„Um die Schulden meiner Frau ganz zu begleichen, machte ich mich erneut an die schwierige Aufgabe einer Benefizveranstaltung und es gelang mir nach großen Anstrengungen, im Theâtre Italien eine Schauspielaufführung, gefolgt von einem Konzert, zu organisieren (…). Das Programm der Soirée setzte sich zusammen aus Dumas‘ ,Antony‘, gespielt von Firmin und Mme Dorval, dem 4. Akt aus Shakespeares ,Hamlet‘ mit Harriet und einigen englischen Amateuren, die wir noch aufgetan hatten, sowie aus einem von mir dirigierten Konzert, das die ,Symphonie fantastique‘, die Ouvertüre zu den ,Francs-Juges‘, meine ,Sardanapale‘-Kantate, Webers Konzertstück (gespielt von jenem ausgezeichneten und bewundernswerten Liszt) und einen Chorsatz von Weber umfassen sollte.“
Was im 45. Kapitel von Hector Berlioz‘ Memoiren folgt, ist die für dieses literarische Meisterwerk typische, genüssliche Autopsie eines Desasters. Denn zu nichts Geringerem wuchs sich das aus, was dem Komponisten und Konzertveranstalter am Abend des 24. November 1833 widerfuhr: In der Hamlet-Szene, die sie in Paris berühmt und für Berlioz begehrenswert gemacht hatte, konnte die englische Schauspieldiva Harriet Smithson nicht an ihre einstigen Triumphe anknüpfen; und das Konzert scheiterte daran, dass Berlioz, der Utopist, das durchschnittliche Arbeitsethos eines Pariser Musikers gründlich fehleinschätzte, wie er im Rückblick eingesteht:
„Da ich mit den Gebräuchen der Theatermusiker wenig vertraut war, hatte ich mit dem Direktor der Italienischen Oper einen Handel vereinbart, demzufolge er mir seinen Saal und sein Orchester zur Verfügung stellte, das ich durch eine kleine Zahl von Künstlern aus der Opéra ergänzen wollte. Das war die gefährlichste aller Kombinationen: Die Musiker (...) betrachten diese außerplanmäßigen Abende als Frondienste und sind nur mit Verdruss und Widerwillen bei der Sache. Wenn man ihnen dann auch noch Instrumentalisten beigesellt, die bezahlt werden, während sie umsonst spielen, verschlechtert sich ihre Laune noch und der Konzertgeber bekommt es schnell zu spüren.“
In der Tat: Das nach der Schauspieldarbietung spät begonnene Konzert verlief zunächst durchwachsen und eskalierte, als die Instrumentalisten – auf ihr Recht pochend, vor Mitternacht ihren Dienst beenden zu können – ihre Arbeitsplätze verließen: „Nur die fremden, von mir bezahlten Musiker waren geblieben, und als ich mich umwandte, um die Symphonie zu dirigieren, sah ich mich von fünf Violinen, zwei Bratschen, vier Kontrabässen und einer Posaune umgeben.“ Ein anwesender Geiger erinnerte sich später, die während des Weber-Chores getürmten Kollegen hätten den Ausgang von einer Harfenistin samt Instrument blockiert vorgefunden. Allgemeiner Tumult auf und hinter der Bühne, Berlioz fleht um Gnade, vertröstet den wohlwollend ausharrenden und nach der „Marche au supplice“ verlangenden Teil des Publikums auf eine spätere Aufführung der „Fantastique“ im Conservatoire: Ein wahrlich bühnenreifes Spektakel muss sich da abgespielt haben, Berlioz-typische Raumeffekte („derrière la scène“) inbegriffen.
Zwischen den Stühlen
Man müsste Klavier spielen können: Wäre Berlioz, der es zu gewisser Meisterschaft an der Flöte und der Gitarre gebracht hatte, ein virtuoser Pianist gewesen, hätte er diesen Abend vielleicht gerettet. Hätte den Übriggebliebenen eine dürftige Begleitung aufs Pult gelegt, um sie mit dem brillanten Solopart eines kleinen Konzertstücks an die Wand zu spielen; hätte eine Klaviertranskription seiner Symphonie zum Besten gegeben (Liszt hatte die seine zu diesem Zeitpunkt schon in der Schublade); oder hätte die schönsten Melodien daraus nach allen Regeln pianistischer Pyrotechnik zu einer frei extemporierten Fantasie verwoben.
