Im sprichwörtlichen Gänsemarsch folgen Graugänse einem beliebigen beweglichen Objekt, das ihnen als erstes in ihrem Leben begegnet. Eine solche Prägung ist irreversibel (K. Lorenz).
Im sprichwörtlichen Gänsemarsch folgen Graugänse einem beliebigen beweglichen Objekt, das ihnen als erstes in ihrem Leben begegnet. Eine solche Prägung ist irreversibel (K. Lorenz).Als „Mängelwesen“ (Gehlen) und „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) unternimmt der Mensch zahllose Anstrengungen, um mit sich und einer ungeheuer vielschichtigen Welt zurechtzukommen. Als soziales Wesen organisiert er sich in den unterschiedlichsten Gruppen, Organisationen, Vereinen, Glaubensgemeinschaften, Nationalitäten und anderen Zusammenschlüssen, die Gemeinsamkeit, Wir-Gefühl, Schutz und Geborgenheit versprechen.Oftmals reduziert er die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit, um sich nicht in einem komplexen Netz zu verfangen. Zumeist unwissentlich unterwirft er sich dabei einfachsten Mechanismen, die stammesgeschichtlich viel älter sind als der Mensch.
Bei vielen Findungs- beziehungsweise Identifikations-Prozessen kommt der Musik eine besondere Bedeutung zu: Die Spannweite reicht von Heino bis Beethoven, vom Karneval bis zu religiösen Riten, vom Kreisklassenverein bis hin zu nationalen oder gar internationalen Meetings.
Schlüsselreiz, Konditionierung
Schlüsselreize: Zur Brunstzeit reagiert der dreistachelige Stichling auf alles, was rot ist und sich bewegt. Ja selbst gegen formfremde Attrappen verteidigt er sein Revier.
Im Biotop des Fischleins ist ein solcher angeborener Schlüssel-Schloss-Mechanismus genügend selektiv beziehungsweise verwechslungsunanfällig. In der Lebenswelt des Menschen dagegen treibt irrationales, instinkthaftes Verhalten ungeahnte Stilblüten – bis hin zu gefährlichen Verzerrungen und Manipulationen.
Bedingte Reflexe durch Konditionierung: Der russische Verhaltensforscher Pawlow setzt einem Hund Nahrung vor, deren bloßer Anblick eine messbare Erhöhung der Speichelsekretion bei dem hungrigen Tier bewirkt. Gleichzeitig ertönt ein Glockensignal. Nach wenigen Wiederholungen des Versuches genügt schließlich dieses Signal allein, das heißt ohne reales Vorhandensein von Fressen, um eine „Nahrungserwartung“ bei dem Tier auszulösen. Aus einem „unbedingten Reflex“ wird so ein „bedingter“.
Diese weit verbreitete und tief verankerte Grundform assoziativen Lernens ermöglicht es dem Menschen, beliebige Inhalte zu verknüpfen – auch solche, die vorher überhaupt nichts miteinander zu tun hatten. Die Bandbreite reicht von ebenso sinnvollen wie einfachen Lernverknüpfungen bis hin zu Formen gefährlicher Gehirnwäsche durch extreme politische oder religiöse Systeme.
Die enorme Wirksamkeit Pawlow’- scher Konditionierung belegt allein schon die Existenz der Werbeindustrie, die alljährlich Milliarden investiert. Heile Welt, Gesundheit, harmonisches Familienglück, ewige Jugend und andere Heilsbotschaften werden mit dem angepriesenen Produkt assoziiert. Eine solche unbewusste Manipulation zielt zuerst auf emotionale Identifikation. Dabei spielt auch die Musik eine besondere Rolle. Wie sehr Akzeptanz aber auch Ablehnung von irrationalen und stark gefühlsbetonten Bewertungen abhängen, belegen die folgenden Ausführungen.
Alte Kameraden
Nationale Identifikation tritt dort am unverblümtesten hervor, wo größere, offizielle Ereignisse militärische Bekräftigung erfahren.
