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Instrumentales Geräusch-Theater: das Musiktheaterstück „hellhörig“ von Carola Bauckholt. Foto: Regine Koerner
Instrumentales Geräusch-Theater: das Musiktheaterstück „hellhörig“ von Carola Bauckholt. Foto: Regine Koerner
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Die Quadratur des Kreises

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Reinhard Schulz zur Münchener Biennale
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Ein Festival, das sich das Nachdenken über neue Formen des Musiktheaters zum Ziel setzt, hat die Aufgabe, den Begriff musiktheatralischer Ansätze zu erweitern. Denn die traditionelle Form der Oper ist heute an Grenzen gelangt. Man mag dem widersprechen und auf mögliche Wiedergeburten warten, aber die Erfahrungen mit der klassischen Handlungsoper sind immer wieder dürftig und auch die Komponisten, die kritisch ihr Tun überprüfen (es sind die besten), spüren deutlich das innere Aufbegehren gegen eine lineare Entwicklung einer Story. Fragen der musikalischen Zeit in der Neuen Musik spielen hierfür eine maßgebliche Rolle. Geblieben freilich ist der Wunsch, Musik über alle Sinne zu vermitteln. So ist die Relation von dem Erklingenden zur Wahrnehmung von Bild und Aktion auf Konventionen sprengende Art neu zu fassen (dass die Parole „prima la musica“ dabei immer noch gilt, steht außer Frage; eine andere Gewichtung ist durch die Kategorien der Theater- oder Filmmusik weitgehend abgedeckt).

Die seit gut zehn Jahren von Peter Ruzicka geleitete Münchener Biennale hat, das darf man vorweg sagen, in diesem Jahr dem experimentellen Zugang zu Formen und Möglichkeiten des Musiktheaters breiten Raum gelassen. Der immer wieder erhobene Vorwurf, dass es sich hierbei nicht mehr um Oper handele, wirkt wehleidig – selbst wenn die neuen Ansätze manchmal mehr perspektivisch, als schon ganz in sich stimmig wirken mögen. Will man da nicht in eine Stallwärme zurück, die schon lange ihre innere Glut verloren hat? Es wäre an Brecht zu erinnern, der einmal sagte, man solle nicht am guten Alten, sondern am schlechten Neuen anknüpfen.

Man darf der diesjährigen Biennale (mit dem Motto: Fremde Nähe) bescheinigen, dass sie mit den vier gro­ßen zur Debatte gestellten Musiktheaterwerken weit auseinanderliegende, ja bisweilen sogar entgegengesetzte Konzeptionen bot. Es wurde ein Raum abgesteckt, dessen Vektoren nach Außen in verschiedene Himmelsrichtungen wiesen. Dass es so gekommen ist, darf man auch als Glück des Veranstalters ansehen, denn genau planbar ist so etwas nicht. Und so warfen Enno Poppes „Arbeit Nahrung Wohnung“, Klaus Langs „architektur des regens“, Carola Bauckholts „hellhörig“ und Jens Joneleits „Piero – Ende der Nacht“ jedes auf seine Weise Positionen oder Eckpunkte zum Verhältnis von Bild, Bewegung, Semantik und Klang ein, die, ob in allem ganz stimmig oder nicht, als Wegweiser neuen musiktheatralischen Denkens zu betrachten sind. Mit den vier Stücken gelang fast so etwas wie eine Quadratur des Kreises.

Wenn Musiktheater heute weitgehend einer fortlaufenden Handlung entbehrt, so heißt dies keineswegs, dass hiermit auf ein Sujet verzichtet würde. Bei Enno Poppes „Arbeit Nahrung Wohnung“ – eine Bühnenmusik für vierzehn Herren – stand Daniel Defoes Robinson Crusoe Pate, wobei freilich die Gewichte ganz anders gelagert sind. Die vier Seeleute (souverän: Neue Vocalsolisten Stuttgart) als Retter sind handfeste Burschen, wie sie ein Seemannsgarn nicht besser spinnen kann (auch die acht Musiker der MusikFabrik, vier Schlagzeuger und vier Keyboard-Spieler, die auf der Bühne agieren, sind in das Geschehen, das von Außen in die Welt Robinsons und Freitags eindringt, verwickelt). Freitag (Omar Ebrahim) ist schon bei Crusoe der, der die Mechanismen der Zivilisation allmählich begreift. Hier im Stück überrundet er Robinson und wird schnell Bestandteil der rüden Äußerlichkeiten aus Shanty-Gesängen, Walzeradaptionen und nordschottischen Choralanklängen. Robinson hingegen wird von diesem Treiben mehr und mehr an die Wand gedrückt. Er, der aus der so genannten Zivilisation kam und sich mit der Intimität des Insellebens anfreundete, kann mit der neuen Diesseitigkeit, die die Rettung verheißt, nichts anfangen. Er zieht sich zurück, sucht die langsam verfließende Zeit, in die die Musik am Schluss wie in einer Implosion von Klang und Handlung fast mutwillig gedehnt ausläuft.

