Schrekers selbst verfasstes Libretto der 1918 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Die Gezeichneten“ erzählt vom hässlichen Alviano, der sich ein künstliches Paradies, das Eiland Elysium geschaffen hat, auf das seine adligen Freunde Mädchen, Frauen und Kinder entführen, die in Orgien getötet werden. In der herzkranken Malerin Carlotta glaubt der einsame Alviano unverhofft sein Glück zu finden, aber Carlotta verfällt dem Zauber von Alvianos Kunstinsel und seinem Gegenspieler, dem schönen Tamare.
Schreker und Salzburg
Bedenkt man, dass Franz Schrekers Opern Anfang der 20er-Jahre populärer waren als die von Richard Strauss, so hat der 1878 in Monaco geborene österreichische Komponist sich reichlich spät einen Platz im Programm der Salzburger Festspiele erobert. Aber im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts galten Schrekers Opernhandlungen als unmoralisch, seine Musik als schwül, und so blieben sie manchen großen Bühnen verschlossen, bis vom Nazi-Regime ein genereller Schlussstrich unter die Aufführungsgeschichte der Opern Schrekers gezogen wurde.
Auf die farbenreiche Handlung und die kontrastierenden Schauplätze von Schrekers vierter, 1918 im Frankfurter Opernhaus uraufgeführter und dann sehr populärer Oper musste das Salzburger Festspielpublikum bis zu diesem Sommer verzichten.
Dabei hatten die Zeichen nicht schlecht gestanden, dass der Salzburger Festspielinitiator und bedeutendste Regisseur des 20. Jahrhunderts, Max Reinhardt, und der in seinen Opernhandlungen exzentrischste Opernkomponist des frühen 20. Jahrhunderts, Franz Schreker, künstlerisch hätten zusammenfinden können. Immerhin gab es in Max Reinhardts Berliner Kammerspielen eine Schreker-Aufführung: Die Schwestern Else und Bertha Wiesenthal tanzten am 4. November 1910 neben „Offenbachtänzen“ und Josef Strauß’ „Dorfschwalben“ eine Komposition von Franz Schreker, die auf dem Programmzettel als „Weißer Walzer“ angekündigt war, vermutlich also Schrekers „Valse lente“, den die Tanzschwestern, weiß gewandet, exerzierten. Für die österreichische Erstaufführung des von Max Reinhardt initiierten, von Karl Vollmoeller verfassten und von Engelbert Humperdinck komponierten „Mirakel“ in der Wiener Rotunde am 17. September 1912 hatte sich Reinhardt ausdrücklich die Mitwirkung Franz Schrekers gewünscht. Aber leider kam es nicht zu der avisierten Zusammenarbeit. Immerhin erfolgte eine zweite Annäherung und sicherlich auch eine Begegnung von Max Reinhardt mit Franz Schreker, als der Meisterregisseur seine und Erich Wolfgang Korngolds Neufassung der „Fledermaus“ auf die Bühne brachte. Schrekers Gattin, die insbesondere in Franz Schrekers Opern gefeierte Sopranistin Maria Schreker, sang und spielte am 24. Oktober 1929 unter der Regie Max Reinhardts die Rosalinde in der Premiere der Strauß-Operette im Berliner Theater am Nollendorfplatz.
Gleichwohl schaffte es keine Oper Franz Schrekers auf die Salzburger Festspielbühne, weder unter der Ägide Max Reinhardts noch unter der seiner Nachfolger unterschiedlicher politischer Couleurs. Eine Ausnahme bildeten „Die Gezeichneten“ im Sommer 1984 unter der musikalischen Leitung von Gerd Albrecht – durchaus hochkarätig besetzt, aber nur konzertant und obendrein arg gekürzt.
„Die Gezeichneten“
Vorausgegangen war im Januar 1979 die Wiederaufführung an der Frankfurter Oper unter Michael Gielen unter der Regie von Hans Neuenfels. In dieser Produktion wurde Schrekers selbst erfundene Geschichte vom hässlichen Alviano Salvago im Genua des 16. Jahrhunderts zu einem leicht futuristischen Trivialmythos vom Monster Alviano im menschenleeren Frankfurt und der schönen Malerin Carlotta transformiert. Die eindringlich bebilderte Sex-and-Crime-Handlung, ungekürzt, aber mit einigen textlichen Retuschen (beispielsweise statt Herzog Adorno der „Duce Adorno“), wurde zu einem Publikumsrenner.
