Banner Full-Size

Ein Who is Who der letzten hundert Jahre Musikgeschichte

Untertitel
Die Universal Edition blickt auf ihr erstes Jahrhundert zurück · Von Christoph Schlüren
Publikationsdatum
Body

Als Nicolas Slonimsky, der bedeutendste Musikenzyklopädist des 20. Jahrhunderts und einst eminente Promoter der amerikanischen Avantgarde, 1994 seinen 100. Geburtstag beging, veröffentlichte Richard Kostelanetz eine Sammlung ausgewählter Schriften unter dem witzigen Titel ‘The First Hundred Years’. Die menschliche Lebenserwartung ist bekanntlich begrenzt, im Jahr darauf starb Slonimsky. Bei Verlagshäusern kann man eventuell in großzügigeren Zeiträumen rechnen. Als Wiens führender Musikverlag, die Universal Edition, 75 Jahre alt wurde, bilanzierte der längstgediente Vorstand Alfred Schlee im Vorwort zur Dokumentationsschrift:

Als Nicolas Slonimsky, der bedeutendste Musikenzyklopädist des 20. Jahrhunderts und einst eminente Promoter der amerikanischen Avantgarde, 1994 seinen 100. Geburtstag beging, veröffentlichte Richard Kostelanetz eine Sammlung ausgewählter Schriften unter dem witzigen Titel ‘The First Hundred Years’. Die menschliche Lebenserwartung ist bekanntlich begrenzt, im Jahr darauf starb Slonimsky. Bei Verlagshäusern kann man eventuell in großzügigeren Zeiträumen rechnen. Als Wiens führender Musikverlag, die Universal Edition, 75 Jahre alt wurde, bilanzierte der längstgediente Vorstand Alfred Schlee im Vorwort zur Dokumentationsschrift:Fünfundsiebzig Jahre sind kein nennenswertes Alter für einen Verlag. Wir glauben daher, vernünftig gehandelt zu haben, wenn wir das Jubiläum nicht feiern wollen, zumal diejenigen, die mit Recht gefeiert werden könnten, nicht mehr bei uns sind und über das, was ihre Nachfolger begonnen haben, erst am hundertsten Geburtstag das Urteil gesprochen werden kann.“ Nun hat man also die ersten hundert Jahre hinter sich, eine wie schon immer sehr ungewisse Zukunft vor sich, und das Urteil über die „Nachfolger“ bildet sich allmählich. Begonnen hatte es 1901 mit der großangekündigten Gründung einer Aktiengesellschaft als österreichisches Konkurrenzunternehmen gegen die führenden deutschen Verlage zur Herausgabe fundierter Klassikerausgaben, in welchem sich auf Initiative des Bankiers und Johann Strauß-Schwagers Josef Simon Vertreter der führenden Wiener Musikverlage Doblinger, Robitschek und Weinberger zusammenschlossen.

Bald wurden die Rechte von wichtigen Werken Anton Bruckners, Richard Strauss’ und Max Regers von anderen Verlagen erworben, und nach 4 Jahren umfasste der Katalog bereits 1400 Nummern. Historische Bedeutung erlangte man durch das Eintreten Emil Hertzkas, der 1907 Direktor wurde und bis 1932 die Geschicke lenkte. Hertzka bewies eine unglaubliche Nase für das kurz- wie langfristig Wegweisende, Eigentümliche, zeitlos Beständige, das er in unerhörter Vielfalt zu entdecken und an sein Haus zu binden verstand. Dabei darf nicht übersehen werden, dass bei aller avantgardistischen Euphorie das Hauptgeschäft zu jeder Zeit mit konventionellen Artikeln, also Klassikern, Unterrichtsliteratur oder Unterhaltungsmusik (mit dem sogenannten „Papiergeschäft“) gemacht wurde. Umso mehr erstaunt, in welchem Umfang hochwertigste neue Musik herausgebracht wurde, auf der der Ruhm der Universal Edition geradezu als Inbegriff der Verbreitung der neuen Musik gründet. Natürlich war man auch zur rechten Zeit am rechten Ort, spielte sich doch bis Mitte der dreißiger Jahre in Wien Maßgebliches für den Werdegang der Musikgeschichte ab. Der erste große Vertragsabschluß gelang Hertzka 1908 mit Gustav Mahlers ‘Symphonie der Tausend’, der das ‘Lied von der Erde’ und die Neunte Symphonie folgten. (Neuerdings hat man mit Rudolf Barschais Aufführungsversion der Skizzen zu Mahlers Zehnter den als Ganzes wohl fesselndsten Rekonstruktionsversuch dieses unvollendeten Vermächtnisses übernommen. Diese Partitur wird, baldmöglichst ergänzt durch eine ausführliche und übersichtliche Darstellung sämtlicher Skizzen, demnächst veröffentlicht und bildet einen Schwerpunkt derzeitiger Promotionaktivität.)