Dabei ist es gleichgültig, ob Indien Mutter Theresa ein Staatsbegräbnis gewährt, die Rote Armee Macht mit Panzern und Raketen prostituiert, ein Staatschef mit militärischen Ehren empfangen oder begraben wird, Peppone sein „Haus des Volkes“ einweiht oder die Amerikaner ihren Muhammed Ali einmal in den Ring zurücktragen werden. Überall die gleichen, uniformen Riten: ein Kommandeur, roboterartige Bewegungen (Grüßen, Strammstehen, Marschieren), starre Gesichter, Requisiten und Fetische (Kluft, Fahnen, Abzeichen etc.) und nicht zuletzt eine stereotype Marschmusik. Wie „Herr Hoppenstedt“ (Loriot) ergötzen sich viele an solcher Musik. Ganz aufgeregt und voller Enthusiasmus wünscht sich der Senior „Alte Kameraden“ und dirigiert dazu mit seinem Krückstock.
Hinter vermeintlicher Ordnung verbergen sich in Wahrheit schlüsselreizartige, symmetrische und informationsarme Reiz-Reaktions-Muster: ein gefährlicher Nährboden für Austauschbarkeit, Verwechslung, Manipulation und Konditionierung.
Marschmusik aus verschiedenen Lebensbereichen trägt solche stereotypen Züge: „Alte Kameraden“, „Die Fahne hoch“, „Bergvagabunden“, „Humbta tätärä“, „Fußball ist unser Leben“ oder „O du schöner Westerwald“. Insbesondere amüsiert die äußerst banale rhythmische und metrische Struktur. Natürlich gibt es auch niveauvolle Marschmusik: wie Schuberts bekannter Militärmarsch oder die Trauermärsche von Beethoven (Eroica) oder Chopin (b-Moll-Sonate).
Aus der Simplizität resultiert eine scheinbare Paradoxie, realiter jedoch dialektische Konsequenz: Je stärker nationales Kolorit zur Schau gestellt wird, desto unspezifischer und „internationaler“ ist es substanziell angelegt. Solche musikuntermauerte Zwangs-Solidarisierung und Gleichschaltung findet man überall, wo es Vereine gibt: im Karneval, beim Formations-Tanzen, bei Prozessionen et cetera.
Die Paderborner Katholiken beispielsweise tragen alljährlich die Gebeine ihres Liborius durch die Straßen. Krönung ist ein viel umjubelter Tusch. (Nur Ketzer denken hier an Karneval!) Man gewinnt den Eindruck, der Tusch soll die Gebeine wieder zum Leben erwecken; Liborius möge in voller Gestalt dem Schrein entsteigen! Auch die Wandervogel-Bewegung kannte das verbindende Gefühl des marschierenden Wanderns. Nicht alle Lieder jedoch boten da ein ebenso naives wie missbrauchtes Saatgut wie „Bergvagabunden: ...Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder, Brüder auf Leben und Tod.“
Stars und Sternchen
Von den „Alten Kameraden“ ist es nicht mehr weit zu den populären Größen aus der U-Musik, die Millionen von Menschen begeistern, solidarisieren und ein nationales oder sogar internationales Wir-Gefühl suggerieren.
Der Marschmusik am nächsten kommt der uneingeschränkte Retter des germanischen Liedguts: neoblond, verdeckt-äugig, mit der „schwarzen Barrrbara“ im Musikkoffer. 98 Prozent der Deutschen kennen ihn; für die fehlenden 2 Prozent trägt er seinen Namenszug auf einem Brillenbügel. Nach einem kräftigen Schluck blauen Enzians höre ich ihn inzwischen mit Vorliebe.
Auch der berühmte Seid-umschlungen-Millionen-Dirigent, dessen Name Hilfe von oben erfleht, zieht die Massen in seinen Bann. Ausgestattet mit ausgefeilter Schlagtechnik und feinem Gehör, verleitet er ganze Fußballstadien und Zugladungen zum Singen.
Nicht vergessen dürfen wir den Subbassisten mit der tiefen Weihnachtsmarkt-Stimme, der – zuerst mit, dann ohne Bembel – durch die schönen deutschen Lande streift. Seines Zeichens ist er Kammersänger, eigentlich Kammerjäger, da er den Kammerton a anvisiert, ohne diesen je zu erwischen.
