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Eine Frage von Leben und Tod

Untertitel
Jonathan Carr sucht in seiner neuen Biographie den wahren Mahler
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Jonathan Carr: Gustav Mahler. Biographie. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. München 1997. List Verlag. 352 Seiten. 44 Mark.„The Real Mahler“: Laut Originaltitel will Jonathan Carr den wahren, den wirklichen Gustav Mahler entdecken. War er „Teufel oder Heiliger, gerissen oder naiv, extrovertiert oder in sich gekehrt“? Antwort: „all das zusammen und noch manches andere dazu“. Gemessen an diesem Ergebnis verspricht der Titel mehr, als er halten kann. Mahlers Widersprüche, die ihn als Künstler geradezu auszeichnen, kannten auch frühere Autoren schon. Weshalb lohnt sich die Lektüre der mehr als 300 Textseiten dennoch? Weil ihr Verfasser bekannte Lebensstationen trotz anekdotisch wirkender Details relativiert und Fragezeichen nicht nur hinter Almas Auskünfte setzt. Daß sie ihrem späteren Gatten schon früher als gemeinhin angenommen begegnete, ihn sogar um ein Autogramm anging, gehört zu den hübschen Marginalien dieser neuen Biographie. Verbunden in einer Vernunftehe, waren Mutter und Vater Mahler sehr gegensätzliche Charaktere. Daß Gustav aber unter seinem Erzeuger die „schiere Hölle“ habe erdulden müssen, hält Carr für keineswegs plausibel. Genauso rät er zur Vorsicht in bezug auf Sigmund Freuds berühmt-berüchtigte „Kurzanalyse“ 1910 in Leiden, die Mahler eine zu starke Mutterbindung unterjubeln wollte. Nüchterner beurteilt er auch des Komponisten Reaktion auf die Diagnose eines angeborenen Herzklappenfehlers. Mahler habe von da an nicht mehr als vorher dem Tod ins Auge geschaut. Weil ihm das Komponieren immer „eine Frage von Leben und Tod“ war, unterscheiden sich die späten Werke nicht von den früheren. Intellektuelle Skepsis, abrupte Stimmungswechsel, „Feuer und Wasser“ kennzeichnen Mahlers Musik von jeher, und die „oft qualvolle Suche nach dem Sinn des Lebens“ ist ihr in die tiefste Seele geschrieben. Wie so viele vor ihm kommt Carr mit der 8. Sinfonie nicht zurecht. Dafür entmystifiziert er die gern kolportierte Rede von Mahlers Aberglauben, der Schicksalsschläge etwa in der Sechsten antizipiert sah. Der Biograph bindet die „Tragische“ stärker in das Gesamtwerk ein und glaubt auch nicht recht daran, daß Mahler mit dem „Lied von der Erde“ dem Schicksal ernsthaft ein Schnippchen habe schlagen wollen. Die okkulte Nummer 9, über die weder Bruckner noch Beethoven und Schubert hinausgekommen seien, sparte Mahler ja keineswegs aus. Und das nach der Achten komponierte „Lied von der Erde“ versteht Carr schlüssig als Fortführung der „Liedzyklen“, wobei die sinfonischen Elemente dem Werk einen „Sonderplatz“ einräumen. Was dem leidenschaftlichen Wanderer und Schwimmer Mahler in dieser Zeit Kummer bereitete, war nicht die Angst, früh zu sterben. Ihm fehlte schlicht sportliche Bewegung, die ihm die Ärzte untersagten. Zudem berichtet Carr, daß die Zeit in Amerika kein Abstieg war, sondern „erfolgreicher, als oft behauptet wird“. So nimmt er den Jahren nach Wien das Stigma eines gebrochenen Lebens. Wien: Zuerst wollte Mahler unbedingt hin, dann wollte er unbedingt weg. Paßt das zu Carrs These, daß der ehrgeizige Künstler ein „geborener Karrierist“ gewesen sei, der alle Welt für sich einspannte, nur um den Direktorenposten an der Wiener Hofoper zu ergattern? Den opportunen Übertritt vom Judentum zum Katholizismus setzt Carr selbst offenbar nicht allzu hoch an. Denn Mahlers Eklektizismus, sein religiöses Ringen, ließ die Konversion formal ohne weiteres zu. Suchte Mahler, der zuallererst als Komponist gelten wollte, nicht eher eine seinem Werk förderliche Weltgeltung sowie eine finanzielle Basis? Beides glückte, so daß ihn – wie Carr ja selbst nahelegt – nach zehnjähriger Schinderei in Wien nichts mehr hielt und sogar der lukrativere Direktorenposten in New York nicht lockte. Mag auch die Trauer über den Tod der Tochter Maria vieles relativiert haben, Mahlers Selbstdisziplin blieb ungebrochen. Was das Werk interessant macht, sind die umgesetzten Wegmarken.

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