Dann kam Hertzka 1910 mit Arnold Schönberg und Franz Schreker überein, denen bis 1931 u. a. Alfredo Casella, Alexander von Zemlinsky, Karol Szymanowski, Joseph Marx, Franz Schmidt, Frederick Delius, Emil Nikolaus von Reznicek, Leos Janácek, Egon Wellesz, Béla Bartók, Walter Braunfels, Alois Hába, Wilhelm Grosz, Felix Petyrek, Zoltán Kodály, Heinrich Kaminski, Ernst Krenek, Ottorino Respighi, Darius Milhaud, Anton Webern, Alban Berg, Gian Francesco Malipiero, Hanns Eisler, Nikolai Mjaskowsky, Kurt Weill, Josef Matthias Hauer, Arthur Honegger, George Antheil, Kurt Atterberg (nach dem triumphalen Erfolg seiner Sechsten, der sogenannten ‘Dollar Symphony’), Erik Satie, Hanns Jelinek oder László Lajtha folgten. Viele dieser großen Namen sind unvermeidlicherweise nur mit wenigen Werken vertreten, was im nachhinein bedauerlich stimmt, weil sich jeder Verlag natürlich auf seine „Hauptkomponisten“, im Falle der U. E. also zweifellos Mahler, Janácek, die ‘Wiener Schule’, Bartók, Schreker, Szymanowski, Zemlinsky usw., konzentrieren muss.

So fristen die schönen Violinkonzerte von Respighi und Casella bis heute ein Schattendasein, die hochinteressant am Scheideweg Bruckner-Schönberg angesiedelte Zweite Symphonie Eduard Erdmanns fand nie die verdiente Beachtung. Dagegen sieht es zuletzt wieder besser aus für den Berliner Expressionisten Heinz Tiessen (1887-1971), von dessen Werken sich nur eines im U.E.-Katalog findet, dafür gleich das womöglich bedeutendste: das Streichquintett, auch als ‘Musik für Streichorchester’ bearbeitet, welches in beiden Fassungen auf dem Celibidache-Festival 2002 in München durch die vorzügliche Accademia Musicale di San Giorgio aus Venedig unter Rony Rogoff aufgeführt werden wird und auch zur CD-Veröffentlichung vorgesehen ist. So wird ein Schlüsselwerk des Repertoires wieder zugänglich gemacht, das bis dahin siebzig Jahre als Archivleiche schlummerte. Und im U.E.-Archiv sind noch viele Entdeckungen zu machen, ob es sich nun um Werke bekannter Autoren wie Schreker, Casella, Wellesz, Kaminski, Skalkottas oder Badings handelt oder um in den Zeitläuften ganz Verschüttetes von Braunfels, Weigl, von Borck, Theodor Berger oder eben Erdmann und Tiessen.

Natürlich sind es die großen Opernerfolge durch Schreker, Janácek, Berg, Bartók, Delius, Reznicek, Szymanowski, Krenek oder Weill, die den Verleger besonders glücklich machten und bis heute in wechselnden Anteilen die Kassen klingeln lassen – wobei der „Wettlauf mit der Zeit“ (Vorstand Marion von Hartlieb), also mit der 70-jährigen Schutzfrist nach dem Tod des Autors, längst begonnen hat: Janácek, dessen „Jenufa“ und „Katja Kabanova“ in den letzten Jahren noch in aufwändigsten und überfälligen Neuausgaben hergestellt wurden, ist vor drei Jahren „public domain“ geworden, bei Berg, Schreker, Respighi, Szymanowski und Schmidt laufen die Exklusivrechte in den nächsten Jahren aus. Andererseits wird man auch dann noch an Namen wie Schönberg, Bartók, Webern, Weill, Eisler oder dem langlebigen Krenek (der allerdings weniger „abwirft“), auf geraume Zeit zu nagen haben.