Eigene Wege

Textautor Marcel Beyer und Komponist Enno Poppe hatten sich auf diese inhaltliche Grundstruktur geeinigt, dann aber gingen sie eigene Wege. Von zwei Seiten sollte gewissermaßen mit zugespitzten Mitteln literarisch wie musikalisch die isolierte Welt und der Einbruch in sie sinnlich vertieft werden. Beyer versuchte ein Spiel mit verbalen Querständen und Doppeldeutigkeiten, eine Vernetzung von Jargon-Ausdrücken mit assoziativen Ausblicken auf kryptischer Basis. Und Poppe verfuhr musikalisch ähnlich: er griff auf Topoi von Volksmusik, vulgärer oder Innerlichkeit meinender Sangesart und dann wieder auf Bereiche der Tanzmusik zurück. Die vielschichtige Anordnung vermied es freilich, diese musikalischen Welten zu zitieren. Poppe ging den Weg der Imitation mit anderen Mitteln. Mikrotonale Stimmungen rückten den Klang in Zonen des Nicht-Wirklichen, die vielleicht Halt in der Wirklichkeit suchen und dennoch das Falsche ihrer Näherung unterstreichen. Es ist wohl die Art, wie der entwurzelte Robinson das altvertraute, aber mittlerweile fremd gewordene Geschehen vernahm. Er selbst wandelt sich im Stück vom Sprecher zum Sänger, der gesungene Ton ist dabei Zeichen seines Rückzugs. Das ist kompositorisch eindringlich gelungen, ein Kaleidoskop aus verrückter Vertrautheit und aus Klang gewordenen Allerweltsutensilien (die Schlagzeuger bedienen gegen Schluss Kochgeräte, Werkzeuge und das Mobiliar) berührt irrwitzige Regionen und lässt auf diesem Weg die Entfremdung Robinsons, nicht zuletzt durch die engagierte Leistung Graham F. Valentines, gegenüber der lauten Welt hörbar werden. Die parallel dazu verlaufenden sprachlichen Verhakungen, wohl ein Manko, sind nicht in gleichem Umfang wahrnehmbar, bedürfen der Lektüre. Und die Regie (Anne Viebrock) beschränkte sich auf lebendige Anordnung der Vorgaben, die schon die Partitur in vielen Punkten festschrieb. Es war also in erster Linie die virtuos perspektivenreiche Musik, die das Gelingen sicherte.

In sich weit geschlossener, ja fast hermetisch, wirkte demgegenüber Klaus Langs Stück „architektur des regens“. Auf der Basis eines alten, von Lang übersetzten No-Theaterstücks von Motokiyo Zeami wird die Begegnung eines gebildeten Stadtmenschen mit einem Holzfäller (zwei Soprane, Gotho Griesmeier und Alesja Miljutina) geschildert, der die Schönheit der Natur so eindringlich in Worte fasst, dass er dem Stadtmenschen später im Traum als Gottheit der Poesie aufscheint. Das ist die Botschaft des Stücks: „Das Höchste ist im Niedrigsten nicht nur enthalten, es ist eigentlich dasselbe“ (Lang). All dies ist im Grunde lyrische Betrachtung. Es gibt keine dramatische Konfrontation, alles strebt dem Gleichklang, dem unendlich reichen Gleichklang der Natur (verkörpert durch drei Bässe) zu. Das verlangt, um das Zarte des Sujets nicht zu beschädigen, sowohl szenisch wie musikalisch äußerste Zurückhaltung. Und diese wurde von Lang und der Regisseurin Claudia Doderer radikal verwirklicht.