Dem war 1987 in Düsseldorf Günter Krämers Inszenierung gefolgt. Das politische Zerrbild mit Alviano als Juden, seinem Gegenspieler Tamare als SS-Mann und der Malerin Carlotta als Vertreterin der „entarteten Kunst“, war stark gekürzt und die Partitur obendrein von Dirigent Hans Wallat klanglich ausgedünnt worden. Die Schweizer Erstaufführung der „Gezeichneten“ an der Züricher Oper im Dezember 1992 – eine belanglos-langweilige Inszenierung von Jonathan Miller, dirigiert von Eliahu Inbal, erbrachte nolens volens den Beweis, dass Schrekers Topoi mit Opernkonvention heute nicht mehr beizukommen ist. Schlüssig weiterentwickelt wurde die Sicht auf die morbide Opernhandlung im Januar 2002 in Stuttgart durch den in Salzburg als Schauspielchef amtierenden Martin Kusej und – wie schon bei der Frankfurter Wiederaufführung – mit Klaus Zehelein als Produktionsdramaturg, wobei auch die einzige ungekürzte Einspielung der Oper auf CD realisiert wurde. An Hans Neuenfels’ Frankfurter Inszenierung gemahnten in Stuttgart die raschen Bildschnitte, die pausenlose Abfolge des ersten und zweiten Aktes und die inszenierten Vor- und Zwischenspiele der erstmals seit den Frankfurter Aufführungen wieder ungekürzten Partitur in der hochkarätigen Interpretation durch Lothar Zagrosek. Rückbezug auf die Frankfurter Aufführung boten auch optische Details, wie die bühnenfüllende Spiegelwand, handlungskonstruktive Momente, wie die Verzahnung von Anfang und Ende, oder die Koppelung von legislativer und exekutiver Macht.
Alviano als Transvestit
Festspielintendant Peter Ruzicka hat sein Programm der allzu späten Wiedergutmachung verfemter Komponisten bei den Salzburger Festspielen in den Vorjahren mit Opern von Alexander Zemlinsky, Erich Wolfgang Korngold und Egon Wellesz bewundernswert konsequent durchgeführt. Vor dem Zyklus sämtlicher Bühnenwerke Mozarts, der im nächsten Festspielsommer auf dem Programm stehen wird, hat er die diesjährigen Festspiele musikalisch mit Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ eröffnet und damit – nach Ablauf der Schutz- und Tantiemenfrist für Franz Schrekers Œuvre, 70 Jahre nach dem Tod des Komponisten – einen programmatischen Höhe- und zugleich Schlusspunkt der Wiederbeschäftigung mit den seit dem Dritten Reich verdrängten Komponisten gesetzt. Der vom Kritiker Paul Bekker als „einziger Nachfolger Richard Wagners“ apostrophierte Musikdramatiker wurde von den Nazis als „Halbjude“ gebrandmarkt; seiner Ämter enthoben starb er 1934 in Berlin.
Da eine Oper über diverse Spielformen von Sexualität und Perversion heute keinen Tabu-Bruch mehr darstellt, trachtete Regisseur Nikolaus Lehnhoff, „einschlägige Zeichen und Haltungen von Grenz-Überschreitungen in moralisch-ethischer Hinsicht in unserer heutigen Gesellschaft aufzuspüren“ und deutete den im Renaissance-Drama als Außenseiter gezeichneten Krüppel Alviano als Transvestiten. Zu Beginn des Vorspiels lässt Alviano seinen Mantel fallen, outet sich im rosa Kleid und schminkt sich künstliche Schönheit. Diese Sichtweise – ohne Fratze und Buckel – scheint aufzugehen, denn Carlottas Angst vor sexuellem Vollzug und Alvianos Verzicht auf körperliche Vereinigung mit ihr lässt sich durchaus als platonische Freundschaft zweier Außenseiter deuten, auch dass Carlotta gleichwohl dem Machtmenschen Tamare verfällt, bleibt glaubhaft. Kaum vorstellbar ist jedoch, dass Alviano sich beim Verkehr mit hässlichen Prostituierten zu befriedigen sucht, wie er es zumindest erzählt.