Nichts von alledem. Berlioz saß eben nicht auf der gut gepolsterten Klavierbank, sondern zwischen allen Stühlen. Als Komponist hatte er sich mit dem im vierten Anlauf errungenen Rompreis zwar endlich in eine aussichtsreiche Position gebracht; die in Paris entscheidende Anerkennung, ein Kompositionsauftrag für die Oper, ließ indes auf sich warten. Nicht ohne Grund setzte er immer wieder die Ouvertüre zu jener unvollendet gebliebenen Oper „Les Francs-Juges“ aufs Programm, deren Libretto von der Opéra abgelehnt worden war. Als Dirigent genoss er noch längst nicht die Anerkennung, die ihm später vor allem auf Tourneen in Deutschland zuteil werden sollte. Und als Konzertveranstalter war er erst auf dem Weg zu jenem „Monstre-Konzert“, für das er – auch hier ein Visionär im Räumlichen – 1844 die Maschinenhalle der Industrieausstellung umfunktionieren sollte.
Zwischen den Gattungen
Umfunktionieren. Ein Stichwort, das auch auf des Komponisten Umgang mit den musikalischen Gattungen anzuwenden wäre. Die Zielrichtung dieses Prozesses: das Prinzip des Dramatischen. Ihm haben sich praktisch alle von Berlioz aufgegriffenen Genres unterzuordnen, oft ungeachtet ihrer Herkunft und Tradition, vor allem aber ungeachtet ihres überlieferten Platzes im Konzertleben. Mit der „Symphonie fantastique“ – das Schlüsselerlebnis Beethoven ins quasi Szenische weiterdenkend – überschreitet er mit einem vorab lancierten, ausführlichen Programm die zeitlichen, mit Orchesterstimmen „aus dem Off“ die räumlichen Grenzen der Konzertveranstaltung. In „Harold en Italie“ – den Kompositionsauftrag Paganinis für ein Bratschenkonzert gezielt unterwandernd – deutet er die Funktion des Konzertvirtuosen zum passiv unspektakulären, für den programmatisch-dramatischen Charakter aber entscheidenden Protagonisten um. „Roméo et Juliette“ konzipiert er als eine „Symphonie dramatique“, in der Kantate, Oper und Symphonie in einer neuen, abendfüllenden Gattung für den Konzertsaal aufgehen sollten. (Bis heute stehen die beiden letztgenannten Werke quer zu den einfallslosen Programmfolgen des Abonnement-Betriebs. Was von Berlioz im Konzertalltag, im deutschen zumal, wirklich angekommen ist, gibt vom wichtigsten französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts nur ein unvollkommenes Bild.)
Einer für Berlioz bedeutsamen Sonderform des Dramatischen, der staatstragenden Monumentalmusik, begegnen wir in den ebenfalls aus tradierten Gattungen (sakralen bzw. symphonischen Ursprungs) umfunktionierten Werken: der „Grande Messe des Morts“, dem „Te Deum“ und der „Grande Symphonie funèbre et triomphale“. Die Übersteigerung des räumlich und akustisch Möglichen verhinderte auch hier eine Integration in das Standardrepertoire.
Berlioz – „Lélio“ – Liszt
Seiner ehrgeizigen, das gesprochene Drama miteinbeziehenden Veranstaltungsform von 1833 am nächsten kommt freilich jenes, schon in der neu kreierten Gattungsbezeichnung „Mélologue“ merkwürdige Werk: „Le retour à la vie“, eine Fortsetzung der „Symphonie fantastique“, die Berlioz später als „Monodrame lyrique“ unter dem Haupttitel „Lélio“ veröffentlichen sollte. Die Monologe eines Schauspielers (des Künstlers Berlioz selbst) stellen den inhaltlichen Zusammenhalt her zwischen Einzelnummern, die in Stil und Genre kaum heterogener sein könnten: Klavierlied, Arie, Chor- und Ensemblenummern sowie als abschließender orchestraler Kulminationspunkt die Fantasie über Shakespeares „Sturm“, in der Berlioz Chorvokalisen und erstmals Klaviere als Orchesterinstrumente einsetzte.
Wie Beethoven, der mit seiner Chorfantasie die Mitwirkenden und Genres seiner legendären „Akademie“ vom 22. Dezember 1808 in einer Komposition aufgehen ließ, so stellt Berlioz in „Le retour à la vie“ Elemente eines für die Zeit typischen, gemischten Konzertprogramms zu einem Werk zusammen. Bei Beethoven steht noch der Virtuose in Personalunion mit dem Komponisten und Dirigenten als derjenige im Mittelpunkt, der die künstlerische Einheit eines Konzertabends realiter herstellen kann. Berlioz aber zieht sich hinter die Maske eines Schauspielers zurück. Noch glaubt er daran, das Werk könne für sich sprechen, der (melo-)dramatische Rahmen stark genug sein, das nur locker verbundene Gefüge zu einem – man kann ruhig sagen: Gesamtkunstwerk zu vereinen.