Einfach, ruhig, fließend

Der still gleichmütigen Betrachtung des wunderbaren Textes wird jegliche dramatische Akzentuierung verweigert. Die Musik verläuft ganz still in einfachen, ruhig fließenden Strukturen, die nur in mikroskopischen Bereichen (Fragen der mikrotonal beeinflussten, unterschiedlichen Stimmung, Geräuschanteile et cetera) eine raue, schrundige Oberfläche spüren lässt. Das Verweilen im anschauenden Gedanken, das Ausblenden von individuellen Triebkräften soll durch diese Musik bewirkt werden. Und sie öffnet sich nur dem, der dazu bereit ist, der sich vom Klischee des abendländischen Musikdramas löst. Dann aber zieht sie den Hörer hinein in eine vom Wollen gereinigte Welt, lässt ihn im Wechselspiel mit den Klängen atmen, lässt ihn in die Tiefe blicken. Derjenige freilich, der in der einfachen Grundaussage keine Tiefe erblickt, muss dem Stück fremd gegenüberstehen. Denn es ist in dieser Hinsicht konzessionslos, so konzessionslos, wie es Bereiche des Wesenhaften, der philosophischen Schau ins Absolute immer sind. Die perennierend redundanznahen Linien der Musik, die nur in ihren Schattenwürfen, in den harmonischen Ausleuchtungen von unendlicher Vielfalt zeugen, entwickeln so eine zentripedale Sogkraft. Die Musik macht keine Kompromisse, aber sie lockt, wie es vielleicht die fernen Gesänge der Sirenen taten. Und die Szene (mit tanzender Gottheit am Schluss: Sophie Abrioux) tut nicht mehr (darf nicht mehr tun), als die Statik des Betrachtens in ruhigen Bildern und Farben zu vertiefen.
Nach den multiperspektivischen Schichtungen von Poppe und Beyer und der statischen Konzentration Langs folgte mit Carola Bauckholts „hellhörig“ eine weitere, diametral entgegengesetzte Facette musiktheatralischer Möglichkeiten. Es war ein weitgehend handlungsloses Theater der Geräusche, die drei Solisten (Sopran, Mezzo und Bariton) waren zunächst in der Art von Living Sculptures erstarrte Wesen, die sich, wie auch die weiteren Agierenden (drei Celli, Klavier und vier Schlagzeuger), aus ihrer Erstarrung wie ein künftiger Schmetterling aus seiner Puppenhülle lösten. Es wird gerieben, geschlagen, gezischt, Kugeln rollen in einem Gefäß, Blechwannen werden über den Boden gezogen und geben langgezogene Laute von sich. Solche Momente könnten sich rasch verspielen und ins Beliebige abgleiten. Bauckholt aber liebt die Geräusche wie kleine, lebendige Wesen und hat sich in all ihren Kompositionen ein ihnen innewohnendes, breites Ausdrucksspektrum erarbeitet: oft ganz zart ihnen hingegeben. Denn Geräusche sind eigenwillige Wesen, sie sind nicht so lenkbar wie musikalische Töne. Einen harten Schlag kann man nicht beliebig dehnen, das Fallen eines Balles stellt seinen eigenen Rhythmus her. Zugleich aber stellen Geräuschen unwillkürlich eine assoziative Semantik her. Die gezogene Wanne mag man mit Klagerufen vergleichen, wenn man Luftballone reibt, kann man Schmeichelei und Zurückweisung imitieren und so fort.

