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Im Zeitalter des zunehmend aggressiven privatwirtschaftlichen Sponsoring wirkt eine Figur wie die des Dirigenten und Mäzens Paul Sacher anachronistisch. Der Basler Musiker, Kunstförderer und Chemie-Industrielle, der am 26. Mai 1999 knapp 93jährig gestorben ist, war eine kapitale Musikerpersönlichkeit unseres Jahrhunderts, die sogar Eingang in Thomas Manns Musikerroman „Doktor Faustus“ gefunden hat. Als Hauptaktionär der Chemiefirma Hoffmann-La Roche verfügte er über ein enormes Vermögen und gab viele Millionen für die Musikförderung aus, ohne daß er irgendeinen Rückfluß erwartet hätte. Begriffe wie Imagetransfer oder Umwegrentabilität waren ihm ein Greuel. Vielmehr dirigierte und finanzierte er bedeutende Werke der Neuen Musik aus musikalischem Interesse und aus der Überzeugung, es der Gesellschaft schuldig zu sein, ihr das „Lehen“ seines Reichtums in sinnvoller Weise zurückzuzahlen. Zugleich war er ein potenter Musiker, der die meisten bestellten Werke auch selbst aufführte. Seine Person liegt an einer zentralen Schnittstelle der neueren Musikgeschichte mit der Aufführungsgeschichte der zeitgenössischen Musik.
Seine Mutter war eine Bauerntochter aus Baselland, sein Vater ambitionsloser Angestellter einer Basler Speditionsfirma. Zu Reichtum gelangte Sacher durch die Heirat mit der Architektentocher Maja Hoffmann-Stehlin. Sie war die Witwe des 1932 durch einen Autounfall zu Tode gekommenen Emanuel Hoffmann, eines Sohnes des Firmengründers der „Hoffmann-La Roche“. Experten schätz-ten das Vermögen von Paul Sacher und seiner Familie – sie besitzt die Aktienmehrheit des Chemieunternehmens Hoffmann-La Roche – zuletzt auf rund 25 Milliarden Schweizer Franken. Sacher selbst, der am 28. April 1906 in Basel in kleine soziale Verhältnisse geboren worden war, bewahrte zeitlebens eine Schlichtheit des Ausdrucks, der bisweilen etwas Knorriges anhaftete. Ein feinsinniger Intellektueller war er trotz seiner Weltläufigkeit nicht. Kein Zufall auch, daß er niemals länger außerhalb seiner Herkunftsregion Basel lebte. Angebote, etwa Hochschuldirektor in Zürich oder Berlin oder Rundfunkorchester-Dirigent in Beromünster zu werden, lehnte er stets ab.
Stifter und Patriarch
Geradezu verbissen hielt Sacher dagegen an seinen eigenen Gründungen fest. Aus ihnen konstruierte er seine klar strukturierte musikalische Welt, bestehend aus ihm selbst als durchaus patriarchalischer Leitfigur, den Komponisten als Garanten des Schöpferischen sowie seinen Klangkörpern, dem Basler Kammerorchester, dem Collegium Musicum Zürich sowie dem Basler Kammerchor. Mit den „Stars“ des Musikbetriebs, etwa Mstislaw Rostropowitsch oder Anne-Sophie Mutter, pflegte er unverkrampften Umgang. Ihm gelang, wonach viele vergebens strebten: sie zum Spielen auch sperriger Musica Nova zu bringen. Die Heirat mit der zehn Jahre älteren Maja Hoffmann-Stehlin legte eine der Grundlagen für Sachers umfassendes Mäzenatentum; die andere war seine eigene Musikertätigkeit. Sacher legte zu Recht Wert darauf , nicht als bloßer Financier von über 200 Partituren, als Besitzer ungezählter Kunstwerke und Musikhandschriften zu gelten. Er verstand sich als nachschöpfender Künstler, was er als gelernter Geiger und Dirigent (aus der Schule Felix Weingartners) auch war. Dies unterscheidet ihn von anderen bedeutenden Mäzeninnen und Mäzenen wie dem Sammler Peter Ludwig oder der Musikmäzenin Elizabeth Sprague-Coolidge, die einer vergleichbaren Quantität (und Qualität!) von Werken zu ihrem Entstehen verhalfen, dies aber ausschließlich als Geldgeber taten.
Sinn für Treue
Sachers Laufbahn als Musikförderer begann ganz ohne Geld. Der junge Sacher spielte als Konzertmeister in einem Schülerorchester und gründete mit zwanzig das Basler Kammerorchester. Zu dessen Mitgliedern gehörte der später als Gambist und Dirigent Alter Musik bekannte August Wenzinger. Man spielte Barockliteratur und Werke der Wiener Klassik, suchte aber auch nach zeitgenössischer Literatur. Schon im ersten BKO-Konzert 1927 gab es eine Uraufführung: Rudolf Mosers Suite für Violoncello und Kammerorchester. Ein Jahr später bat Sacher den 27jährigen Conrad Beck um ein Werk für das BKO. Im selben Jahr lud Sacher Paul Hindemith zu einem ausschließlich ihm gewidmeten Konzert ein.