Franz Liszt, für die „Stellung des Künstlers“ in der Gesellschaft (seine gleichnamige Artikelserie erschien 1835 in der Pariser „Revue et Gazette Musicale“) ebenso sensibel wie für Formprobleme, reagierte noch 1834 auf diese Doppeldeutigkeit von Präsenz und Verschwinden im Kunstwerk und komponierte für Klavier und Orchester eine „Grande Fantaisie Symphonique“ über Themen aus Berlioz‘ Melolog. Der ehrenwerte Versuch, dessen Melodien, vom Virtuosen durch Personalisierung gleichzeitig veredelt und in einer populäreren Form dem Publikum untergejubelt, für den Konzertsaal retten zu wollen, scheiterte: Dem Potpourri begegnet man heute so selten wie dem Original.
Zwischen den Zeiten
Berlioz sollte sicherst etwas später dafür entscheiden, diese zusammenfassende Funktion, die ihm als Nicht-Virtuose verwehrt war, regelmäßig vom Dirigentenpult aus zu übernehmen. Waren dafür maßgeblich die schlechten Erfahrungen mit fremddirigierten Aufführungen ausschlaggebend, so zog Berlioz damit auch die Konsequenzen aus einem Musikgeschäft, in dem Selbstdarstellung, Selbstvermarktung überlebensnotwendig waren. Wie Liszt, der in seinen Maßstab setzenden Soloprogrammen mit bis dahin unbekannten Werken Beethovens oder Schuberts immer wieder seinen „Chro-matischen Galopp“ oder ähnliche Virtuosenpiècen zur Schau stellen musste, so entwickelten sich auch bei Berlioz im Lauf seiner Dirigentenkarriere einige Einzelsätze zu populären Selbstläufern; führten (wie die „Marche au supplice“ aus der „Fantastique“) abseits ihrer dramaturgischen Funktion im Gesamtwerk ein Eigenleben als unvermeidliche Reißer.
1855 sollten sich die Wege des Tasten- und des Pultvirtuosen noch einmal im Zeichen des nunmehr in „Lélio“ umbenannten Schlüsselwerkes kreuzen. Der mittlerweile vor allem als Komponist und Dirigent sich verstehende Weimarer Hofkapellmeister Liszt setzte eine sehr bewusste Zäsur in seiner künstlerischen Laufbahn, indem er bei der Uraufführung seines ersten Klavierkonzerts zum vorerst letzten Mal den Solopart in einem konzertanten Werk übernahm. Berlioz dirigierte und eröffnete damit die zweite ihm gewidmete Konzertserie in Weimar, wo er dann auch die neue Version des „Mélologue“ von 1832 präsentierte: Jene Fassung also, in welcher der Protagonist Lélio am Ende zwar eine Probe der Sturm-Fantasie leitet, das Orchester und der reale Dirigent aber (in der Weimarer Aufführung also Berlioz selbst) unsichtbar hinter einem Vorhang verborgen bleiben. Umdeutungen musikalischer Gattungen also auch hier, nunmehr im Lichte persönlicher, den sich wandelnden Konzertbetrieb reflektierender Entwicklungsstufen.
Berlioz‘ Vita ist voller symbolträchtiger Konzertereignisse dieser Art. Ebenso wie an den Werken könnte man seine künstlerische Biografie an Aufführungen entlang schreiben, so wie Berlioz es in seinen Memoiren phasenweise getan hat: die Schilderungen der Premieren der „Messe solennelle“, der „Fantastique“, des Requiems oder der Aufführungen, denen berühmte Kollegen beiwohnten; die Begegnungen mit Liszt, der Kniefall Paganinis, die Triumphe, die Katastrophen. All dies sind Zeugnisse eines von der Verlebendigung des Musikalisch-Dramatischen in der Konzertsituation Besessenen, eines Komponisten, der Musik schrieb, die sich noch im Scheitern des Vollzugs vermittelt, ihre Würde behält.
Es wäre also nicht unpassend in diesem Jubiläumsjahr nicht nur seines 200. Geburtstags zu gedenken, sondern auch den 170. Jahrestag des eingangs geschilderten Debakels zu feiern. Stellen wir uns also ein Festkonzert mit Kompositionsauftrag vor, den einer wie Mauricio Kagel übernehmen könnte: In Anlehnung an Berlioz‘ Jubelkantate auf Napoleon („Le 5 Mai“) müsste es eine Art szenische Fiasko-Kantate sein – „Le 24 novembre“, eine grandiose Nicht-Aufführung der „Symphonie fantastique“.