Und man hat nicht geschlafen seit den Jahren des Aufbruchs, denen mit Weltwirtschaftskrise, Hertzkas Ableben (1932), Zwangsarisierung und Krieg harte Zeiten folgten. Hertzka fand mit Hans Heinsheimer und Alfred A. Kalmus (1889–1972), dem Vater der Philharmonia-Taschenpartituren, fähige Fortsetzer seines Kurses. 1936 ging Kalmus aufgrund der trüben gesellschaftlich-politischen Aussichten nach London, wo er die dortige Universal Edition gründete, die später mit Komponisten wie Harrison Birtwistle, Michael Finnissy, Simon Holt oder David Sawyer zu einer ernst zu nehmenden Kraft im Königreich heranreifte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Alfred Schlee, der zum Hauptansprechpartner der Komponisten wurde und für den erneuten Auftrieb vor allem verantwortlich zeichnete. Seit 1940 waren unter anderem Frank Martin, Theodor Berger und Gottfried von Einem als neue Komponisten verlegt worden, und nun kamen bis 1962 neben vielen anderen Luigi Dallapiccola, Olivier Messiaen, Nikos Skalkottas, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Mauricio Kagel, Sylvano Bussotti, Harrison Birtwistle, György Ligeti und Friedrich Cerha hinzu – fast ein Who’s Who der jüngeren Musikgeschichte, und einige von ihnen, darunter Boulez und Berio, wird man für immer mit der Universal Edition assoziieren.

Oder Arvo Pärt, den man 1968 erstmals unter Vertrag nahm und der mit seiner Emigration in den Westen zu einem zentralen Hauskomponisten geworden ist — nicht zuletzt auch einer, der weltweit gefragt ist und von Musikern aller Couleur und Klasse aufgeführt wird. Ein weiterer auf ähnliche Breitenwirkung berechneter Hoffnungsträger ist der Argentinier Osvaldo Golijov, seit 1999 bei der U.E. Dabei hat man im avantgardistischeren Feld nicht geschlafen und verlegte fleißig Feldman, Amy, Denisov, Schnittke oder Kurtág. Mit dem jungen Wolfgang Rihm tat man 1975 erste Schritte in bis heute nicht abreißendes Neuland, und fraglos ist der äußerst produktive Rihm als führender deutscher Komponist mit Exklusivbindung heute der Hauptvertreter der Universal Edition in der Szene der Neuen Musik. Die U. E. ist, so Marion von Hartlieb, „in der zu achtzig Prozent von den ,Majors’ beherrschten Szene ein kleines Unternehmen, aber eigenständig. Und so wollen wir bleiben.“ Zu den jungen Tonsetzern, die man in den letzten zehn Jahren aufgenommen hat, gehören die Österreicher Georg Friedrich Haas und Johannes Maria Staud, Golijov und Sotelo, Georges Lentz und der Litauer Vykintas Baltakas: „Für neue Komponisten entscheiden wir uns heute im Team nach eingehenden Beobachtungsphasen. Dieses Team aus vier bis fünf Leuten wechselt von Fall zu Fall, die Promotion-Abteilung ist immer dabei. In der Regel tun wir für die Jüngsten am meisten, die müssen ja erst bekannt werden.“ Zum Jubiläum hat man sich eine höchst erfreuliche Dokumentation großer Verlagsgeschichte geleistet: Die legendären „Musikblätter des Anbruch“, die von 1919 bis 1937 erschienene Monatsschrift für Moderne Musik, sind als CD-ROM wieder zugänglich für all jene, die aus authentischer Quelle schöpfen wollen – bis zum 31. Dezember zum Vorzugspreis von 39 Euro zu bestellen unter anbruchorder [at] universaledition.com (anbruchorder[at]universaledition[dot]com). Promotionschwerpunkte in absehbarer Zeit sind weitere kritische Janácek-Ausgaben („Sárka“, vervollständigter 1. Akt der „Ausflüge des Herrn Broucek“, Urfassung der „Glagolitischen Messe“), die ins Stocken geratene Alban-Berg-Gesamtausgabe, kritische Mahler-Ausgaben, eine Neuausgabe von Bartóks „Wunderbarem Mandarin“ mit 48 zusätzlichen Takten oder Alte-Musik-Veröffentlichungen wie das Requiem von Lotti.

Und natürlich die von Eric Marinitsch bereits ins Visier genommene nächste CD-ROM: „Pult und Taktstock“, die von 1924 bis 1931 erschienene Fachzeitschrift für Dirigenten, nach der man auch über Jahrzehnte hinweg vergeblich in Antiquariaten fahnden dürfte. Ob zurück oder nach vorne, ob Überraschung oder verbürgter Wert, die Universal Edition bleibt eine erste Adresse.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!