Und so wird die Komposition, die nur mit der Partitur (kein Text, keine musikfremde szenische Anweisung, keine Bildvorstellungen) auskommt, gleich zwei Mal zum Theater: zum einen in der Form des instrumentalen Theaters (Bauckholt hat bei Mauricio Kagel studiert), also durch die notwendigen Aktionen zur Geräuschproduktion, zum anderen durch eine sich bei jedem individuell einstellende und gewiss unterschiedlich ausfallende semantische Deutung der Geräusche. Denn ihnen sind durchaus Reiz-Reaktions-Muster zueigen, und Bauckholt arbeitet auch deutlich mit diesen inhaltlichen Elementen. Wir sind hier ganz nahe an Ursprüngen musikalischer Äußerung, wo sich der Gesang noch dem Weinen oder Lachen entwindet, wo der Schlag auf Holz noch die Struktur des Materials erkundet. Und so sehr auch die Durchgestaltung des Stücks innermusikalischen Kriterien genügt, so sehr spielt Bauckholt auch mit den Elementen von Äußerung und Widerspruch, von Frage und Antwort (aber tut das nicht die Musik insgesamt, sind diese Momente nicht im noch so abstrakten Stück aufgehoben?). Und so erleben wir in spannenden 75 Minuten eine Emanzipation des Geräuschs und zugleich die Emanzipation ihrer Erzeuger. Frühmenschliche Vergleiche, also aus vorsprachlicher Zeit, treffen das Stück wohl am genauesten. Neugier, Schreck, Streit, Wutschrei, tastendes Locken, die Lust am Herausfinden, das Hecheln des Atems, das Klopfen der Herzen liegen in freundlichem Clinch und spinnen ihre Traumgeflechte, die in der Installation (man vermeidet das Wort Regie) von Georges Delnon und Roland Aeschlimann versiert und sehr findig zwischen Abstraktion und Konkretion schwanken. Hervorragend auch die Einstudierung durch Erik Oña (Geräusche brauchen dann keinen Dirigenten).

Einen vierten Aspekt, vielleicht den konventionellsten, was das Verhältnis von Handlungsstruktur und Musik anlangt, hat Jens Joneleit vorgelegt. Venedig, die Lagune, die weithin über die Wasserfläche tragenden Signale der Schiffshupen, das schreit förmlich nach Luigi Nono. Dort hat er auf der Giu­decca gelebt, dort ist er auf der Isola di San Michele begraben. Immer wieder nahm das, so die Unterzeile, Hörstück für ein Theater der wandernden Gedanken und Klänge „Piero – Ende der Nacht“ nach Motiven des Romans „Die Rote“ von Alfred Andersch deutlichen, mitunter vielleicht allzu deutlichen Bezug auf das Vorbild. Das kann auch zur Hypothek werden, denn Musiktheater heute funktioniert kaum nach Modellen (wie wir das im Film häufig, aber auch dort meist mit Abnutzungserscheinungen, erleben).

Musikalisches Ereignis

„Piero“ geriet, mit viel Impulsivität gespielt vom Ensemble Modern unter Yuval Zorn, zu einem außerordentlich kraftvollen, vielschichtig inspirierten musikalischen Ereignis. Die tragenden Klänge, stille, über weite Strecken an einem hohen Fixton aufgehängte Geflechte mit eruptiven Entladungen und Anstößen entwickelten die Sogwirkung, die sich Joneleit erwünschte. Denn man soll von der Musik umhüllt, ja voll in Beschlag genommen werden, um von dieser Basis aus seine Gedanken schweifen zu lassen. Die schöne Idee, das Publikum auf zwei gegen­überliegenden, erhöhten Sitztribünen zu platzieren, die dazwischen einem schmalen Laufsteg Raum gaben, und unter ihm im Bauch des Gerüsts weit aufgeteilt die Musiker aufzustellen, schuf sinnfällig diesen Charakter klanglicher Einbettung. Der Dirigent wurde dabei über Monitore vor jedem Musiker über 20 Mal vervielfacht und war auf virtuellem Weg allgegenwärtig. Die außerordentlich fein durchgehörten Klänge drangen gewissermaßen von unten in den Hörer, sinnbildlich umgingen sie so den Primärweg über den Kopf, berührten das Unterbewusste. Immer wieder Archaisches: Der Protagonist Piero, ein Fischer, war als Zeichen unterschiedlicher Realitätsebene in Sprech- (Michael Autenrieth) und Singrolle (Johannes M. Kösters) gespalten und wurde einem an die attische Tragödie erinnernden Solisten-Chor mit einem Mezzosopran (ausgezeichnet: Niina Keitel), quasi als Chorführerin, als Stimme der Verallgemeinerung konfrontiert. (Auch hierfür stand Luigi Nonos Konzeption in seinem „Prometeo“ wohl Pate).

Erzählt, oder besser in losen Worten angedeutet, wird der letzte Tag dieses Fischers. Er blickt auf seine Welt der Enge, der Armut, der Kälte, der Zermürbung, aber auch auf kleine Schimmer der Hoffnung: etwa die entfernten Berge mit Schnee. Der Chor führt aus anderer Warte, aus der des Totenreichs (die Sänger steckten in weißer Festtagskleidung aus unterschiedlichen Epochen) diese Gedanken fort. Es war ein ruhig fließendes Hin und Her mit unentrinnbar schicksalhafter Tendenz. Piero steht auf der Schwelle zum Tode, als Sprechender gehört er zu den Lebenden, als am Schluss nur mehr Singender schon zum Reich des Chores.