Letztlich hängt der Solidarisierungsgrad nicht von der Qualität der Darbietung ab (bisweilen kann diese gar hinderlich sein). Traumpaaren wie Stefanie und Stefan (klingt noch viel schöner als eine einfache Alliteration), den späten Nachkommen von Marika Kilius/Hans-Jürgen Bäumler oder Romy Schneider/Karl-Heinz Böhm sehen die Deutschen alles nach. Selbst das vernichtende Gutachten eines Detmolder Musikprofessors vermag die heile Welt nicht zu trüben.
Eine weitere, kaum zu hoffen gewagte, Steigerung liefert unser orthopädisch-bestrumpfter Nussecken-Mann, gefolgt vom grinsenden Metzger: letzterer mit genialer musikalisch-sprachlicher Kompression beziehungsweise Reduktion, mit einer mutig nach außen gekehrten, geradezu exhibitionierten, Legasthenie.
Schade, dass der neuartige Töne und Geräusche kreierende Bewohner des RTL-Containers nicht zum Grand Prix nach Kopenhagen reisen durfte.
Auch Fußballern („Einer für alle – alle für einen“) und Schauspielern ist Gesang gegeben, wobei Popularitätsgrad und Wir-Gefühl umgekehrt proportional zur Gesangsausbildung steigen. Manch ein heiserer Veteran stimmt gar in den Schlussgesang der Schwäne und Dornenvögel mit ein.
All die vielen Kostbarkeiten schützt die Gema, obgleich wirklich Neues in der Tonalität (schon nach Wagner) kaum mehr zu entdecken ist.
Tatsächlich kursiert das Gerücht, dass Fußballvereine Lizenzgebühren für den „Go-West“-Verschnitt „Ole, jetzt kommt der BVB/HSV“ entrichten sollen. Eine freiwillige Gema-Abgabe zur Grabpflege Johann Pachelbels stünde den Pet Shop Boys besser zu Gesichte.
Sowohl vom Mainzer Karnevals-Tusch als auch vom Deutschen Grand- Prix-Beitrag 2000 ist es nur ein kleiner Schritt zum Oskarchen, das sich mit seiner Blechtrommel durchs Leben paukt. Eine Übertreibung, eine Kunstfigur? Nein – Matzerat junior hat sich längst vermehrt! Seine Söhne und Töchter trommeln in vielen Sportarenen: vor allem beim Fußball, Handball und Eishockey. Rudimentäre „Enddarm-Musik“, reduziert auf ein dumpfes, schicksalhaftes Klopfen, das eher an einen spukenden Poltergeist oder einen wiederbelebten Vierzylinder erinnert!
Animieren die dröhnenden Paukenhiebe nicht zur Genüge, so helfen Cheerleader, „Anturner“ über Lautsprecher oder klatschende Hände auf einer Großbildleinwand: allesamt kulturelle Leihgaben unserer Freunde aus Kanada und den USA!
(Ohn-)Macht großer Geister
Symmetrie, Austausch- und Übertragbarkeit der aufgezeigten simplen Muster lassen Globalisten und Generalisten vorschnell frohlocken. Doch die vermeintlich tragfähige Plattform nationaler wie internationaler Verständigung und Identifikation besteht in Wahrheit aus dünnem Eis im Tauwetter schlüsselreizartiger Konditionier- und Manipulierbarkeit.
Vielleicht gelingt ja den Großen die lang ersehnte nationale und internationale Solidarisierung – auf hohem, ja höchstem Niveau. Tatsächlich werden wir fündig. Trotz vereinzelter Kritik und Ablehnung sind deutsche Genies wie Bach, Beethoven, Goethe oder Wagner im In- und Ausland hoch geachtet.
Was allein zum Bach-Jahr 2000 an Kongressen, Publikationen und Konzerten auf die Beine gestellt wurde, beeindruckt zweifellos. 1977 starteten Voyager 1+2, um zunächst unser Sonnensystem, danach auch interstellare Welten zu erkunden und wohlmöglich zu kontaktieren. An Bord auch Tondokumente von Bach und Beethoven als musikalische Beiträge zum Weltkulturerbe! An der Wahl des Thomaskantors zum „Komponisten des Jahrtausends“ besteht keinerlei Zweifel – selbst die Amerikaner werden kein Veto einlegen. Doch sind solche erfreulichen Beispiele globaler Verständigung tatsächlich hinreichende Indizien einer zunehmenden fachlichen und menschlichen Verständigung?