1929 und 1930 lernte er Béla Bartók und Igor Strawinsky kennen. Beide spielten unter ihm mit dem Basler Kammerorchester und schrieben Werke für Paul Sacher: Bartók die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, das „Divertimento“ und die „Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug“, Strawinsky das „Concerto in D“. Auch die „Metamorphosen“ von Richard Strauss waren ein – angesichts von Sachers Präferenz für den Neoklassizismus eher untypisches – Auftragswerk. Stark gefördert wurden von ihm weiter Bohuslav Martinu, Arthur Honegger, Ernst Krenek, Benjamin Britten, Witold Lutoslawski, Cristóbal Halffter, Luciano Berio, Wolfgang Fortner und der junge Hans Werner Henze, dessen „Sonata per archi“ und das zweite Violinkonzert von Sacher uraufgeführt wurden. Wolfgang Rihm zählte zu den Jüngsten, die von Sacher Kompositionsaufträge erhielten. Unter den Schweizer Komponisten waren Arthur Honegger, Conrad Beck, Willy Burkhard, Albert Moeschinger, Robert Suter und Rudolf Kelterborn mit Sacher verbunden. Aufträge erhielten aber auch erklärte „Linke“ wie Wladimir Vogel, Klaus Huber und Jacques Wildberger. Der unlängst gestorbene Norbert Moret wurde als Komponist recht eigentlich von Sacher entdeckt. Die unbedingte Treue, die Sacher ihm hielt, gehörte mit zur Konstruktion seines geistigen „Hauses“.
Musikalische Jugendbewegung
Die geistigen Anfänge des jungen Paul Sacher sind in der musikalischen Jugendbewegung zu suchen. Heute würde man sein Orchester als „alternativ“ bezeichnen, stellte es sich doch in scharf linke Opposition zum offiziellen Betrieb und schwor aller „falschen Romantik“ ab. In einem frühen Aufsatz beklagte Sacher die „Überschätzung der technischen Fertigkeiten“ im Musikbetrieb und schrieb im Tonfall der deutschen Jugendbewegung, August Halms, Hindemiths und Brechts: „Die Kulturlosigkeit unserer Kunstübung manifestiert sich am stärksten im Konzertwesen. Musik sollte nicht, wie heute, nur die Angelegenheit einer Zunft von Ausübenden, sondern des ganzen Volkes sein.“ Seine Präferenz für den lateinischen Kulturkreis bewahrte Sacher davor, mit der deutschen Jugendbewegung in den Bannkreis des Rechtsradikalismus zu geraten. Zum „alternativen“ Charakter seiner beiden Orchester gehörte auch das weitgehende Aussparen der Musik des neunzehnten Jahrhunderts. Auch seine dritte Ensemblegründung ist nie in den Verdacht gekommen, der Musik des bürgerlichen Konzertsaals zu huldigen: das Basler Schlagzeugensemble, das bis unmittelbar vor seinem Tod konzertierte.
Historische Aufführungspraxis
Sacher hatte acht Semester Musikwissenschaft studiert; ihm entging nicht, daß das Wissen um die Spielpraxis und die theoretischen Grundlagen der Alten Musik recht rudimentär waren. Aus dieser Erkenntnis resultierte unmittelbar seine vielleicht bedeutendste Gründung, die der Schola Cantorum Basiliensis, im November 1933. Sachers Idee eines Lehr- und Forschungsinstituts war revolutionär im Wortsinn. Sie deckte sich mit den Impulsen, die er aus der Jugendbewegung bezog. Die Orientierung an der Musik der Vergangenheit galt der Jugendbewegung als Ausweg aus der Krise des bürgerlichen Musikbetriebs – eine Optik, der sich Sacher mühelos anschließen konnte. „Exotische“ Instrumente wie Cembalo und Viola da gamba fanden Eingang in die Konzerte des BKO; nun wurden sie auch Gegenstand wissenschaftlicher Studien in der neugegründeten „Schola“.
Die Heirat mit Maja Hoffmann-Stehlin, Architektentochter, Bildhauerin und Kunstsammlerin, die 1989 hochbetagt gestorben ist, legte 1934 die Grundlage für eine umfassende mäzenatische Tätigkeit des Ehepaars, die zahlreiche Kompositionsaufträge, Bilderankäufe und sogar Museumsgründungen umfaßte (Museum für Gegenwartskunst, Emanuel-Hoffmann-Stiftung, Tinguely-Museum Basel). Maja Sacher plante auch das Landhaus des Ehepaars Sacher auf dem Schönenberg in Pratteln bei Basel. Das Ehepaar Sacher bildete seinen Kreis von Künstlern, die ihm zugetan waren, denen man Aufträge erteilte und die sich mit Werken und Aufführungen bedankten.