Hier aber mag man eine Schwachstelle des Stücks auszumachen. Andersch erzählt die Geschichte des Piero in den Grauwerten von dessen Welt. Scheinbar Nebensächliches formt sich zu einem Ton der Enge, der Beschränkung, doch gerade dieser ganz eigene Klang der Sprache lässt in nuce die ganze Tiefe der Welt aufscheinen. Das Musiktheater ändert diese Fallhöhe. Der Text (Michael Herrschel) isoliert die Worte von Andersch und gibt ihnen im Zusammenhang mit der Musik ein Gewicht, das diese gar nicht anstreben. Verstärkt wird dies noch durch von Herrschel ins Allgemeine getriebene, meist dem Chor zugeordnete Passagen. Das aber sind bestenfalls assoziative Gebinde, Tiefe meinend, aber kaum erreichend. Der philosophische Raum entbehrt der inhaltlichen Basis, allenfalls der Gedanke an einen sterbend zurückblickenden Menschen mag durchs Stück leiten.

Verwaiste Gedanken

Das aber ist, nicht zuletzt im Angesicht der heftigen Reaktionen der Musik, zu wenig. Die Gedanken mögen wandern, sind aber vom Gehalt des Textes weitgehend allein gelassen, wirken ver­waist. So haben wir ein starkes und eindrückliches Musikstück vor uns, das über Live-Elektronik den scharfen Oberton-Verästelungen tief grundierter Töne in dialektischer Aufspaltung nachlauscht. Wir haben ein stimmiges, in seiner Architektonik freilich nicht gerade originäres Raumkonzept von Gunnar Hartmann (was Ausgangsidee des Stücks war) und eine Regie (Katharina Thoma), die behutsam die Stränge der Entwicklung assoziativ bebilderte. Die hervorragende musikalische Leistung (nicht zuletzt auch des Chores) und die mit massiv in die Tiefe gehenden Akzenten arbeitende Klangwelt litten an einem nur wenig öffnenden, die Gedanken weitenden inhaltlichen Pendant. Solche Kluften stimmig zu überbrücken aber wäre Sinn eines Musiktheaterwerks.

Ergänzt wurde das Festival noch durch ein von Cornelia Melián wandlungsreich vorgestelltes, die Sphäre der Frau umkreisendes Projekt „One-Woman-Opera“ mit kurzen und spitzen Szenen um Altersproblematik oder Shopping-Wahn von Carola Bauckholt, Charlotte Seither, Irinel Anghel und Juliane Klein, durch eine ebenfalls vierteilige Szenenfolge „Hin und weg“ der Hamel-Schüler Felix Leuschner, Peter Nikolaus Häublein, Eunyoung Esther Kim und Martin von Frantzius, deren durchweg düster pessimistische Grundierung freilich kaum die nötige musikalische Tiefenschärfung erfuhr und durch einen Blick auf altägyptische Totensprüche „Osiris“, die freilich mit zurückhaltender musikalischer Unterfütterung durch Günter Steinke allenfalls durch die fortwirkende Brisanz des Textgehalts bestach. Daneben wurde das dreiwöchige Festival von Orchester- und Ensemblekonzerten (unter anderem mit einer neuen und ganz eigenwillig zwischen Tiefe und Humor changierenden Komposition Helmut Lachenmanns, der Musik für Stimme und Klavier „GOT LOST …“, oder der ausgezeichneten Aufführung von Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“ durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) nachhaltig bereichert.

Die Biennale 2008 hat nicht das Musiktheaterwerk der Zukunft vorgestellt. Wir sollten uns von solchen Begriffen verabschieden, denn mehr denn je tragen Modelle nicht. Gelingen liegt in der Dialektik von Individualität und den alle Sinne erfassenden Potenzen der weit über die traditionelle Oper hinausweisenden Form. Aber die Biennale hat vier radikale Positionen vorgestellt, ihnen Raum gegeben und dadurch auch unser Bewusstsein geweitet, unsere Vorurteile korrigiert.

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