Im Kleinen mag dies zutreffen, doch in der breiteren Bevölkerungsschicht wohl kaum. Musikalische Großereignisse in Bayreuth, Wien, Mailand, New York oder anderswo sind nach wie vor in hohem Maße gesellschaftspolitische Pflichtveranstaltungen. Für einen unmusikalischen Prominenten müsste es ansonsten nahezu unmöglich sein, den kompletten „Ring“ ohne Hörsturz oder Fluchtweg auszusitzen. Man ergötzt sich aneinander oder an dem endlosen Klatsch über familiäre Intrigen und Zwistigkeiten der Festspielleitung. Die musikalischen Leistungen – wie zum Beispiel die über Jahrzehnte hinweg herausragende Qualität des Festspiel-Chores – rücken dabei zu sehr in den Hintergrund.
Blicken wir gut 170 Jahre zurück: Am 29. März 1827 geleiten etwa 20.000 Menschen die sterblichen Überreste Ludwig van Beethovens zu Grabe. Das erste „Staatsbegräbnis“ für einen großen Komponisten! (Noch Mozart hatte man 1791 unter der regen (An-)Teilnahme eines Totengräbers und Hundes in einem Massengrab verscharrt.) Zeichen eines wachsenden Verständnisses? Leider wiederum nicht, wie die fehlende Akzeptanz bedeutender Spätwerke des ertaubten Genies belegt: Einige der letzten Streichquartette wurden sogar ausgelacht. Zwischen die einzelnen Sätze seiner „Missa solemnis“ schob man Rossini-Arien zur Auflockerung. Sein größter Erfolg war wahrscheinlich die unselige „Schlachtsymphonie“ op. 91, mit Maelzels mechanischem Orchester, dem so genannten Panharmonikon.
Und im Jahr 2001? Zwar lacht oder gähnt niemand mehr über die zum Teil abstrakten Spätwerke: doch wohl in erster Linie, um nicht aufzufallen. Bachs „Kunst der Fuge“, Mozarts „Jupiter-Symphonie“ oder Beethovens große Fuge aus op. 133 erschließen sich nach wie vor nur relativ wenigen Musikkennern.
Damals wie heute beeindruckt zuerst die monumentale Wirkung einiger Sätze oder Passagen. Hier tobt der Kampf des seinem „Schicksal in den Rachen greifenden“ Titanen. Ein sehr einseitiger und klischeehafter Aspekt, der über einen Schlüsselreiz nicht weit hinaus ragt!
Wie in der seichten Musik der Versuch, Künstler und Menschen zu vereinen, im Genie auch eine große Seele zu entdecken – ein klassisches Ideal!
Von wenigen Glücksfällen – wie Menuhin – einmal abgesehen, tappt man auch hier im Halbdunkel. Findet man dann doch bei Beethoven Facetten ethischer Stärke, so sucht man bei Wagner (fast) vergebens danach.
Genau hier jedoch vollzieht sich ein verhängnisvoller, konditionierender Umkehrschluss: In Israel verdammt man Mensch und Komponist in einem Atemzug; Aufführungsversuche seiner Werke lösen nach wie vor Skandale aus. Dahinter stehen Wagners schlimme rassistische und antisemitische Äußerungen – von den Nazis mit Freuden aufgenommen und dem Werk übergestülpt. Bei allem Verständnis für die jüdische Bevölkerung: Eine sachliche und differenzierende Auseinandersetzung mit Wagners Musikdramen hält einer pauschalen Verurteilung nicht stand: Trotz erkennbaren Nationalstolzes und partieller Übertreibungen zeichnet Wagner seine Charaktere mehrdimensional und durchaus kritisch. So entpuppt sich der hochaktuelle Sixtus Beckmesser (ursprünglich Hans Lick) als urdeutscher spießiger Beamter. Selbst Hauptgott Wotan verhält sich zwiespältig und allzu menschlich; er erliegt den faustischen Verlockungen des Ringes und scheitert letztlich an den von ihm selbst geschaffenen Gesetzen (Zauberlehrlings-Dialektik).