Auf Musikerseite waren dies zuerst Persönlichkeiten wie die ungarische Geigerin Stefi Geyer, später der russische Cellist und Dirigent Mstislaw Rostropowitsch, der nach seiner Emigration aus der damaligen Sowjetunion von Sacher unterstützt wurde. Sacher half auch bei der Entdeckung junger Talente wie Anne-Sophie Mutter (die seit 1981 unter ihm spielte) mit. Unter den Pianisten sind vor allem Dinu Lipatti und Géza Anda als Angehörige der Sacher-„Familie“ zu nennen. Immer wieder im Sacher-Kreis anzutreffen war Heinz Holliger, den Sacher auch zum Dirigieren ermunterte. Erst schien Holliger Sachers Basler Kammerorchester übernehmen zu wollen; doch zog er sich wieder zurück, und Sacher löste das BKO 1986 kurzerhand auf. Doch steht das von Holliger mitgegründete „Basler Musik Forum“ klar in der von Sacher begründeten Tradition.
Weiße Flecken der Landkarte
Während Sacher zur seriellen Schule der ersten Generation Distanz hielt, fühlte er sich der französischen Neuformulierung des Serialismus durch Pierre Boulez eng verbunden. Seitdem Sacher 1960 an der Basler Musik-Akademie eine Meisterklasse für Pierre Boulez ins Leben gerufen hatte, war Boulez immer wieder an Sachers Seite anzutreffen, als Dirigent, als Laudator, als Freund – zuletzt bei der Verleihung des Siemens-Preises an György Kurtág in München 1998. Erstaunlicherweise trägt keines der Werke von Boulez den Vermerk „komponiert im Auftrag Paul Sachers“, doch dokumentierte Boulez seine Freundschaft mit Sacher immer wieder – zuletzt an der Trauerfeier für Sacher im Basler Münster, in welcher Boulez als einziger Redner tiefe menschliche Rührung zeigte.
Ein Haus für viele Nachlässe
1986 schenkte Sacher sich und seiner seit 1973 bestehenden Stiftung das umgebaute Haus „Auf Burg“ an schönster Lage auf dem Basler Münsterplatz. Dieses mit den modernsten Techniken der Archivierung ausgestattete Institut dient der Sicherung, Sichtung und wissenschaftlichen Erforschung der zahlreichen Musik-Autographen und Komponisten-Nachlässe Sachers. Gleichzeitig wurde die Stiftung von Sacher als Nachlaßorgan für die Zeit nach seinem Ableben konzipiert. Zumindest seit den 80er Jahren hatte Sacher in großem Stil Nachlässe und Sammlungen bedeutender Komponisten erworben – am spektakulärsten der für zwölf Millionen Franken ersteigerte Nachlaß Igor Strawinskys und die Webern-Sammlung aus dem Moldenhauer-Archiv. Im hohen Alter versuchte Sacher noch, den Nachlaß Arnold Schönbergs hinzuzugewinnen; dessen Erben zogen jedoch Wien vor. Hinzu kamen Nachlässe von Bruno Maderna, Conrad Beck und Frank Martin sowie „Nachlässe zu Lebzeiten“, deren Zahl und Bedeutung für Außenstehende kaum zu überblicken ist: Boulez, Berio, Carter, Kurtág, Halffter, Rihm, Ferneyhough, Robert Suter, Klaus Huber, Rudolf Kelterborn, Heinz Holliger... Heute wird die Sacher-Stiftung von Spezialisten aus aller Welt besucht. Ihre Bestände sind weltweit einzigartig.
Der Einfluß Sachers auf die Musikkultur war während Jahrzehnten unvergleichlich und nur teilweise auf seine öffentlichen Funktionen – etwa bei der Schweizer IGNM, der Basler Musik-Akademie, dem Schweizerischen Rund-funk, dem Tonkünstlerverein, der Kulturstiftung Pro Helvetia – zurückzuführen. Unter die wenig rühmlichen Einflüsse Sachers rechnet die Entfernung des als „Kommunist“ verschrienen Hermann Scherchen aus dem Amt des Dirigenten des Schweizerischen Rundfunkorchesters 1950. Naturgemäß schwand dieser Einfluß in den Jahren seines hohen Alters. Dennoch blieb Sacher eine „graue Eminenz“, gar eine Figur von geradezu mythischer Größe, deren echte oder eingebildete Macht bisweilen auch zur „Schere im Kopf“ von Musikkritikern und Lokalhistorikern führte. So wurde ein kritischer Beitrag zu Sachers 80. Geburtstag von Christoph Keller im Schweizer Kultursender Radio DRS 2 auf höhere Weisung nicht ausgestrahlt. Auch ein von Dietmar Polaczek 1986 für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ verfaßter Artikel „Bittere Sacher-Pille“ blieb ungedruckt.
Seine letzten Jahre standen im Zeichen der Sicherung seines riesigen Erbes – und seines 1981 geborenen Sohnes Georg Sebastian Balthasar Schmid, des dritten von drei außerehelichen Kindern, zu denen Sacher sich bekannte. Paul Sacher ist am Morgen des 26. Mai 1999 in Basel gestorben. Georg Schmid wird seinem Vater als Präsident der Paul-Sacher-Stiftung (wissenschaftliche Leitung: Prof. Hermann Danuser) nachfolgen. In seinen noch jungen Händen liegt nun das Geschick einer unermeßlich reichen Erbschaft und eines wesentlichen Teils der Musik des 20. Jahrhunderts.