Auf der Bühne der Salzburger Felsenreitschule liegt eine gestürzte, zerbrochene Frauenstatue, deren Kopf und Torso bestiegen werden und deren Körperinneres gegen Ende des dritten Aktes als Lustgrotte bespielt wird. Die Skulptur des Bühnenbildners Raimund Bauer mag als Topos für das Eiland Elysium des dritten Aktes angehen, zu diesem Zeitpunkt aber hat sich der Effekt der Bühnenlandschaft bereits verbraucht. In der großen Atelierszene malt Carlotta den Gezeichneten nicht, sondern entkleidet ihn langsam seiner weiblichen Utensilien; die erhobene Rechte des Frauenstandbilds wird als eine von der Künstlerin geschaffene Skulptur gedeutet. Anne Schwanewilms singt die ihrer Malerattitüde enthobene Carlotta mit vielen Farbschattierungen berückend schön, gestaltet diese Schreker-Partie aber nicht so exzentrisch, wie die der Grete im „Fernen Klang“ an der Berliner Staatsoper. Leider hat der Regisseur „Die Gezeichneten“ radikal gekürzt und die Oper durch die Eliminierung der für Schreker so typischen Genre- und Volksszenen einer ganzen Dimension beraubt. Die Handwerker, aber auch die in der Opernhandlung durchgeführten Figuren der Haushälterin Martuzzia und des Bravo Pietro entfallen ganz, ebenso die Intrige rund um den Raub der Ginevra. Lehnhoff streicht auch die Episode des im dritten Akt entführten und ermordeten Kindes, mag aber auf die Ebene der Päderastie nicht verzichten und lässt daher die wenigen Sätze der als Zeugin berufenen Ginevra Scotti von einem Kind (Gabriela Palfinger von den Salzburger Chormädchen) singen. Außer ganzen Szenen fallen immer wieder auch einzelne Takte dem Strich zum Opfer, wenn deren Aussage (etwa das Malen Carlottas) nicht ins Konzept zu passen scheint. Den Außenseiter Alviano, der seinen Nebenbuhler Tamare hier mit einem Pistolenschuss erlegt, bevor er irre wird, gestaltet Robert Brubaker glaubhaft, mit vokaler Bandbreite. Wolfgang Volle ist ein auch stimmlich kraftvoller Tamare mit warmem Timbre.
Enttäuschend hingegen der als Wotan gefeierte Heldenbariton Robert Hale in der Partie des Potentaten und Drahtziehers Herzog Adorno: All zu frei geht Hale mit vorgeschriebenen Tönen und Rhythmus um, offenbar beherrscht er die Partie nicht. Eine runde Leistung erbringt – wie schon in Stuttgart – Wolfgang Schöne, der den Bürgermeister Lodovico Nardi souverän verkörpert. Die von Rupert Huber einstudierte Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor tritt musikalisch kaum in Erscheinung, szenisch ersetzt durch eine große Schar halbnackter Jugendlicher, die sich in zumeist gleichgeschlechtlichen Reigen ergehen. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielt Schrekers bitonale Partitur auf hohem Niveau, wobei Kent Nagano es bewunderungswürdig schafft, das musikalische Stückwerk doch zu einem Ganzen zu fügen. Dabei lässt er sich für das Auskosten von Schrekers irisierend sinnlichen Klängen so viel Zeit, dass die erheblich gekürzte Aufführung jene Dauer erreicht, die Michael Gielen oder Lothar Zagrosek für die komplette Partitur benötigt haben. Das Premierenpublikum feierte die Salzburger Festspieleröffnung als uneingeschränkten Erfolg. Das Scandalon, das dieser Oper Franz Schrekers immanent anhaftet, stellte sich diesmal nicht ein.
Opern en miniature
Wie im Vorjahr bei den Salzburger Festspielen Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ szenisch zur Aufführung gekommen war und in den Konzerten der Festspiele das sinfonische Œuvre dieses Komponisten den roten Faden bildete, so standen in diesem Festspielsommer auch die wichtigsten sinfonischen Kompositionen Franz Schrekers auf dem Programm. Außerdem gab es eine theatral aufbereitete, umfassende Ausstellung zu Leben und Werk Franz Schrekers in dem als „Haus für Mozart“ im Umbau befindlichen Kleinen Festspielhaus zu sehen, die Schreker-Biograph Christopher Hailey für das Jüdische Museum in Wien geschaffen hat. Hailey hat jetzt auch erstmals Franz Schrekers Lieder in ihrer Gesamtheit ediert (Universal Edition, UE 32955, 79 S., e 46,75). In seinem eigenen Projekt „Verfolgte Komponisten – verfolgte Musik“ brachte Thomas Hampson, auch als Giorgio Germont in „La Traviata“ gefeiert, gemeinsam mit der Sopranistin Melanie Diener, dem Mezzosopran Michelle Breedt und dem Tenor Piotr Beczala, Lieder Franz Schrekers zum Vortrag, die sich dabei in ihrer irrlichternd dramatischen Tonsprache geradezu als Opern en miniature erwiesen.