Ja, aber untereinander werden sich die großen Geister doch wohl verstehen und gegenseitig unterstützen, um schon auf Erden ein Gesamtkunstwerk im Himmel zu entwerfen? Wiederum folgt die Ernüchterung auf dem Fuße und hinterlässt nur Spurenelemente olympischen Geistes. Wie in der Schlagerbranche lechzt die Fan-Gemeinde geradezu nach Fragmenten gegenseitiger Achtung und Zusammenarbeit: „Auf den gebt acht, der wird einmal in der Welt von sich reden machen!“, soll Mozart gerufen haben, als der junge Beethoven 1787 zum ersten Mal Wien bereist. Selbst, wenn diese wahrscheinlich erfundene Lobeshymne der Wahrheit entspräche, sagt sie nichts über die tatsächliche Wertschätzung und Förderung Beethovens aus.
Ebenso wie Goethe war das Salzburger Genie zu sehr auf sich und das eigene Werk fixiert, um andere wirklich wahrzunehmen oder gar zu fördern.
Der Weimarer Dichterpapst schätzte zudem das schematisierende Strophenlied eines Zelter mehr als zum Beispiel Mozarts balladenhaft durchkomponierte „Veilchen“-Vertonung. Die Musik habe sich seiner Dichtung unterzuordnen. Nur konsequent antwortete Goethe dem kongenialen Schubert nicht auf einen einzigen seiner Briefe, denen dieser eigene berühmte Goethe-Vertonungen beigefügt hatte.
6. September 1972, Münchner Olympiastadion – Die ganze Welt gedenkt der Attentats-Opfer vom Anschlag auf die israelischen Sportler. Neben dem Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ erklingt dessen Egmont-Ouvertüre: Goethe und Beethoven – vereint im Grabgesang auch einer Olympischen Idee, die sich schon vorher dem Turm zu Pisa zugeneigt hatte. Die Spiele wurden fortgesetzt.
Schweigen ist Gold
Es gibt Situationen, da sollte alles schweigen – auch die Musik. Da ist Reden Blech und Schweigen Gold. Nur wer Stille erträgt, findet zu sich selbst und so zu den anderen. Er erkennt eigene Schwächen, ohne diese gleich wieder nach außen zu projizieren oder in einem Konglomerat aus Gedröhne, Gegröle und Alkohol zu ertränken. So haben viele Angst vor dem sprichwörtlichen Schweigen im Walde und hasten mit Radio oder Walkman „bewaffnet“ durch die schöne Natur.
In Trauer um die Opfer des 11. September 2001 gab es viele Schweigeminuten. Eine sinnvolle und berührende Geste – doch nur dann, wenn sich im Denken und Handeln des Einzelnen danach etwas ändert. Ansonsten pervertiert das Symbol der Stille und Besinnung zur scheinheiligen Farce – wie im wenige Tage später stattfindenden Lokalderby zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund. Dem Solidaritätsakt mit gemeinsamem Gottesdienst, „Friedenskreis“ und Gedenkminute folgte auf dem grünen Rasen das altbekannte Getrete, Gezerre und Geschimpfe.
Schweigen im Angesicht des Todes und Schreckens, der eigenen Ohnmacht! Vielleicht gehört es zu den subtilsten und nobelsten Aufgaben der Musik, Schweigen zu begründen und zu durchbrechen.
Eine wohl authentische Anekdote berichtet vom Russland-Feldzug 1942/43, einer der schrecklichsten Phasen des Zweiten Weltkriegs. Zwischen den angriffsbereiten Fronten russischer und deutscher Soldaten, mitten im Trümmerfeld von Hass und Zerstörung, sitzt ein Soldat an einem noch halbintakten Klavier: er spielt den 2. Satz aus Beethovens „Appassionata“. Absolute Stille ringsumher: kein Schuss, kein Schreien, keine Bewegung – eine Vision aus einer anderen, besseren Welt! Leider endet das Andante nur allzu rasch und mündet in einen Trugschluss.