedl bei. Dabei traf sein Ergebnis wohl so gar nicht die vorab aufgestellten Erwartungen. Sound-Scapes, also Hörcollagen von Orten gibt es mittlerweile seit gut 30 Jahren. Schedl aber dachte die Prinzipien weiter. Die in München aufgenommenen Klänge (plus O-Töne vom BR) wurden durch elektronische Maßnahmen weitgehend unkenntlich gemacht, Orts- oder Klangangaben kamen auf Video und beim Wort Blasmusik etwa war allein das Geräusch von Anblasvorgängen übrig geblieben. Livemusik reagierte auf diese, München als Weltstadt mit Herz konterkarierenden Soundgebilde und trieben bis zum grellen Schrei. Es entstand ein dunkel untergründiges Klangbild, das, hatte man sich auf die Prinzipien eingelassen, durchaus starke Sogwirkung entwickelte. Kein Klangbilderbogen entstand, vielmehr ein den Strukturen abgelauschtes emotionales Reaktionsfeld.

Hierzu korrespondierte ein weiterer Versuch im Beiprogramm mit dem Titel „Der Blick des Komponisten“. Die vietnamesische, in Hanoi geborene Komponistin Tran Thi Kim Ngoc war (vom Siemens Arts Programm) beauftragt worden, die Münchner Glyptothek mit ihren meist griechischen und römischen Standbildern klanglich zu gestalten. Entworfen wurden Perspektiven der Abwesenheit, die (letztlich vergebliche) Bewahrung erschien auf der Folie des Vergänglichen, der Flüchtigkeit des Lebens. Meditativer Gesang, Schlagzeug, Tanz oder rituelle Aktion schillerten hinüber zu den steinernen Zeugen abendländischer Geschichte und schlossen Koalitionen nachdenklicher Betrachtung.

Und hier war man schon wieder ganz nah bei Sanchez-Verdú und seinem Widerspruch zwischen Bewahren und Vergessen in der Schrift. Kleine Kreise schlossen sich, wohl aber sind sie es, die von der diesjährigen Biennale in die Zukunft mitgenommen werden.

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