Schreker sinfonisch
Auch die weiteren Werke des Konzertprogramms zeigten Schreker als Musikdramatiker, der auch in rein musikalischen Formen einer stets eigenen, eigenartigen „musikdramatischen Idee“ folgte. So ließ er im Jahre 1916 sein als Libretto veröffentlichtes, aber unkomponiert gebliebenes Zeitstück aus dem Ersten Weltkrieg, „Die tönenden Sphären“, zu einer Kammersinfonie für 23 Soloinstrumente gerinnen, die unter der musikalischen Leitung des Violoncellisten Heinrich Schiff durch die Camerata Salzburg aufblühte wie die „Sumpfblüten des Lasters“ in Schrekers „Die Gezeichneten“. Die Camerata Salzburg erwies sich hier und auch unter Roger Norrington als ein äußerst homogener Klangkörper, der kleinste Impulse aufzunehmen und umzusetzen im Stande ist. Dies verführte den Dirigenten Roger Norrington dazu, dem Orchester bei den sinfonischen Sätzen von Schumanns Opus 54 den Rücken zu kehren und dem Publikum seine Impression dieser dreisätzigen Komposition schunkelnd vorzutanzen. Bei Schrekers „Kleiner Suite für Kammerorchester“ aus dem Jahre 1928 hingegen musste sich der Dirigent dann doch seiner Camerata zuwenden und Einsätze geben. Aber am Ende dieser diffizilen Komposition obsiegte dann erneut der Musikclown in Norrington, der mit dem Abschlag das Publikum mit ausgebreiteten Armen zu fragen schien: „Gefällt euch das wirklich?“ Ja, die „Kleine Suite für Kammerorchester“ gefiel, das wurde am heftigen Beifall der Besucher merklich, die offenbar beim Klangrausch der „Gezeichneten“ Blut geleckt hatten und hier mit einem späten, formal vertrackten, klanglich herben, gleichwohl idiomatisch erkennbaren Werk Schrekers konfrontiert wurden. Allerdings ging Norrington bei der formalen Vielfalt dieser Partitur allzu grobschlächtig zu Werke. Plastischer und grotesker erklingt diese fünfsätzige Suite etwa in Schrekers eigener Interpretation aus dem Jahre 1932 (jüngst wiederveröffentlicht auf der britischen CD Symposion 1271/1272/1273). Die Camerata Salzburg unter Leonidas Kavakos machte sich auch zum Anwalt für Franz Schrekers Pantomime „Der Geburtstag der Infantin“. Die Urfassung der später für ein extrem großes Orchester gesetzten Komposition nach Oscar Wildes gleichnamigem Märchen war in Salzburg in jener Kammerorchester-Fassung zu erleben, die 1908 im Garten der Wiener Sezession uraufgeführt worden war. Diese Partitur hatte Schrekers Ruhm als Bühnenkomponist begründet, sie ließ Peter Altenberg schwärmen und bewegte Alexander Zemlinsky zu seinem Auftrag an Schreker, ihm das Libretto für eine „Tragödie des hässlichen Mannes“ zu liefern, wodurch Schreker das Drama „Die Gezeichneten“ dichtete, das er dann selbst komponierte. Im Schlussabschnitt der Pantomime entdeckt der Zwerg im Spiegel seine Hässlichkeit und bringt sich um. Hier schon trifft der Hörer auf den Inbegriff der Semantik von Schrekers Tonsprache, den Konflikt zwischen Kunst und Natur.
Den Bogen vom Frühwerk zur mittleren Schaffensperiode spannte das Radio-Symphonieorchester Wien unter Bertrand de Billy mit dem kompletten „Nachtstück“, das verkürzt als Zwischenspiel in den dritten Akt des „Fernen Klang“ aufgenommen wurde, sowie den Liedern „Vom ewigen Leben“ auf zwei Gedichte von Walt Whitman. In die Dekoration der „Gezeichneten“ platziert war auch Franz Schrekers letzte Komposition, das „Vorspiel zu einer großen Oper“. So wie Schrekers „Vorspiel zu einem Drama“ (es stand – als Vorgriff auf die Festspiele dieses Sommers – schon im letzten Jahr auf dem Programm der Festspiele) den Gesamtverlauf der Oper „Die Gezeichneten“ sinfonisch umreißt, so zeichnet diese Komposition die Handlung der unvollendeten Oper „Memnon“ vor. Nachdem Schreker den Einflüssen anderer kompositorischer Richtungen, wie der Neuen Sachlichkeit, Folge geleistet hatte, setzte er mit seinem Spätwerk wieder auf den ihm eigenen, typischen Klangrausch.
Der auf große Kontrastwirkungen bauende und dabei faszinierend dichte Pianopianissimi entfesselnde italienische Newcomer Daniele Gatti kombinierte Schrekers Vorspiel mit Beethovens „Ah! Perfido“ und Mahlers Vierter, die er ebenfalls als theatrale Kompositionen deutete. Insbesondere aber Schrekers Partitur wurde in Gattis Interpretation durch Betonung diverser Fern- und Bühnenwirkungen zur Vision einer Oper. So ertönte bereits der eröffnende Hornruf des Memnon aus den Arkaden der Felsenreitschule als bühnenmusikalischer Impetus, getreu einem Wort dieser Oper, „Ich höre – Bilder – /mir klingen – Farben –“.